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Full text of "Ravensnest, oder, Die Rothhäute : eine Erzählung"

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n 


3. 8. Cooper's 
Amerikaniſche Nomane, 


neu 


aus dem Englifchen übertragen. 


— 


Sechsundzwanzigfler Sand. 


Navenäneft, oder die Notbhänte. 


Mit Stahlſtich. 


Zweite Auflage. 


u — — œE 
Stuttgart. 


Hoffmann'ſche Verlags⸗Buchhandlung. 
| 1853. 


x 


I. 8. Cooper's 


Amerikaniſche Nomane, 


neu 


aus dem Englifchen übertragen. 


— —— — 


Sechsundzwanzigſter Sand. 
Navensneſt, over die Nothhäute. 


Mit Stahlſtich. 


Zweite Auflage. 


üü⏑ 
Stuttgart. 


Doffmann’fhe Verlags⸗Buchhandlung. 
1853. 


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Kavensneft 


oder 


die Rothhäute. 





Eine Erzählung 
von 


Sames Fenimore Gooper. 





Aus dem Englischen 


von 


Dr. Eari Rolb. 





gr jevem Merk fich auf ded Autord Zweck; 
t kann nicht mehr, ald diejer fordert, geben. 


Hope. 
u 


Zweite Auflage. 
——— — — —————— — —— 
Stuttgart. 


Hoffmann'ſche Verlags⸗Buchhandlung. 
1853, 


vorwort. 


Dieſes Buch ſchließt Die Reihe der Littlepages⸗Manuscripte, bie 
der Welt übergeben wurden, weil fie einen treuen Bericht über Die 
Opfer an Zeit, Geld und Mühe enthalten, welche beziehungsmweife 
von den Grundherren und den Pächtern auf einem New-Morker Bes 
fitzthum gebracht worden find. Daran fügt fich eine Schilderung 
der Art, wie die Gebräuche und Anfichten unter ung wechfeln, nebſt 
einer Angabe von einigen der Gründe, welche diefe Veränderungen 
herbeigeführt haben. Der einfichtsvolle Leſer wird wahrjcheinlich im 
Stande fein, in diefen Erzählungen den Verlauf jener Neuerungen 
zu verfolgen, die mit den großen Gefehen der Moral vorgenommen 
wurden und in den Interefien des Tages fo fchroff hervortreten, weil 
fie die einfachften Grundfäge, welche Gott dem Menfchen als Richt⸗ 
ſchnur feines Lebens vorgezeichnet Hat, unter dem merkwürdigen 
Borwande, als beabfichtigten fle eine Begünftigung der Freiheit, zu 
nichte machen. Auf diefer abwärts führenden Bahn zeigt unfer Ges 
mälde einige von den Proben der Gewiflenlofigkeit, mit welcher man 
eine beftimmte Art von Eigenthum behandelt, die vielleicht theilweife 
von dem halb barbarifchen Zuftand einer neuen Anfledelung unzer⸗ 
trennlid if. Wir verfolgen die Abftufungen des Squatters zum 
Landbauer, weldher blos die Aufgabe Eennt, im Vorübergehen eini⸗ 
gen Feldern eine Ernte abzuringen, und endlich zu dem, welcher 
das Geichäft im Großen betreibt, His wir fchließlich bet dem Anti⸗ 
enter anlangen, welcher in diefer Lifte von Freibeutern nicht Die 
niedrigfte Stufe einnimmt. 

Es wäre eitel, in Abrede ziehen zu wollen, daß das Hauytytin- 
zip, weißes dem Anktrentiämus zu Grunde liegt — wern anberd 


SBIVENENEN. 


vI 


hier von einem Prinzip die Rede fein Tann — in der Anmaßung 
befteht, für die Intereffen und Wünfche der Maffen Achtung zu ver- 
langen, felbft wenn darüber die klarſten Rechte Einzelner geopfert 
werden müſſen. Daß dieß Feine Freiheit, fondern eine Tyrannei 
in der allerichlimmften Form ift, muß jeder rechtlich denkende und 
rechtlich fühlende Menſch auf den erften Blick einfehen. Wer in 
der Gefchichte der Vergangenheit bewandert ift und den Einfluß 
der verichiedenen Klaſſen kennt, begreift wohl, daß die gebildeten 
Reichen und Welterfahrenen unmwiderftehlich werden, fobald ſie ihre 
Combinations⸗ und Geldmittel vereinigen, um die politifhe Be- 
fimmung eines Landes zu leiten; fie find in der Lage, diejelben 
Maflen, welche nur fich für die wahren Hüter ihrer Freiheit Halten, 
zu ihren fervilften Werkzeugen zu machen. Die wohlbefannte Want 
von 1840 if ein denkwürdiger Beleg für die Macht einer folchen 
Combination, obſchon fie meift nur für Barteizwede zu Stande kam 
und vielleicht durch Die verzweifelten Entwürfe der Zahlungsunfähie 
gen im Lande unterftügt wurde. Nothwendig mußte ihr die Einig- 
feit unter den Vermöglichen gebrechen, da ihr die Grundlage von 
Prinzipien fehlte, welche ihr eine Weihe geben Eonnten, und man 
fiept in dem ganzen Vorgang wenig mehr, als einen Beweis, wie 
mächtig jelbft in einer fehr zweideutigen Sache Geld und Muße 
einwirken tönnen, wenn fid’3 darum handelt, die Maffen einer 
großen Nation dahin zu bringen, daß fie fich zu Werkzeugen ihrer 
eigenen Unterwerfung hergeben. Kein wohlmeinender amerifanifcher 
Geſetzgeber follte daher die Thatfache aus dem Gefichte verlieren, 
daß jeder Eingriff in die Rechte, die er Heilig Halten follte, ein 
Schlag gegen die Freiheit felbft if, denn dieſe hat, in einem Land, 
wie das unferige, Eeinen fo ficheren oder fo gewaltigen Bundesge⸗ 
nofjen als die Gerechtigkeit. 

Der Staat New-Mork enthält ungefähr 16000 Quadrat-Mei- 
fen Landes und umfaßt gegen 27 Millionen Acres. Im Jahre 1783 
mochte feine Bevölferung 200,000 Seelen beiragen, Vergleicht 


vH 


man bie Bevölkerung mit dem Flächenraum, fo braucht man nicht 
erft zu beweifen, daß der Bauer nicht ganz fo abhängig vom Grund- 
befiger war, wie der Grundbefiber von dem Bauer: auch läge hierin 
eine große Wahrheit, wenn der Staat eine Infel geweſen wäre. 
Wir wiffen übrigens Alle, daß ringsumher viele unter ähnlichen 
Berhältnifien ſtehende Gemeinfchaften fich befanden, und daß man 
nichts in ſolchem Weberfluffe Haben Eonnte, als den Grund und Bo⸗ 
den. Die VBorftellungen alfo, mit denen man ſich über Erpreffungen 
und Monopole trägt, müſſen unwahr fein, wenn man fle auf die 
beiderfeitigen Intereffen jener Zeit in Anwendung bringen will. 
Im Jahr 1786— 87 hob der Staat New Port, welcher damals 
die volle Befugnig dazu hatte, alle Fideicommiffe auf und brachte 
auch anderweitig feine Geſetzgebung über Realbeſitz in Harmonie 
mit den Inftitutionen. Damals beftanden hunderte, vielleicht tau⸗ 
fende von Pachtgütern, die feitdem fo anrüchig geworden find. Die 
Aufmerkfamkeit des Staats wandte ſich unmittelbar der Hauptfache 
zu, und Niemand ſah darin eine Unverträglichkeit mit den Beftim- 
mungen der Inftitutionen. Man wußte, daß die Grundbefiger durch 
die Freigebigkeit ihrer Zugefländniffe den Bauern zu Bewirthfchaf- 
tung ihres Bodens angefauft Hatten, und daß letzterem damit ein 
Bortheil zuging. Hätten die Landlords jener Zeit den Verfuch ges 
macht, ihre Grundftüde für ein Jahr oder auch für zehn Sahre ab» 
zulafien, fo würden fi für eine Wildnig Feine Pächter gefunden 
haben; anders verhält fich aber die Sache, wenn der Eigenthümer 
Des Bodens darein willigte, feine Barmen gegen Bezahlung einer 
fehr niedrigen Rente wegzugeben; mit Zahlung der Teßteren durfte 
man erft nach ſechs⸗ oder achtjährigem Betrieb heginnen, und man 
hatte zugleich das Abfinden getroffen, daß flatt des Geldes das 
Produkt des Bodens geliefert werden follte. Man ging damals mit 
Freuden auf diefe Bedingungen ein, und der befte Beweis dafür 
liegt in der Thatfache, daß diefelben Pächter in der Umgegend nad 
allen Richtungen hin freies und eigenes Land hätten Faufen Tonnen, 


vn 


aber die leichteren Bedingungen des Pachtvertrags waren ihnen Tier 
ber. Sept find dieſe Perfonen oder ihre Nachkommen reich genug 
geworden, jo daß fie fich mehr um die Bejeitigung der Nentenlaft, 
als um die Erhaltung ihres Geldes kümmern, denn in den Rechten 
der betreffenden Partien hat fich ficherlich nichts geändert. 

1789 trat die Eonftitution der Vereinigten Staaten in Wirk- 
famfeit, und New⸗York hatte bei Gründung und Abfaffung derfelben 
mitgewirkt. Vermöge derjelben Eonftitution begab ſich nach gutem 
Borbedacht unfer Staat der Ermächtigung, die Verträge bejagter 
Pachte anzutaften, und geftattete auch Eeiner andern Regierung dag 
Recht dazu, im Falle es nicht Durch eine Umänderung der Gonfti- 
tution felbft geihah. Eine nothwendige Folge davon ift, daß das 
Pachtverhältniß im gefeglichen Sinn mit zu den Inftitutionen New- 
Morks gehört und deßhalb nicht im Widerfpruch mit denfelben ftehen 
kann. Nicht nur der Geift der Snftitutionen, fondern auch ihr Buch 
ftabe weist dieß nah. Man muß wohl einen Unterfchied machen 
zwifchen dem „Geift der Snflitutionen” und dem „eigenen Geift", 
denn der leßtere ift oft nichtd weiter, als ein Magen, der fich nicht 
erfättigen laffen will. Mit demfelben Rechte, als fich dieß vom Pacht 
verhältniffe fagen läßt, Eönnte man behaupten, das Hausfklaven- 
Syſtem vertrage fich nicht mit den Inftitutionen der Vereinigten 
Staaten, und mit der gleichen Zriftigkeit ließe fich nachweijen, weil 
A. keine Kameradſchaft mit B. halten will, jo handelt er gegen den 
„Geift der Inſtitutionen“, weil die Unabhängigkeitserklärung als 
Dogma aufftellt, daß alle Menfchen gleich geboren feien. 

Man hat vorgegeben, die Pachtverträge von langer Dauer trü- 
gen die Natur des Feudalweſens an fih. Wir können hierin nichts 
Wahres finden; aber felbft zugegeben, daß es der Fall wäre, fo 
würde damit nur der Beweis geliefert, daß ein Feudalſyſtem in 
folder Ausdehnung ein Theil der Staats-Inftitutionen ift — ja 
und außerdem noch ein Theil, über welchen der Staat felbit fich aller 
Zuftändigfeit begeben bat, etwa diejenige abgerechnet, die er als 


IX 


einer von den achtundzwanzig Staaten befibt. Was das Keudale in 
der Sache betrifft, jo wird es mir ſchwer, zu jagen, wo es etwa zu 
fuchen fein müßte. In der einfachen Thatſache der Rentenzahlung 
gewiß nicht, denn diefe ift jo allgemein, daß hiedurch Das ganze Land 
feudal würde. Eben fo wenig kann der Umſtand in Betracht kommen, 
daß die Rente in natura, wie man’ nennt, oder in Arbeit bezahlt 
werden fol; denn dieß ift ein Bortheil für den Pächter, und es fteht 
ihm ja frei, auch in Geld zu zahlen, da bei Berfäumniffen die Ge= 
richte auf letzteres Tilgungsmittel erkennen. Sollten die Pachtver- 
träge wohl deßhalb feudal fein, weil fie für immer fortlaufen? Aber 
eben dieß ift ja augenfcheinlich ein VBortheil für den Pächter, und er 
wußte denfelben bei @ingehung feines Kontrakts recht wohl zu wür⸗ 
digen. Auch gibt es wahrfcheinlich nicht einen einzigen Pächter auf 
Lebensdauer, der nicht bereitwillig ein derartiges Befigverhältnißgegen 
einen von jenen verwünfchten ewigen Pachten umwandeln würde. 
Unter die Abgefchmadtheiten, welche man über das Thema des 
Feudalismus in Umlauf gefeßt hat, gehört auch die Behauptung, 
daß das wohlbekannte englifche Statut „quia emptores" Ent- 
Thädigungen für die Veräußerung verbiete, oder daß die quarter 
sales, fifth sales, sixth.sales u. ſ. w., wie fie in unfern Ber- 
trägen vorfommen, fehon bei ihrer Einführung im Widerfpruch mit 
den Reichsgeſetzen geftanden hatten. Gemeinrechtlich waren in ge= 
willen Fällen von Hörigfeit die Abweichgelder eine Stipulation des 
Lehensvertrags. Das Statut des quia emptores hob zwar dieß 
als allgemeinen Grundſatz auf, aber nicht in einer Weife, welche 
den Partieen verbot, fich auf Verträge von der Natur der quarter 
sales oder Verkäufe gegen Bürgichaft einzulafen, wenn fie es für 
paflend hielten. Das gemeine Recht weist allen realen Beſitz dem 
älteften Sohn zu, unfer Statut aber theilt ihn, fogar ohne Rüdficht 
des Geſchlechts, unter die_nächften Verwandten. Folgerichtig müßte 
alfo, wenn man annehmen wollte, das Gefeh von Edward I. verbiete 
einen Bertrag unter der Bedingung der quarter sales, dem Statut 


X 


gemäß ein Vater feinen Grundbefib auch nicht auf den Alteften Sohn 
übertragen fönnen. Der Umftand, daß in dem gemeinen Recht eine 
Beftimmung geändert wird, zieht noch nicht die Unmöglichkeit nach 
fih, daß man nach der alten Norm eine Uebereinkunft abfchließe. 

Das Lehensverhältniß zerfiel urfprünglich in zwei große Klaſ⸗ 
fen; es gab nämlich militärische oder ritterfchaftliche und After- oder 
Bauernlehen. Die erfteren wurden im Laufe der Zeit für die Ge- 
ſellſchaft ſehr bedrückend. Das Afterlehenfyftem war gleichfall3 dop⸗ 
pelter Art — es gab freie Lehensleute und leibeigene Vaſallen. 
Lestere hat man unter ung nie gekannt, während die Stellung der 
erfteren Aehnlichkeit mit derjenigen hat, welche unfer Pachtſyſtem 
bietet, Als unter der Regierung Karls IL. die ritterfchaftlichen Reben 
in Freilehen umgewandelt wurden, betrachtete man dieſes Zuge⸗ 
ſtaͤndniß als fo vortheilhaft für die Freiheit, daß es mit unter die 
bedeutendften Maßregeln der Zeit gerechnet wurde, von denen eine 
die Gewährung der Habeas corpus-XAfte war, 

Der einzige Zug in unfern Pachtverträgen, welcher einigermaßen 
an die Leibeigenfchaft erinnert, Tiegt in den „Tagwerken”. Wer 
aber mit den Gewohnheiten des amerikanifchen Lebens vertraut ift, 
begreift wohl, daß durch fämmtliche nördliche Staaten vie Land- 
wirthe allgemein e8 als einen Vortheil betrachten, wenn fle in die» 
fer Weije ihre Schulden zahlen können; auch Täßt ihnen das Geſetz 
die Wahl, indem es für den Fall einerRichterfüllung der Zahlung 
in natura oder in Arbeit auf Entrichtung des Werthes in Geld 
erkennen läßt. Thatſaͤchlich ift auch ftetS für die bedungenen Tag⸗ 
werfe eine gewifle flipulirte Summe angenommen worden. 

Aber man hat vorgegeben, wenn auch derartige Verträge auf 
den Fuß der Billigfeit gegründet ſeien, hätten fie Doch immer etwas 
Berleßendes für den Pächter, und follten, um den Frieden des 
Staates zu erhalten, abgefchafft werden. Der Staat aber iſt ver- 
pflichtet,, dafür Sorge zu tragen, daß alle Klaſſen feine Gefehe 
axvten, und in keinem Stüde erfcheint dieß dringender nöthig, als 


XI 


in Erfüllung gefeplicher Kontakte. Je größer die Anzahl der Ueber⸗ 
treter ift, um fo mehr hat der Staat die Obliegenheit, ihnen mit 
Entfchiedenheit und Nachdrud entgegenzutreten. Wollte man jagen, 
man folle die Unruheftifter gewähren laſſen, fo würde dieß mit 

andern Worten heißen: ein jedes Verbrechen kann fich durch feine 
Berbreitung Straflofigkeit erwirken; behauptet man aber, „bei un= 
feren Staatseinrichtungen" könne man einem folchen Unfug keinen 
Einhalt thun, fo wird dadurch ein Zugeftändniß gegeben, daß bie 
Regierung außer Stande fei, eine der einfachften und gewöhnlichften 
Berpflichtungen einer jeden civilifirten Gefellfchaft zu erfüllen. Wäre 
Letzteres wirklich der Fall, fo tönnte man nichts fehnlicher wünfchen, 
als daß unfere gegenwärtige Regierungsform je eher je lieber be- 
feitigt werde. Die Anficht, ein derartiges Uebel durch Zuge⸗ 
Rändniffe befchwichtigen zu können, ift eben fo knabenhaft als un» 
ehrlich. Je mehr man einräumt, deflo weiter werden die Erpreffun- 
gen einer nie zu erfättigenden Habgier greifen, und hat man in 
Anfehung des Pachtverhältniffes durch folhe Mittel einige Ruhe 
gewonnen, fo wird im Augenblid wieder ein Bund daftehen, der 
einen andern Zwed zu erreichen bemüht ifl. 

Als Lee bei Monmouth zu Washington fagte: „Sir, Eure 
Truppen werden nicht Stand halten gegen brittifche Grenadiere,“ 
ſoll Lebterer geantwortet haben: „Sir, Ihr habt's noch nicht mit 

ı ihnen verfucht." Dieſelbe Erwiederung könnte man jenen erbärm- 
lichen Schreiern unferer Republik geben, melche, nur um Stimmen 
zu erlangen, thun, als glauben fie, die Regierung befige nicht Kraft 
genug, um einen fo Fedftirnigen Verſuch zu dämpfen, wie ihn die 

- Antirenters gemacht haben, um eine Aenderung in den Bedingun- 
gen ihrer Verträge nach eigener Bequemlichkeit zu erzwingen. Die 
Bounty Delaware hat auf eigene Kauft diefe Behauptung mannhaft 
Lügen geftraft, und der ehrenwerthe Theil der Bewohner zerftreute 
die Schurken nach den vier Winden, ſobald fich eine günftige Ge⸗ 
kgenheit bot, gegen fie Fräftig aufzutreten. Eine einziar energiüie 


— 


XII 


Proclamation von Albany, welche „eine Spate auch eine Spate 
nennen würde” und nicht den verfappten Raub der Antirenter mit 
einem Firniß überzöge, jondern dem öffentlichen Geift die Grund⸗ 
jäße der Gerechtigkeit an's Herz legte, hätte an fich ſchon das Uebel 
im Keim erftidden können. Die Bewohner von New⸗Nork in ihrem 
Allgemeincharakter find nicht die Schurken, welche der Triechende 
Knechtsfinn augenfcheinlich hinter ihnen fucht. 

In der denkwürdigen Sißung von 1846 hat die Affembly von 
New⸗Nork die Renten aus langen Pachtverträgen mit einer Taxe 
belegt, und dadurch nicht nur daffelbe Eigenthum zweimal befteuert, 
ſondern auch die allerfchlinmfte Art von Einkommens⸗Taxe aufge» 
legt, da fie nur auf wenige Individuen berechnet ift. Dieß if das 
„Fingerhut⸗Syſtem“ in feiner Gefebgebung, wie e8 Mr. Hugh 
Littlepage nicht unpaffend nennt; man verfucht indirekt das zu er⸗ 
reichen, was die Gonftitution nicht unmittelbar durchzuführen ge= 
flattet. Mit andern Worten: da der legislative Körper Fein direktes 
Geſetz erlaffen kann, welches „die Verbindlichkeit von Kontrakten 
beeinträchtigt”, feßte er, weil er bei Regulirung des Heimfalld zu⸗ 
ftändig if, fo weit eine gefeßgebende Berfammlung überhaupt etwas 
zu erwirfen vermag, den Beichluß durch, daß nach dem Tod eines 
Grundbeſitzers der Pächter fein Pachtgut in ein hypothekariſches 
umwandeln und frei und eigen machen fönne, jobald er die darauf 
haftende Schuld getilgt hat. 

Uns fcheint die erfte dieſer Maßregeln weit tyrannijcher zu fein, 
als der Verſuch Britanniens, feine Kolonien mit Tagen zu belegen, 
und Diefer hat damals die Revolution hervorgerufen. Der Allge- 
meincharafter ift der gleiche — es handelt fih um eine ungerechte 
Befteuerung, welche übrigens im gegenwärtigen Falle noch von 
erichwerenden Umfländen begleitet it — von Umfländen, die in 
der Politif des Mutterlands Teine Parallele haben. Die Steuer 

Zv1rd nicht aufgelegt, um dem Staat eine NRevenue weiter au ſchaf⸗ 
/en, denn man bedarf ihrer nicht; fondern es yandeitii ve Vier 


AI 


Tare blos um eine „Abkappung“ der Grundbefißer (choke off), 
wie die gewöhnliche amerifanifche Phrafe lautet. Auch befteuert 
man Elärlich ein Nichts oder dafjelbe Eigenthum zum zweiten Mal. 
Und alles Dieß gefchieht aus keinem andern Grunde, als um dreis- 
oder viertaufend Wahlflimmen, die jebt auf dem Markt find, auf 
Unfoften von drei⸗ oder vierhundert zu gewinnen, die, wie man 
wohl weiß, fich nicht erfaufen laſſen. Ungerechtigkeit in den Beweg⸗ 
gründen, in den Mitteln und in dem Zwede! Die Maßregel ge= 
reicht der Civiliſation zur Schande und if ein Schimpf für die 
Freiheit. 

Der andere eben erwähnte Beichluß ift eine eben fo freche Ver⸗ 
mefjenheit, und wohl im Stande, jeden Staatsangehörigen von 
nur gewöhnlicher Gewiſſenhaftigkeit in Unruhe zu verfeßen, wäre 
der Plan, die Konftitution zu betrügen, nicht fo ärmlich, daß er 
eigentlich nur Verachtung hervorrufen kann. Die außerordentliche 
Ermächtigung wird benüßt, weil die Gefebgebung die Verhältniſſe 
des Heimfalls ordnen kann, obgleich e8 ihrer Befugniß entrüct ift, 
„die Verbindlichkeit von Kontrakten zu fchwächen!" Hätte das Ge— 
feß unverholen ausgefprochen, nach dem Zod eines Grundbeſitzers 
folle jeder Pächter die von ihm bisher bewirthichaftete Farm frei 
und eigen befißen, fo wäre Doch das ensemble des Betrugs be= 
wahrt geblieben, weil die „Heimfall-Berhältniffe" fo weit eine 
Regelung gefunden hätten, daß an die Stelle des einen Erben ein 
anderer gejeßt worden wäre; aber Die Veränderung des Weſens 
eines Kontrakts im Intereſſe einer Partie, welche bei der Erbfolge 
durchaus nicht betheiligt ift, Tann nicht fo Elärlich als eine Verän- 
derung oder Verbeſſerung des Heimfall-Statuts angefehen werden! 
Es ift kaum nöthig, zu jagen, daß jeder achtbare amerifanifche 
Gerichtshof, funktionire er nun von Staats- oder Unionswegen, 
ein ſolches Gejeb mit der verdienten Schande brandmarten winter. 

Aber Der /Alimmfe Zug in diefem Beichluß oder — wie Wo 
Mer fage — in dem verfuchten Befchluß verdient hier ouch oh 


XIV 


einige Beleuchtung. Er febt eine Prämie auf den Mord. Dieſes 
Berbrechen ift bereits von den Antirentern verübt worden, und zwar 
augenjcheinlich in der Abficht, ihren Zwed zu erreichen. Man fagt 
ihnen damit, fo oft ihr einen Grundbefiger erſchießt, — und der 
Verſuch dazu ift ſchon oft gemacht worden — koͤnnt ihr eure Pacht⸗ 
güter in freie umwandeln! Die Art der Abfchägung if gleichfalls 
jo intereffant, daß fle eine Bemerkung verdient. Man muß die 
Schägung auf Zeugniß hin vornehmen laffen. Die Zeugen find 
dann natürlich „die Nachbarn” — und fo kann durch das ganze 
Land Einer für den Andern ſchwören. | 

Wir als Demokraten, verwahren ung feierlich gegen folche freche 
Betrügereien, gegen jo handgreifliche Habfucht und Raubgier, die 
man mit jedem anderen Namen, nur mit ihrem wahren nicht bes 
zeichnet. Hat irgend eine Partie ihre Hand darin, jo muß diefe der 
Zeufel jeldf fein. Das demokratiſche Bewußtſein if ein ſtolzes, 
edles Gefühl, und es fällt ihm eben fo wenig ein, den Armen zu 
berauben, um den Reichen noch reicher zu machen, als e8 zu Gun⸗ 
ften des Armen einen Eingriff in die Rechte des Reichen geftattet. 
Gerechtigkeit ift fein Prinzip — es behandelt alle Menjchen gleich 
und will nicht „die Verbindlichkeit von Kontrakten ſchwächen“. 
Die Demokratie ift keine Freundin einer heuchlerifchen Geſetzge⸗ 
bung, fondern hat das Rechte im Aug’ und wagt e8, offen zu han 
deln. Es ift eine fchlimme Verblendung, wenn man glaubt, Die 
ächte Demokratie habe etwas mit Ungerechtigkeit oder Schurferei 
gemein. 

Ebenfalls kann von feinem Gefichtspuntte aus die Behauptung 
dem Antirentismus zur Entjchuldigung dienen, die Pachtverhält- 
niffe feten unzuträglih. Das Zuträglichfte in der Welt ift die Ge— 
rechtigkeit. Wäre auch Fein anderer Einwurf: gegen diefe Rentenbe⸗ 
wegung aufzubringen, als der, daß fle einen verderblichen Einfluß 
übe, fo follte dieß allein ſchon zureichen, um jeden weifen Mann in 
der Gemeinſchaft zum feſten Widerftande aufzufordern, Wir haben 


XV 


ſchon zu viel von diefer Erde gefehen, um uns fo leicht überzeugen 
zu laffen, daß der Beftand großer Pachtgüter, wenn er — wie es 
bei und der Fall it — nicht im Gefolge von politifcher Macht auf- 
tritt, nachtheilig — ja, daß er nicht entſchieden vortheilhaft jet. 
Der alltägliche Borwand, er vereitle die Civiliſation eines Landes, 
iſt in Keiner Weife durch Thatfachen beftätigt. Die civilifirteften 
Länder der Erde find im Beſitz dieſes Syſtems, und noch obendrein 
unter Berhältnifien, gegen die ſich manche ernftliche Einwendungen 
vorbringen laſſen — Einwendungen, die übrigens für Amerika 
keine Geltung haben. Daß eine ärmere Klaffe von Bürgern ur⸗ 
fprünglich in New Port Ländereien gepachtet, dann aber anderweis 
tig erworben hat, ift wahrfcheinlich richtig, und in gleicher Weife 
läßt fih annehmen, daß die Wirkungen diefer Armuth und fogar 
des Pachtſyſtems in der Kindheit eines Landes auf den Gütern 
nachweisbar find. Doc dieß heißt die Sache von einem jehr ein⸗ 
feitigen Geſichtspunkte auffaflen. Die Männer, welche in mittel» 
mäßigen, aber doch gemächlichen Verhältniffen Pächter wurden, 
hätten ſich ohne diefen Ausweg meift auf andern Farmen ald Tags 
löhner und Knechte forthelfen müffen. Dieß ift die Wohlthat des 
Syſtems in einem neuen Land und der UltrasHumanitätsfreund, 
welcher über das traurige Loos ver Pächter ein Gefchrei erhebt, 
follte nicht vergeffen, daß fie, wenn fle fich nicht in eben dieſer Lage 
befänden, vielleicht in einer viel jchlimmeren ſtecken würden. 

Es ift in der That ein Beweis mehr von der Unaufrichtigkeit 
Derer, welche um der ariftofratifchen Tendenz willen über das 
Pachtverhaͤltniß Lärm fchlagen, dag die Aufhebung deffelben noth⸗ 
wendig eine zahlreiche Klaffe von Aderbauern in die Neihe der 
Knechte und Taglöhner zurüchwerfen oder fie zur Auswanderung 
jwingen würde, wie dieß in Neu-England bei fo vielen aus derfel- 
ben Klaffe der Fall iſt. Ihatfächlich ſtellt fich heraus, daß in einer 
wohlhabenden Gemeinfchaft die Beziehung des Grundherrn zum 
Pächter und umgekehrt ganz naturgemäß und fehr wohlthätig it, 


XVI 


ja, fo ganz im Einklang mit den Bedürfniffen der Menfchen fteht, 
daß Feine Geſetzgebung es für die Dauer befeitigen kann. Ein 
Stand der Dinge, welche den Reichen nicht ermuthigt,, fein Kapis 
tal im Grundbefiß anzulegen, wäre ficherlich nicht wünfchenswerth, 
weil er fein Geld, feine Kenntniffe, feinen liberalen Sinn und feine 
Muße anderen weniger nüßlichen und weniger preiswürdigen Be— 
firebungen zuwenden müßte, während fonft alles Dieß der Kultur 
Des Bodens zu gut käme. 

Wir haben anderswo viel von dem Geift des Antirentismus einer 
provinzialen Erziehung und provinzialen Gewohnheiten zugefchrie= 
ben. Diefer Ausdrud ift Solchen, welche die Befchuldigung am 
meiften trifft, zum fchwerften Stein des Anſtoßes und des Aerger- 
niffes geworden. Gleichwohl fteht unfere Anficht unverändert. Wir 
wiffen, daß die Entfernung zwiſchen dem Niagara-Fall und der 
Maſſachuſſets⸗Linie gute hundert Stunden beträgt und daß man 
von Sandy Hoof bis zum 45. Breitengrade eben jo weit hat. 
Ohne Frage find in moralifcher jowohl, als in phyfſiſcher Hinficht 
viele treffliche Dinge innerhalb diefer Gränzen zu finden; aber wir 
wiſſen zufälligerweife aus einer Erfahrung, die fich im Laufe von 
nun mehr als vierzig Sahren auch auf andere Theile der Welt er- 
firedt bat, daß man auch außer dieſem Banne noch recht viel fehen 
fann. Wenn „ehrenwerthe Gentlemen” zu Albany das Gegentheil 
glauben, fo müflen fie ung geflatten, daß wir ung in der Annahme 
nicht beirren laſſen, jte flehen allzufehr unter dem Einfluffe provin- 
zieller Vorftellungen. 


a 


Erftes Kapitel. 


“ Der Tugend Dufterbild war deine Mutter, 
Und fie erflärt für meine Tochter Dich; 
Dein Bater ſchwang dad Scepter über Mailand 
Ald Herzog, und die einz'ge Erbin war 
Nichtd Tchlechteres ald eines Fürſten Sprößling. 


Der Sturm. 


Onkel Ro und ich, wir Beide hatten uns im Orient aufge— 
halten, und waren, als wir in Paris anlangten, ſchon volle fuͤnf 
Jahre aus der Heimath abweſend geweſen. Wie wir auf unferem 
Rückweg von Egypten über Algier, Marfeille und Lyon durch die 
Barrieren einfuhren, hatte bereits jeit achtundzwanzig Monaten 
einer von und auch nur Eine Zeile aus Amerika zu Geficht befom- 
men; denn wir waren dieſe ganze Zeit über nie in unfere frühere 
Reiferoute zurückgefallen, die e8 und möglich gemacht haben würde, 
„da oder dort ein einzelnes Schreiben aufzulefen. Aus eben diefem 
Grunde war auch unfere Vorfichtsmaßregel vergeblich gewefen, als 
wir Weifung ertheilten, die an ung gerichteten Briefe an verfchie- 
dene Banquiers in Stalien, in der Türkei und auf Malta zu fenden. 

Mein Onkel war ein alter Reifender, und man hätte Europa 
| fa feine Heimath nennen können, da er von feinen neunundfünfzig 
Lebensjahren nicht weniger als zwanzig fern von dem amerifani= 
Ken Kontinent zugebracht hatte. Er war ein Junggefelle, und 
hatte nur für Verwaltung feines großen Grundbeſitzes Sorae Au 

Ravensneft. 1 


a 


2 


tragen, welcher durch das ungeheure Anwachſen der Stadt New-York 
jhnell zu einem bedeutenden Werth gelangt war; da er außerdem 
von früh an feinen Gefchmad durch Neifen gebildet hatte, fo lag 
e8 ganz in der Ratur der Sache, daß er diejenigen Gegenden auf⸗ 
fuchte, die ihm am meiften gefielen. 

Roger Littlepage war im Jahre 1786 geboren und der zweite 
Sohn meines Großvaterd Mordaunt Littlepage aus deffen Ehe mit 
Urfula Malbone. Mein Vater Malbone Littlepage war der ältefte 
Sprößling diefer Verbindung, und würde, wenn er feine Eltern 
überlebt hätte, Eraft feines Erfigeburtsrechts die Befigung Ravens- 
neft geerbt haben. Da er jedoch in jungen Jahren ftarb, trat ich 
in einem Alter von kaum achtzehn das Erbe des Eigenthums an, 
welches ihm zugefallen wäre. Auf meinen Onfel Ro kamen Satans 
toe und Lilatsbufh, zwei Landhäufer und Meiereien, die, wenn fie 
auch nicht den Namen großer Befikungen verdienten, im Lauf der 
Zeit doch weit werthvoller wurden, als die große Bodenfläche, welche 
das Erbtheil des ältern Bruders war. Mein Großvater hatte ein 
bedeutendes Vermögen befeffen, da nicht nur die Habe der Little- 
page's, fondern auch die der noch reicheren Familie Mordaunt nebft 
einigen fehr freigebigen Bermächtniffen eines gewiffen Obriften Dir 
Follo@ oder Ban Valkenburgh auf ihn gefallen waren; letzterer 
hatte nämlich, obfchon nur in einem entferntern VBerwandtfchafts- 
grade zu ung ftehend, die Nachkömmlinge meiner Urgroßmutter Ans 
nefe Mordaunt zu feinen Erben ernannt. Demgemäß traf auf jedes 
von ung ein fchöner Antheil. Meine Zanten erhielten reiche Ver- 
mächtniffe in Hypotheken auf das Gut Mooferidge nebft einigen 
Baupläßen in der Stadt, während auf meine Schweiter reine fünf- 
zigtaufend Dollars in Geld kamen. Auch mir waren Stadtbau= 
pläße zugefallen, die in der Folge fehr einträglich wurden, und ein 
beſonders verordnetes Minderjährigkeitöverhältnig von fieben Jah 
- ren hatte mein in New-Morker Staatepapieren angelegtes Kapital auf 
eine Weife anwachfen laſſen, daß ich einer ſchoͤnen Zufunft entgegen⸗ 


3 


fehen konnte. Ich fage — ein befonders verordnetes Minderjährig- 
feitsverhältnig — denn mein Bater und mein Großvater, von de- 
nen der erftere mich und einen Theil des Vermögens, leßterer aber 
den Reft meiner Habe unter die Bormundfchaft meines Onkels ftellte, 
hatten die Verfügung getroffen, daß ich den Befiß erft nach Vollen- 
dung meines fünfundzwanzigften Lebensjahres antreten follte. 

Ich verließ im zwanzigften das College, und Onkel Ro — denn 
fo wurde er nicht nur von Martha und mir, fondern auch von etlich 
und zwanzig Goufinen, den Sprößlingen unferer drei Tanten, ge= 
nannt — wollte nun meine Erziehung durch Reifen vollenden. 

Da ein derartiger Vorfchlag einem jungen Manne nur ange- 
nehm fein konnte, jo brachen wir in einer Zeit auf, als fich die 
Bedrüdung des großen panifchen Schredens von 1836— 37 eben 
gelegt hatte, und unfere „Lots“ ſowohl, ale auch unfere Staate- 
papiere leidlich ficher landen. In Amerika muß man ebenfogut auf 
die Erhaltung feines Vermögens Acht haben, als die Erwerbung 
deſſelben einen unverdroffenen Fleiß fordert. 

Mr. Roger Littlepage — beiläufig bemerkt, ich trug den glei= 
hen Namen, obgleich ich ftets Hugh genannt wurde, während mein 
Onkel je nach Befchaffenheit der Umftände (wenn man nämlich fen- 
timental, traulich oder mannhaft mit ihm fprechen wollte) von den 
Samiliengliedern mit den Bezeichnungen Roger, Ro und Hodge an« 
geredet wurde — Mr. Hugh Roger Littlepage Senior hatte damals 
ein eigenes Syftem, amerifanifchen Augen den Staar zu ftechen 
und die Fleden des Provinzialismus aus dem Diamant von republi- 
kaniſchem Wafler zu entfernen, indem er ſelbſt weit Elarer ſah, als es 
irgend Einem möglich ift, der feine Heimath nie verlaffen hat. Und 
es war ihm bereitd genug vorgefommen, was ihm die Ueberzeugung 
geben Fonnte, e8 fei Doch auch noch eine Möglichkeit — man merke 
wohl, ich fage nur eine Möglichkeit — vorhanden, daß unfere 
glückliche Nation ein bischen lernen könne, wie fehr fie auch mit 
ihren Angehörigen oder nicht Angehörigen hei allen Gelegenheiten, 


+ 


4 


ob dieſe nun paflend feien oder nicht, zu glauben geneigt fein mag, 
fie fei in unendlich vielen Stücen berufen, die Lehrerin der alten 
Welt zu fein. Von den Grundfage ausgehend, daß jeder Wiſſens— 
zweig allmählig erlernt werden müſſe, war er daher der Anficht, 
man müffe zuerfi mit dem ABE anfangen und dann regelmäßig 
zu den belles lettres und der Mathematik auffteigen. Die Art, 
wie er dieß bewerfftelligte, verdient Beachtung. 

Die meiften amerikanischen Reifenden landen in England, das 
in materieller Beziehung am weiteften vorgefchritten iſt, und gehen 
dann nach Stalien, vielleicht auch nach Griechenland, mährend Deutfch- 
land und die weniger anziehenden Gegenden des Nordens den Schluß 
des Kapitels bilden müffen. Der Theorie meines Onkels gemäß 
jollte man der Ordnung der Zeit folgen und mit den Alten begin- 
nen, um mit den Neuen zu endigen, obgleich er zugab, daß bei 
Befolgung einer folchen Regel für den Anfänger das Vergnügen 
einigermaßen gefchwächt werde; denn ein Amerikaner, der frifch von 
der frifchen Natur des weftlichen Kontinents herfömmt, kann ſich 
recht wohl, namentlich in England, an den Denkzeichen der Ver— 
gangenheit ergößen, während fie feinem verwöhnten Geſchmack uns 
bedeutfam erfcheinen, nachdem er den Tempel des Neptun, das Bars 
thenon oder vielmehr die Meberbleibfel deffelben, und das Eolifeum 
gefehen hat. Ohne Zweifel ging mir dadurch Vieles verloren, indem 
ih mit dem Anfang, d. h. mit Stalien begann und dann in den 
Norden reiste. 

Indeß blieb es einmal bei diefem Plane. Wir landeten zu 
Livorno, mufterten im Laufe von zwölf Monaten die italienifche 
Halbinfel, gingen dann durch Spanien nah Paris, machten von 
hier aus die Reife nach Moskau und dem baltifchen Meere und 
gelangten endlich über Hamburg nah England. 

Nachdem wir die brittifchen Inſeln, deren Alterthümer mir 

2a den anberwärts gefehenen weit merkwürdigeren Antiken flach 

292 unintereffant porEamen, durchwandert hatten, teytten wir my 


5 


Paris zurüd, damit ih dort wo möglich ein Mann von Welt werde, 
und die Provinzialfleden abreibe, durch welche der amerikanijche 
Diamant in feiner Dunkelheit unvermeidlich getrübt worden war. 

Mein Onkel Ro war fehr gern in Paris, und hatte fich jogar 
in der Faubourg ein Eleines Hotel erworben, in welchem ſtets eine 
ſchön möhlirte Abtheilung für feinen eigenen Gebrauch bereit Hand. 
Der Reſt des Haufes war an fländige Bewohner vermiethet, der 
ganze erfte Stod aber und der Entrefol blieben in feinen Händen. 
Aus befonderer Vergünftigung ließ er auch hin und wieder, wenn 
er auf länger als ſechs Monate auszubleiben gedachte, feine eigenen 
Gemächer an eine amerikanische Familie ab, und verwandte ſodann 
den Miethpreis auf Ergänzung des Mobiliar in feiner Abtheilung, 
die aus einem Salon, einer salle A manger, einer antichambre, 
einem cabinet, mehreren chambres a coucher und einen bou- 
doir — ja, man denke fi, einem männlichen boudoir — beftand, 
denn fo pflegte er dieſes Gemach gerne zu nennen. Er bielt große 
Stüde darauf, daß feine Räumlichkeiten ftets in einem Zuftand waren, 
um fogar feinen eigenen ekeln Gejchmad zufrieden zu ftellen. 

Bon England angefommen, blieben wir eine ganze Saijon zu. 
Paris, und gaben ung eben alle Mühe, den Diamant abzujchleifen, 
als fi) mein Onfel plößlich in den Kopf feßte, daß wir dag Morgen— 
land befuchen müßten. Er war felbft früher nie weiter ald nad 
Griechenland gefommen, und jebt gefiel er fich in dem Gedanten, 
in meiner Gefellfchaft eine Reife nach dem Orient zu machen, Im 
Lauf von zwei und einem halben Jahre bejuchten wir Griechenland, 
Konftantinopel, Klein-Alten, Paläftina, Mecca, das rothe Meer, 
Egypten bis zu den zweiten Bataraften hinauf und faft die ganze 
Berberei. Die letztere Tour fchlugen wir ein, um auch etwas außer 
dem gewöhnlichen Reifezug zu fehen, obſchon man jet unter den 
Zurbageen jo viele Hüte und Neijemügen trifft, dat ein Chükt, Ver 
36 anfindrg Pentmmt, faß überall fortkommen kann, ohne daR tt 

Aforgen müßte, angelbieen zu werden, - Ein folches Berhälinig W 


* 


6 


im Allgemeinen fehr verlodend, und muß e8 befonders für einen ameri⸗ 
kaniſchen Reifenden fein, der heutzutage in der Heimath weit mehr 
einer derartigen Demüthigung ausgeſetzt ift, als fogar in Algier. 
Doch der Animus if in der Moral als Hauptſache anzufchlagen. 

Als wir durch die Barriere einfuhren, waren wir zwei und ein 
halbes Jahr von Paris abwefend geweſen, ohne im Laufe von acht⸗ 
zehn Monaten eine Zeitung gefehen oder eine Mittheilung aus Ames 
rifa erhalten zu haben. Auch früher ſchon war der Inhalt der 
Briefe und Zeitfchriften mehr von Privatinterefie geweien, fo daß 
ich über den allgemeinen Charakter unferer Zuftände nichts Erheb- 
liches mitzutheilen wüßte, 

Wir mußten, daß die „zwanzig Millionen" — erft kürzlich 
noch nannte man fie die „zwölf Millionen" — nad der vorüber- 
gehenden Geldfrifis, die fie durchzumachen hatten, ganz erflaunlich 
wieder in Aufnahme gekommen waren, denn die Banquiers hatten 
während der ganzen Zeit unferer Abweſenheit unfere Wechfel ohne 
Ertrabelaftungen honorirt. Freilich muß ich hier fagen, daß Onkel 
Ro als erfahrener Reifender fich gut mit Kreditbriefen vorgefehen 
hatte — eine Maßregel, die der Amerikaner nach dem in der alten 
Melt über und erhobenen Gefchret nicht verabfäumen durfte. 

Ehe ich übrigens eine Zeile weiter fehreibe, muß ich mir hier 
eine unverholene Bemerkung erlauben. Der Anterifaner, der fi 
nie von dem Gängelband feiner Mutter abgelöst hat, verfällt gerne 
in eine engherzige, provinziale Eigenliebe, welche ihn veranlaßt, mit 
offenem Munde all’ den Unfinn zu verſchlucken, welcher in den Spalten 
feiner Zeitungen vor der Welt ausgekramt, oder von den Zährlings- 

. veifenden zu Markt gebracht wird, die ihre „Excurſions“ antreten, 
ehe fie Die gefelligen Gebräuche und charakteriftifchen Züge ihres 
eigenen Landes nur zur Hälfte Eennen gelernt haben. In dem, was 

meine Feber nteberfchreibt, hoffe ich mich von einer derartigen Schwäche 
ebenfo fern zu halten, als von der Sünde einer Srrwirrung der 
Prinzipien und ber Abläugnung folder Tharfahen, Die den Kane 


7 


meiner Geburt und meiner Vorfahren wirklich zur Ehre gereichen. 
Ich habe lange genug in der „Welt“ gelebt — hierunter verſtehe ich 
nicht das füdöftliche Ende der nordweſtlichen TownſhipConnektikuts — 
um nicht einzuſehen, daß wir, ſowohl was Theorie als was Praxis 
betrifft, in vielen Dingen weit hinter älteren Nationen zurückſtehen, 
während es andererſeits Manches gibt, worin wir ihnen einen gewaltigen 
Vorſprung abgewonnen haben. Gewiß iſt es nicht patriotiſch, eine 
heilſame Wahrheit zu verbergen, und am allerwenigſten möchte ich mich 
zu einem derartigen kindiſchen Wunſch durch den Umſtand verleiten 
laſſen, weil ich die Anſichten, die ich hege, meinen Landsleuten nicht 
mittheilen kann, ohne daß die übrige Welt davon Kunde erhielt. 
Wo wären die Molière's, die Shakeſpeare's, die Sheridans und Die 
Beaumonts und Fletchers, wenn Frankreich oder England nach dem⸗ 
jelben engherzigen Grundfate gehandelt hätte! Nein, nein, große 
Nationalwahrheiten dürfen nicht nach dem albernen Wunfch und 
Willen der Fraubaferei gemodelt werden, und wer meine Schriften 
liest, muß meine Anfichten über Dinge und Zuftände, nicht die— 
jenigen erwarten, welche zufälligerweile er felber hegt. Allerdings 
fteht e8 Jedem frei, anderer Meinung zu fein; indeß nehme ich für 
mich das Privilegium einer Keinen Gewiffensfreiheit in Betreff 
des Landes in Anſpruch, welches nah und fern für das allein 
freie auf Erden erklärt wird. Unter „nah und fern” begreife 
ich die Ausdehnung von St, Croix bis zum Rio Grande, und vom 
Kap de Eod bis zur Einfahrt von St. Juan de Fuca — gewiß 
ein recht hübfches Gütchen, der Zwifchenraum, welcher innerhalb 
diefer Gränzen liegt, und man kann ihn recht wohl „nah und fern" 
nennen, ohne fih dem Vorwurf der Befchränktheit oder Eitelkeit 
auszuſetzen. 
Wir hatten unſere Reiſe trotz aller Beſchwerlichkeiten zu Ende 

gebracht und befanden uns wieder in den Mauern des praͤchtigen Batıö. 
Die Voſtiloue Hatten die Beifung erhalten, nach Ontel Ro Hud 
in ber Aue St, Dominique zu fahren, und eine Stunde nad unriet 


8 


Ankunft fegten wir uns unter eigenem Dache zum Mittagsmahle 
nieder. Der Miethmann meines Onkels war der Uebereinkunft ge= 
mäß einen Monat zuvor ausgezogen, und das Pförtners-Ehepaar 
hatte nicht nur für einen guten Koch gejorgt, jondern auch die 
Zimmer in Ordnung gebracht und Alles zu unjerem Empfang be— 
reit gehalten. 

„Das muß wahr fein, Hugh,” jagte mein Onkel, „man Fann 
in Paris recht gemächlich Ichen, wenn man das savoir vivre befikt. 
Gleichwohl hege ich eine große Sehnfucht, einmal wieder die heimi— 
Tche Luft zu athmen. Mag man über Barifer Bergnügungen, Pariſer 
Kochkunſt und dergleichen jagen, was man will, die Heimath bleibt 
doch Heimath, gleichviel, wie arm fie auch ſei. Ein dinde aux 
truffes ift zwar cin Stapitaleffen, aber den Truthahn mit Preißel« 
beerenfauce muß man auch nicht verachten. Bisweilen gelüſtet's 
mich fogar nach einer Kürbispaftete, obfchon ſich Fein Kernchen vom 
Plymoutbfelfen im Granit meines Körpers befindet.” 

„Sch habe Euch immer gefagt, Sir, Amerika fei, was Effen 
und Trinken betrifft, ein treffliches Land, wie viel ihm auch in an— 
dern Etüden der Civilifation abgehen mag.” 

„Sa wohl, was Eſſen und Trinken betrifft, Hugh, wenn nur 
erftlich dag Fett nicht wäre und zweitens ſich ein gediegener Koch 
auffinden ließe. Zwifchen der Kochkunſt Neus-Englands z.B. und 
der der mittlern Staaten, die holländischen ausgenommen, findet ein 
ebenfo großer Unterfchied ftatt, wie zwifchen der von England und 
Deutfchland. In den mittlern und auch nod in den füdlichern 
Staaten, obgleich es in den letztern fchon ein wenig nad) Weft- 
Indien ſchmeckt, hat man englifche Küche im wahren Sinn, d. h. 
die Eräftigen, würzigen, nahrhaften Gerüchte engliſcher Hausmanns— 
foft, das ungare Roafbeef, die ſchnell fertigen Beefſteaks, die ſafti— 
gen Goteletten, die Schöpfenbrühe, die Hammelsfchlegel et id omne 
genus. Auch manches Eigene befißen wir in trefflicher Eigenſchaft 
— 0 3. B. die Sannavaßenten, die Riedvögel, die Schafsföpfe, 


* 


9 
die Alofen und den Schwarzfiſch. Der Unterfchied zwifchen Neue 


- England und den mittlern Staaten ift noch immer augenfällig ge= 


‘ 


nug, obſchon er in meinen jüngern Tagen befonders ſchlagend war. 
Ich glaube, der Grund davon liegt in der provinzielleren Abkunft 
und in den rufticöjeren Gewohnheiten unferer Nachbarn. Bein hei⸗ 
ligen Georg, Hugh, was meinft du? man koͤnnte wohl ſogar jet 
ein Gelüfihen an eine Aufternfuppe Erliegen.” 

„Eine gut zubereitete'Aufternfuppe, Sir, ift eine der größten 
Ledereien von der Welt. Könnten die Parifer Köche eines folchen 
Gerichts habhaft werden, fo wäre für eine ganze Saifon ihr Glüd 
gemacht." 

„Das ift.cr&me de Baviere* und dergleichen Tand gegen ein 
gutes Teller voll Aufternfuppe, Junge! Natürlich gut zubereitet — 
etwa jo wie fie ein Kod) von Jennings feit dreißig Jahren anzufer- 
tigen pflegt. Habe ich dir von der Suppe diefes Burfchen ſchon er= 
zählt, Hugh?" 

„Schon oft, Sir. Indeß habe ich Thon Köftliche Aufternfuppe 
gegeſſen, ohne daß er damit zu fchaffen hatte. Natürlich meint Ihr 
die Suppe, die nur eben durch den Geſchmack der Kleinen harten 
Auftern gewürzt ift — nicht die gemeine potage A la softclam? 
— Diefe ift feine Koft für einen Mann von Bildung!” 

„Natürlich meine ich die harte, Kleine Aufter, die hardclam. 
Das Gefchrei der Nem-Morker hat Freilich jebt aufgehört, wie in der 
Heimath Alles, was zwanzig Jahre alt it. Willſt du etwas von 
dieſem unvermeidlichen „poulet à la Marengo?“ Ich wünfchte, es 
wäre ein ehrlicher amerikanifcher gefottener Vogel, mit einer fafti- 
gen Spanferkelfchnitte daneben. Hugh, es ift mir diefen Abend 
ganz erftaunfich heimelich!" 

„Ich finde dieß ganz natürlih, mein theurer Onkel Ro, und 
geftehe ein, daß ich von diefer weichen Stimmung felbit nicht frei 
bin. Sind wir doch fchon fünf Fahre von dem Lande unjerer Ge- 
burt fern und haben noch obendrein die Hälfte diefer Zeit ak gar 


10 


"nichts von der Heimath g hört. Wir willen, daß Jakob“ — diefer 
war ein freier Neger im Dienfte meines Onfels, eine Reliquie aus -- 
dem alten Hausſklavenſyſtem der Kolonien, die vor dreißig Jahren 
den Namen Jaaf oder Yob geführt haben würde — „nach dem Haufe 
unferes Banquiers gegangen ift, um nach Briefen und Zeitungen 
zu fehen „und dieß zieht natürlich unfere Gedanken nad) der andern 
Seite des Atlantifchen. Ohne Zweifel werden wir ung morgen 
beim Frühftüc, wenn Jeder von ung die betreffenden Deveſchen ge⸗ 
leſen hat, weit behaglicher fühlen.” 

„Sekt ein Glas Wein zuſammen nach guter alter Yorker Sitte, 
Hugh. Als ich und dein Vater noch Knaben waren, flel ed uns 
nie ein, mit dem halben Glas Madeira, das ung zu Theil wurde, 
ung die Lippen anzufeuchten, ohne zu fagen: ‚Deine Gefundheit, 
Mal!‘ ‚Deine Gefundheit, Hodge!““ Ä 

„Bon Herzen gerne, Onfel Ro. Der Brauch ift zwar, ſchon 
ehe ich die Heimath verließ, etwas in Abnahme gekommen, aber 
gleichwohl könnte man ihn faft den amerikanifchen beizählen, da er 
bei ung länger ausgehalten hat, als bei den meiften Leuten.” | 

„Henry!“ er 

Die war der maitre d’hötel meines Onkels, welchen er waͤh⸗ 
rend der ganzen Zeit unferer Abweſenheit bezahlt und verföftigt 
hatte, damit ihm nach feiner Rüdkehr der Sinn für Ordnung und 
Gemächlichkeit, der Geſchmack und die Gefchielichkeit diefes Man- 
nes wieder zu Statten käme. 

„Monfteur." 

Ich zweifle nicht” — mein Onkel ſprach zwar für einen Aus— 
länder trefflich franzoͤſiſch; indeß halte ich es doch für beſſer, bier 
jeine Worte in Ueberfeßung zu geben — „ich zweifle zwar nicht, 
daß dieſes Glas Burgunder gut ift — wenigfteng fieht e8 gut aus 
und fömmt von einem Weinhändler, auf den ich mich verlaffen 

Zuınz; — aber Monſieur Hugh und ik) wollen A VAmericain mit 
einanber Frinfen, und ihr werdet daher {o gefällig \ein, wa anne 


. 11 


* 


Madeira vorzuſetzen, obgleich es ſchon etwas ſpät an der Tageszeit 

iR, um damit anzufangen.“ 

=  „Tres volontiers, Messieurs, — id ſchätze mich glüdfich,“ 
Euch zu Dienften zu fein.” 

Onkel Ro und ich tranfen nun mit einander Madeira; übrigens 
Kann ich zu Gunften feiner Güte nicht viel fan.  - 

„Was ift es doch Köftliches um einen guten Newtoner Pippin- 
apfel!” rief mein Onkel, nachdem er eine Weile fchweigend gegeffen 
hatte. „Hier zu Paris fpricht man fo viel von der poire de beurre; 
aber meiner Anficht nach Läßt fie fich nicht vergleichen mit den New⸗ 
tonern, wie fie zu Satanstoe wachen. Beiläufig bemerkt, ich halte 
diefe Frucht, wie fle zu Newton vorkommt, für viel beffer, ald wenn 
man fie auf der andern Seite des Fluffes fucht!" 

„Es find treffliche Aepfel, Sir, und Euer Obftgarten zu Sa- 
tanstoe ift einer der beiten, die ich kenne. Freilich follte ich nur 
von dem fprechen, was von ihm übrig blieb, denn ich glaube, ein 
Theil Eurer Bäume fteht jegtin einer Borftadt von Dibletonborough. " 

„3a, zum Henker mit diefem Platz! ich wollte, ich hätte nie 
einen Fußbreit von dem alten Fleck weggegeben, obſchon ich durch 
den Verkauf ein hübfches Stück Geld gewann. Harte Thaler kön⸗— 
nen feine Entfchädigung bieten für theure Erinnerungen.” 

„Ein hübſches Stud Geld, mein theurer Sir? Erlaubt mir 
die Frage, wie hoch wurde Satandtoe angefchlagen, als es von 
meinem Großvater auf Euch überging ?" 

„Ziemlich hoch, Hugh, denn e8 war, wie ed auch noch jetzt 
iſt, ein treffliches Gut und im beſten Stand. Du erinnerft dich, 
daß e8 im Ganzen, einfchließlich des naſſen Riedgrundes, volle 
fünfhundert Acres beträgt." . 

„Und diefes Erbe, ging im Jahr 1829 auf Euch über?" 

„Natürlih, in dieſem Jahr ſtarb mein Bater, man \hlge 
den Blag bamals zu dreißigtaufend Dollars, aber das Lndelgn- 

Am Rand zu jener Zeit in Beft-Epeter ſeht niedrig." 


12 


„Und Ihr verfauftet, einfchließlich des Vorfprungs, des Has 
fend und einer guten Strede Riedgrundes zweihundert Acres für den 
mäßigen Preis von hundert und zehntaufend Dollars baaren Gel⸗ 
des. Ein anſtändiger Erlös, Sir.“ 

„Nicht baar Geld; es wurden nur achtzigtauſend baar aufge— 
zählt und dreißigtauſend blieben auf Hypothek ſtehen.“ 

„Und wenn ich die Wahrheit erfuhr, ſo haftet Euch für dieſe 
Hypothek noch immer die ganze Stadt Dibletonborough. Eine der⸗ 
artige Corporation ſollte doch für dreißigtauſend Dollars eine gute 
Sicherheit bieten.“ 

„Gleichwohl im gegenwärtigen Falle nicht. Die Spekulanten, 
welche mir 1835 den Boden abgekauft hatten, ſteckten eine Stadt 
aus, bauten ein Gaſthaus, ein Quai und ein Magazin, worauf 
ſie eine Verſteigerung hielten. Sie verkauften vierhundert Bau— 
plätze, je fünfundzwanzig Fuß lang bei hundert Fuß Tiefe, durch— 
Ichnittlich für zweihundert und fünfzig Dollars, von denen fie ſich Die 
Hälfte oder fünfzigtaufend Dollars baar zahlen und den Reft auf 
Hypothek ftehen ließen. Bald nachher barft die Seifenblaje, und 
der befte Bauplag zu Dibletonborough brachte bei der Auftion Feine 
zwanzig Dollars ein. Hotel und Magazin ftehen allein in ihrer 
Herrlichkeit und werden fo bleiben, big fie einfallen, was wahrjchein- 
lich ftattfinden wird, ehe taufend Sahre umgelaufen find.” 

„And in welchem Zuftand findet ſich der Stapelplag?” 

„Sn einem jehr ſchlimmen. Die Abgränzungen verfehwinden, 
und wer feinen Antheil aufzufinden verfuchen wollte, müßte den 
Werth feines Bauplages daran rüden, um nur die Vermeflungs- 
£often zu beſtreiten.“ 

„Aber Eure Hypothek iſt gut?” 

Ja, in einem Sinne wohl; aber es würde ſagar einen Phila- 
delphia Juriſten in Verlegenheit bringen, das Pfand für verfallen 
zu erklären. Je nun, die Rentabilität diefes Stadtplaßes forgt von 
ſeſbſt für Bevölferung, und um dem Unweſen auf die kürzeſte Weiſe 


13 


zu fleuern, trug ich meinem Agenten auf, mit dem Ankauf der Be⸗ 
rechtigungen zu beginnen. Dieſer theilt mir nun in feinem lebten 
Briefe mit, es fei ihm gelungen, für einen Durchfchnittspreis 
von zehn Dollars die Befigtitel von dreihundert und zehn Baupläßen 
zu erwerben; der Reft wird fich vermuthlich auch noch abforbiren 
laſſen.“ 

„Abſorbiren? Dieß iſt ein Ausdruck, den ich noch nie auf 
Landbefitz anwenden hörte.“ 

„Und gleichwohl tritt er in Amerika oft genug in Wirkſamkeit. 
Man verſteht darunter das bloße Umſchließen eines fremden Stück 
Landes, auf das Niemand Anſpruch erhebt, durch eigenes Beſitzthum. 
Was kann ich thun? Eigenthümer laſſen ſich nicht auffinden, und 
dann gilt meine Hypothek ſtets als ein Rechtstitel. Ein zwanzig- 
jähriger Befig unter Pfandberechtigung iſt fo gut wie eine Allodial- 
Berleihung mit: vollen Bürgſchafts⸗Verträgen, vorausgefebt, daß 
feine minderjährigen Perfonen und unter der Gewalt des Mannes 
Rehenden Frauen dabei in Frage fommen.” 

„Bei Lilatsbufh feid Ihr beffer gefahren" 

„Ab, das war freilich eine runde Verhandlung, bei der keine 
Stolperblöde mitunter Tiefen. Da Lilaksbuſh auf der Inſel Man- 
hattan liegt, fo darf man darauf zählen, daß fih früher oder 
fpäter dort eine Stadt erhebt. Allerdings hat man von diefem 
Grundftüde aus gute drei Stunden vom Rathhaus; aber gleich- 
wohl hat e8 Werth und kann fletS gegen näher gelegenes Land 
umgetaufcht werden, Außerdem ift der Plan von New-Mork be- 
reitö gefertigt und einregiftrirt, fo daß man feinen Grund und 
Boden leicht auffinden kann; und wer weiß, ob die Stadt nicht 
bald Kingsbridge erreichen wird.” 

„Wie ich hörte, habt Ihr eine hübfche Summe für den Bufch 
erlöst, Sir?" 

„Dreihundert fünfundzwanzigtaufend Dollars in Baarem. Bor- 
gen mochte ich nicht, und fo iſt denn jegt der ganze Kaufihitiing, 


14 


in guten fechSprozentigen Papieren der Staaten New⸗NYork und Obio 
angelegt.“ 

„In diefem Theile der Welt würden manche Perfonen eine 
derartige Gapitalifirung nicht für die befte Sicherheit halten." 

„Drum find’8 Einfaltspinfel. Amerika ift im Grunde doch ein 
herrliches Land, Hugh, und man Tann froh und flolz darauf fein, 
ihm anzugehören. Blide man nur auf Zeiten zurüd, deren ich mich 
noch erinnern kann — gab es je eine Nation, die von der ganzen 
übrigen Chriftenheit fo angefpudt wurde — —" 

„Ihr müßt wenigſtens zugeftehen, mein theurer Sir," erwiederte 
ich, vieleicht etwas vorlaut, „daß das Beifpiel andern Völkern wohl 
zur Verlodung gereichen konnte; denn wenn es je eine Nation gab, 
bie fih’8 angelegen fein tieß,. ich ſelbſt anzufpeien, jo läßt fich 
dieß von unfern theuren Landleuten behaupten.” 

„Sie befiten allerdings dieſe garflige Gewohnheit im Ueber⸗ 
maaß, und es wird eher ſchlechter als beſſer, da ſich der Einfluß der 
guten Erziehung und Sitten mit jedem Tag mehr vermindert; doch 
dieß iſt nur ein Flecken an der Sonne — blos eine dunkle Stelle 
in dem Diamanten, den die Reibung auswetzen wird. Ha, in 
Wahrheit, welch' Land, welch' herrliches Land iſt es nicht! Du biſt 
nun jetzt faſt durch alle civilifirten Theile der alten Welt gekommen, 
mein theurer Junge, und du mußt auf deinen Reifen die Ueberzeu— 
“ „gung gewonnen haben, wie fehr das Land deiner Geburt allen üb- 

„pen überlegen if." 

„Ich erinnere mich, daß Ihr ftet fo zu fprechen pflegtet, On- 
"Le Ro; gleichwohl aber habt Shr faft die Hälfte Eures reiferen 

Alters "außerhalb dieſes herrlichen Landes zugebracht. ” 

„Dieß ift blos eine Folge von Zufälligkeiten und Liebhabereien. 
Sch will nicht eben behaupten, daß Amerika vornherein z. B. ein 
Land für einen Zunggefellen ift, denn Diejenigen, welche nicht über 
einen eigenen häuslichen Herd gebieten, finden gar bejchränfte Mit- 
tel für ihre VBergnügungen, Auch behaupte ich nicht, DaB die ame» 


15 


rikaniſche Gefellfhaft im gewöhnlichen Sinn diejes Wortes fo wohl 
geordnet, fo geſchmackreich, fo umgänglich, fo-angenehm oder jo 
belehrend und nutzbringend fei, wie die in faft jedem oh 
Lande meiner Befanntfchaft. Ich bin nie der Anficht gewefer, Fin 
Mann, der Muße hat und nicht von einer liebenden Familie um⸗ 
geben ift, könne fih in der Heimath nur halb fo fehr vergnügen, 
wie in diefem Theile der Welt, und ich nehme daher Feinen An- 
fland, einzuräumen, daß, was Geifteshildung betrifft, die meiften 
Gentlemen in einer großen europätfchen Hauptftadt jeden Tag fo 
viel erleben können, al8 zu New-York, Philadelphia und Balti- 
more in einer ganzen Woche. ” 

„Wie ich bemerke, Sir, ſchließt Ihr Boſton nicht mit ein.” 

„Bon Bofton fpreche ich nicht. Der Geift wird dort hart 
geipornt, und man thut beffer, wenn man ſich mit einem folchen 
Zuftand der Dinge gar nicht befaßt. Hat aber ein Mann oder 
eine Frau von Geſchmack und allgemeiner feiner Bildung freie 
Zeit, fo behaupte ih, daß, ceteris paribus, derartige Perfonen 
fih in Europa weit beſſer vergnügen können, als in Amerika; die 
Philofophen aber, die Philantropen, die National-Delonomen, — 
mit einem Worte die Patrioten können fich wohl in den Elementen 
hoher National-Weberlegenheit, wie man fie in Amerika findet, glüd- 
lich fühlen.” 

„Sch hoffe, diefe Elemente ftehen nicht fo hoch, daß fie nicht 
im Nothfall zu erreichen wären, Onkel Ro?" 

„Dieß hat Keine fonderlichen Schwierigfeiten, mein Zunge. 
Betrachte nur vornweg die Gleichheit der Geſetze; fie hat ihre 
Grundlage in den Prinzipien einer natürlichen Gerechtigkeit und ift 
für das Wohl der Gejellfhaft berechnet — für den Armen fo gut 
wie für den Reichen.” 

„Erlaubt mir die Frage, ob fie den Reichen in gleicher Weife 
zu gut Eommen, wie den Armen?” 

„Ra, ich will zugeben, daß in Diefem befondern Punkte ein 


+ 


4 


16 


Heiner Madel aufzutauchen beginnt. Menſchliche Gebrechlichkeit, 
weiter nichts — wir dürfen unter dem Monde nichts Bolltomme- 

arten. Allerdings iſt man ein wenig zu ſehr geneigt, die 
Geſehe im Intereſſe des großen Haufens zu erlafien, um bei den 
Bahlen Stimmen zu gewinnen, und diefer Umfand bat möglicher- 
weije die Beziehung des Gläubigerd zu dem Schufdner ein wenig 
unficher gemacht; aber wenn man nur die Klugheit walten läßt, 
fo fann man gleihwohl leicht durchkommen. Meinſt du nicht, der 
Irrthum liege auf der richtigeren Seite, wenn flatt des Reichen 
der Arme begünftigt wird, falls je da oder dort eine Berorzugung 
ftattfinden ſoll?“ 

„Die Gerechtigkeit darf eine Begünſtigungen eintreten laſſen, 
jondern muß Alle gleich behandeln. Sch habe ſtets gehört, die 
Tyrannei des großen Haufeng fei die allerichlimmfte von der Welt.” 

„Wenn ſich's wirklich um Tyrannei handelt, jo haft du viel- 
leicht recht, und der Grund hiefür liegt nahe. Ein einziger Ty- 
rann ift bälder zufrieden geftellt, al8 eine Million, und hat außerdem 
noch ein größeres Berantwortlichkeits-Bewußtjein. Wenn 3. 3. 
der Gzaar geneigt wäre, ein Zyrann zu fein — zwar Tann id) 
mir dieß von Nikolaus nicht denken — aber felbft wenn er Luft 
dazu hätte, fo würde er doch Anftand nehmen, unter feiner aus- 

ſchließlichen Berantwortlichkeit Dinge vorzunehmen, wie fie ſich un- 
jere Majoritäten erlauben, ohne auch nur eine Ahnung von der 
Bedrüdung, die fie üben, zu haben oder fi überhaupt darum zu 
fümmern. In diefer Hinficht ift man im Ganzen gar forglos, und 
e8 gejchieht lange nicht genug, um den unermeßlichen Vortheilen 
des Prinzips das Gleichgewicht zu halten.“ 

„sh babe von jehr verftändigen Männern fagen hören, das 
ſchlimmſte Zeichen in unjerem Syftem fei die Thatſache, daß die 
Gerechtigkeit allmählig fo fehr in Verfall geräth. Die Richter 

Saben meift ihren Einfluß verloren, und die Geſchwornen verftehen 
N eBenfogut auf’g Brechen ald aufs Machen der Ser. 


17 


„sh will zugeben, daß auch hierin viel Wahrheit liegt, denn 
in wichtigen Streitfachen wirft du nie darnad fragen hören, 
welche Partei Recht hat, fondern wer in dem —— 
Gericht ſitzt. Doch wie ich immer fage, wir ringen vergebens 
nad Vollkommenheit, und gewiß haben wir Beide allen Grund, 
auf das herrliche Land ftolz zu fein, in welchem der alte Hugh 
Noger, unfer Ahn und Namensbruder, fih vor anderthalbhun- 
dert Jahren feitzufeßen für paſſend hielt.“ 

„And gleihwohl glaube ih, Onkel Ro, es. würde den meiften 
Europäern feltfam vorfommen, wenn fie hörten, daß irgend Je— 
mand ftolz ift auf feine amerifanifche Geburt, felbft wenn, wie wir 
Beide ung rühmen können, Manhattan die Heimath wäre." 

„Du magft recht haben, denn man hat in Ichter-Zeit auf Die 
berechnendfte Weije verfucht, und durch das ewige Vorhalten des 
Umftands, daß gewiffe Staaten die Intereſſen ihrer Schulden nicht 
zahlen konnten, in Mipfredit zu bringen. Doc hierauf ift leicht 
eine Erwiederung zu finden, namentlich für ung Beide, die wir 
New-Morker find. Gewiß gibt e8 Feine Nation in Europa, welche 
aus ihren Schulden Zinfen zahlen würde, wenn e8 den Zinspflich- 
tigen anheinngeftellt und in ihre Macht gegeben wäre, ihrer Ob- 
liegenheit nachzukommen oder nicht.” 

„Sch fehe nicht ein, wie hiedurch die Sache gebeflert werden 
ſoll. Andere Völker erwiedern ung, wir fähen hierin nur die Wir- 
fung unferes Syſtems, während fie ſelbſt zu ehrlich ſeien, um in 
ihrem Welttheile ein ſolches Syſtem aufkommen zu laſſen.“ 

„Ha, dieß iſt lauter Spiegelfechterei. Sie wuuen aus ganz 
andern Gründen fein Syftem, wie das unferige, und erzwingen 
die Bezahlung der Intereſſen für ihre Schulden blog deßhalb, um 
mehr borgen zu fönnen. Unfere fogenannte Zahlungs- Weigerung 
iR übrigens Häglicherweije entftellt worden, und einer ahhiytlidgen 
Lüge iß mit Deweisgründen nichts anzuhaben. Meines Wind 


Sat Fein ameritaniſcher Staat feine Schuld ab arläugnet, bien 
Kavendneft. 
2 





18 
mehrere derfelden zur Verfallszeit außer Stand waren, ihren Ber- 
pflichtungen nachzukommen.“ 

ußer Stand, Onkel Ro?” 

Sa, außer Stant, — dieß ift das richtige Wort. Nehmen 
wir ;. B. Pennfylvanien, welches unter die reichften Gemeinfhaften 
der civilifirten Welt gehört. Sein Eifen und feine Kohlen allein 
fönnten jedes Land wohlhabend machen, und ein Theil feiner ader- 
bauenden Bevölkerung tft fo begütert, wie nur irgend eine, Die ich 
kenne. Gleichwohl verwidelten ſich die Verhältniffe in einer Weiſe, 
daß e8 die Intereſſen feiner Schulden dritthalb Jahre nicht be= 
zahlen konnte. Jetzt gefchieht’8 wieder, und ohne Zweifel wird der 
Staat fo fortfahren. Der plößliche Bankerott jener ungeheuren 
Geldanftalt, der soit disant Banf der Vereinigten Staaten, hatte, 
nachdem letztere aufhörte, in Wirklichkeit eine Bank der Regierung 
zu fein, ein fo eigenthümliches Verhältniß der Girkulation zur Folge, 
daß bei den der Regierung zuftändigen gewöhnlichen Mitteln die 
Zahlung eine Unmöglichkeit wurde — ich weiß, was ich füge, 
und wiederhole daher meine Behauptung, Daß eine wahrhafte Un⸗ 
möglichkeit ftatt fand. Es ift eine befannte Thatſache, daß viele 
an Wohlftand gewöhnte Perfonen ihr Silbergefchirr in die Münze 
tragen mußten, um nur das nöthige Geld zu erhalten, dag fe für 
den Markt brauchten. Einiges darf man wohl auch den Snftitu= 
tionen zur Laft legen, ohne daß man nöthig hätte, die Ehrlichkeit 
eines Volkes in Abrede zu ziehen. Unfere Inftitutionen find in 
eben dem Grade volksthümlich, als die in Frankreich das Gegen- 
theil find, und wer auf dem Platze war — der einheimifche Glaͤu⸗ 
biger mit ſeinen unbezahlten Forderungen — ging ſeine Freunde und 
Bekannte im geſetzgebenden Körper um Hilfe an. So ſtritt man 
ſich eben um das eigene Geld, ehe man welches in's Ausland 
geben ließ.“ 

„ber war dieß auch recht, Sir?“ 
„Gewiß nicht; ganz im Gegentheil — ober & \ay in in 


| 19 ' 

Natur der Sache. Glaubt du, der König von Frankreich würde 
auf feine Civilliſte — oder was immer für ein Minifter auf feinen 
Gehalt verzichten, wenn Umftände das Land nöthigen ſollten, Die 
Zinszahlungen für die Staatsfchuld auf ein paar Jahre einzuftel- 
ten? Sch fiehe dafür, fie würden insgeſammt fich ſelbſt für bevor- 
zugte Gläubiger eiflären und darnad handeln. Ich kenne Feines 
von diefen Ländern, welches nicht in einer oder der andern Form 
ſchon in jeweilige Berlegenheit gekommen wäre, wohl aber weiß 
ich von vielen Fällen, in welchen die Rechnung mit den Schwamm 
gelöfcht wurde. Das Gefchrei gegen ung ift auf nichts Anderes, als 
auf einen politifchen Effekt berechnet.” 

„Gleichwohl möchte ich wünſchen, dag Pennfylvanien 3. 2. 
auf jede Gefahr hin fortbezahlt hätte." 

„Nun ja, Hugh, gegen deinen Wunfch habe ich nichts, aber 
es ift das Wünfchen einer Unmöglichkeit. Außerdem haben wir ' 
Beide als New-Morker mit den Schulden von Pennfylvanien nichts 
zu fchaffen, eben jo wenig als London mit den Schulden von Du— 
blin oder Quebec, Unſere Zinfen haben wir ſtets bezahlt, und 
ſogar, was noch mehr ift, ung im Punkte der Ehrlichkeit noch weit 
ehrenhafter benommen, als ſogar England in feinen Kreditver- 
hältniffen. Als unfere Banken ihre Zahlungen einftellten, ent- 
fedigte fih der Staat feiner Verpflichtungen in Papier, welches 
auf offenem Markte al pari in Geld umgefebt werden Eonnte, wäh- 
rend England feine Noten zu gefeßlichen Zahlungsmitteln machte und 
etwa fünfundzwanzig Sahre lang die Intereſſen feiner Staatsſchuld 
damit tilgte, jelbft nachdem ihr Cours tief gefallen war. Sch habe 
einen Amerikaner gefannt, dem der engliiche Staatsfchag faſt eine 
Million Dollars fchuldete, und der flatt der Intereſſen eine lange 
Reihe von Zahren hindurd Nichts erhielt, als unumfehbares Pa— 
yier, Nein, nein, Hugh, laß dich nicht duch folde Syeal- 
fepkerehen bienden; um ihrer willen braudyen wir und niht um 
cin. Baar ſleter zu achten, als unfere Nachbarn. Die Slasyit 


” 2* 


. 20 
unferer Geſetze ift die Grundlage, deren der Amerikaner ſich rüh- 
men Kann.“ 

„Za, Onkel Ro, wenn darin auf den Reichen eben fo gut 
Bedacht genommen wäre, wie auf den Armen.“ 

„Ih muß freilich geftehen, daß hier ein Schräubchen los ift; 
aber diefer Umſtand kommt nicht jo wefentlich in Betracht.” 

„Und dann das kürzliche Bankerottgeſetz?“ 

„Freilich, auch hier räume ich dir ein, daß dieß eine hölliſche 
Mafregel war. Zu Bezahlung bejonderer Schulden wurde eine 
eigene Geſetzgebung durchgeführt, diefe aber eben fo bald wieder 
verworfen, als fie ihre guten Früchte zeigte. Wir hatten da einen 
dunkleren Fleden in unferer Geſchichte, als die fogenannte Zah- 
lungsweigerung,, objchon ihn fonft ſehr ehrenhafte Leute mit ihrer 
Stimme unterftüßten.“ 

„Habt Ihr Thon von der Poſſe gehört, welche unmittel- 
bar nach unferer Abfahrt zu New⸗NYork auf die Bühne ge= 
bracht wurde?“ 

„Rein, — welde meink du, Hugh? Freilich, die ameri- 
kaniſchen Schaufpiele find far lauter Poſſen.“ 

„Diele war etwas befier, als die gewöhnlichen, und im 
Ganzen ſehr witzig. Es ift das alte Fauſt'ſche Mährchen, in 
welchem ein junger Berjchwender fich mit Leib und Seele an 
den Teufel verkauft. Eines Abends, als er fi) mit einer Bande 
wilder Gejellen luſtig macht, ſtellt fich der Gläubiger ein, und 
da er darauf befteht, den Herrn des Hauſes zu ſprechen, wird 
er vom Diener vorgelaflen. Er tritt in feinem gewöhnlichen 
Koftüm, den Hömern, dem Pferdefuß und, wenn ich wicht irre, 
dem Schwanz auf, aber Tom ift nicht der Mann, der fich durch 
Kleinigkeiten einihücdhtern läßt. Gr beſteht darauf, daß jein Gaſt 
Plaß nehme, fih ein Glas Wein belieben laffe, und Einer aus 
der Gejellichaft fein Lied zu Ende bringe Die Uebrigen aus 
der Geyellichaft hatten zwar keine verbrieften Schulden au Herrn 


21 


Urian; gleichwohl aber waren fie fich unterfchiedlicher Ausftände 
in feinem Buche bewußt, ſo daß fie ſich durchaus nicht behag- 
ih fühlen Fonnten. Da außerdem der Schwefelgeruch etwas 
beläfigend war, fo erhob fih Tom, trat auf feinen Gaft zu 
und erfundigte fi) nach dem befonderen Anliegen, deffen er ge⸗ 
gen den Diener erwähnt habe. „Dieſe Verfchreibung,“ entgegnete 
Satan bedeutungsvol. „Dieſe Verfchreibung? darf ich fragen, 
was es damit für eine Bewandtniß hat? Sie fcheint in Rich- 
tigkeit zu fein.‘ „Iſt dieß nicht Eure Unterfchrift ‚Ich gebe 
es zu.‘ ‚Mit Eurem Blut gezeichnet?‘ ‚Eine Griffe von Euch; 
ih fagte gleich damals, Dinte habe vor Gericht dieſelbe Gül- 
tigkeit. ‚Sie ift fällig; — ſchon fieben Minuten und vierzehn 
Sekunden darüber.“ Wahrhaftig, es ift jo — aber was weiter?‘ 
„Ich fordere Zahlung.“ ‚Unfinn! Niemand denkt heut zu Tage 
an's Zahlen, nicht einmal Pennſylvanien und Maryland.‘ ‚Aber 
ich beftehe darauf.“ ‚Oh, iſt's Euch Ernft damit?‘ Zom zieht 
jest. ein Papier aus feiner Zafche und fügt großartig bei: 
‚wohlan denn, wenn Ihr's fo gar dringend habt, — bier ift 
eine Entbindung kraft des neuen Banferottgefeßes, von Smith 
Thompſon unterzeichnet.‘ Dieß machte den Teufel mit einem Male 
fo verdußt, daß er beſchämt von dannen zog.“ 

Mein Onkel lachte herzlich über dieſe Schnurre; aber flatt 
die Sache zu nehmen, wie ich beabfichtigte, bewog fie ihn blog, 
beſſer als je von feinem Heimathland zu denken. 

„Hugh, du mußt geftehen, daß wir des Witzes nicht haar 
find," rief er, während die heilen Zähren über die Wangen nie— 
derliefen, „wenn wir auch einige ſchuftige Geſetze und etliche ſchur— 
kiſche Verwalter derfelben unter uns haben. Doch da fömmt ja 
Jakob mit feinen Briefen und Zeitungen — wahrhaftig, der Burſche 
bringt ja den größten Korb voll." 

Jakob war ein achtbarer Schwarzer und der Urenkel eines 
alten Negers, Namens Jaaf oder Yaap, der feiner Zeit ui meinen 


22 


nunmehrigen Befibthum zu Ravensneft gelebt hatte. Der Pförtner 
half ihm den fraglichen Korb hereinfchleppen, welcher mit mehreren 
hundert Zeitungen und wohl hundert Briefen angefüllt war. Der 
Anblick führte und die Heimath und Amerika wieder lebhaft in’s 
Gedächtniß, und fo bald wir mit dem Nachtiſch zu Ende waren, 
ftanden wir auf, um die Päcke zu unterfuhen. Indeß gab es fo 
viele Briefe und Padete zu vertheilen, daß die Sortirung unferer 
Poft zu Feiner leichten Aufgabe wurde. 

„Hier find einige Zeitungen, die ich früher nie zu Geficht 
bekam,“ fagte mein Onkel, als er in der Maſſe umbermühlte. 
„Der Hüter des Bodens‘ — diefer muß mit der Oregon= Frage 
zu fchaffen haben. ” 

„Allem Anfcheine nah, Sir. Hier habe ich wenigftens ein 
Dupend Briefe von meiner Schweiter. ” 

„Freilich, deine Schwefter ift noch unvermählt und Tann 
wohl Zeit aufbieten, an ihren Bruder zu denfen; aber die mei- 
nigen haben Männer, und ein einziger Brief im Jahr heißt fchon 
viel. Hier fehe ich übrigens Die Hand meiner lieben alten Mutter; 
dieß ijt auch etwas. Urſula Malbone kann ihr Kind nicht vergeflen. 
Nun, bon soir, Hugh; für Einen Abend hat Jeder von ung ge- 
nug zu thun.“ 

„A revoir, Sir. Morgen früh um zehn Uhr fehen wir uns 
wieder, wir können dann unfere Neuigkeiten vergleichen und dar= 
über plaudern.” 


Zweites Kapitel. 


„Barum jenkt, wie der überreife Halm, 
Der unter Gered’ üpp’ger Laſt ſich neiget, 
Das Haupt Ihr, Mylord?“ 

König Heinrich VI. 


Is fam erft um zwei zu Bette, und es war halb zehn Uhr, 
als ich wieder aufftand. Gegen eilf erfchien Jakob, um mir zu 
melden, daß fein Gebieter fich in der salle à manger befinde und 
das Frühftüd einzunehmen wünfche. Da fih mein Schlafgemach 
im entresol befand, fo eilte ich die Treppe hinauf und faß drei 
Minuten fräter am Zifch meines Onkels. Schon bei meinem Ein- 
treten war mir der ungewöhnliche Ernft auf feinem Geficht aufge- 
fallen, und ich bemerkte jet, dag ein paar Briefe und einige ames 
rifanifche Zeitungen neben ihm lagen. Sein „guten Morgen, 
Hugh,” war fo freundlicdy und liebreich, wie gewöhnlich, aber der 
Ton feiner Stimme fam mir wehmüthig vor. 

„Hoffentlih Doch Feine fchlimmen Neuigkeiten von Haufe, 
Sir?” rief ih in der erften Aufregung meines Gefühls; „Mar- 
tha's letzter Brief ift von ganz neuem Datum; fie jchreibt voll 
Heiterkeit, und ich weiß gewiß, daß fich meine Großmutter noch) 
vor ſechs Wochen vollkommen wohl befand.“ 

„Auch mir ift dieß befannt, Hugh, denn ich befite ein Schrei= 
den von ihrer eigenen theuren Hand. Für eine Frau von achtzig 
erfreut fich meine Mutter einer trefflichen Gefundheit, aber Ar 


24 


wünfcht natürlich ung zu ſehen, und dich insbeſondere. Enkel find 
ſtets die Lieblinge der Großmütter. ” 

„Ich freue mih, Sir, dieß zu hören, denn bei meinem Ein- 
tritt in's Zimmer befürchtete ich wahrhaftig, Ihr hättet unan- 
genehme Nachrichten erhalten.” 

„And ift alle die Kunde, die dir nach jo langem Schweigen 
zugegangen, erfreulich 2" 

„Sch verfihere Euch, daß ich Feine unangenehme Botfchaft 
darunter habe. Patt fchreibt mit der bezauberndften Heiterkeit, 
und ich kann mir denken, daß fie in der Zwifchenzeit zu einer be= 
zaubernden Schönheit herangewachlen ift, obfchon fie meint, man 
halte fie im Allgemeinen für ein ziemlich einfaches Ding. Doc 
dieß ift unmöglich. Ihr wißt ja — als wir das fünfzehnjährige 
Mädchen verließen, konnte man fich von ihr eine künftige große 
Schönheit verfprechen.” 

„Du haft recht, wenn du ſagſt, Martha Littlepage könne nicht 
anders, als fchön fein, denn in einem Alter von fünfzehn läßt ſich 
in Amerika mit Sicherheit vorausfagen, wie fich die reifere Jung— 
frau machen wird. Deine Schwefter will dir eine angenehme Ueber- 
raſchung bereiten. Ich habe von alten Leuten gehört, fie gleiche 
meiner Mutter um Diefelbe Lebenszeit, und der Name Dus Mals 
bone galt vordem in den Wäldern eine Art von Toaſt.“ 

„Ohne Zweifel iſt's fo, wie Ihr denkt, namentlich da ich in 
ihren Briefen einige Anfpielungen auf einen gewiſſen Harıy Beek— 
man finde, durch die ich mih an Mr. Harıy's Stelle jehr ge— 
Ichmeichelt fühlen würde. Kennt Shr vielleicht eine Familie Beek⸗ 
man, Sir?" 

Mein Onkel blidte bei diefer Frage etwas überrafcht auf. 
ALS ächter New-Morfer von Geburt, Gefühl und Verwandtichaft, 
hielt er die alten Namen der Kolonie und des Staates in hohen 
Ehren: auch war ich oft Zeuge geweſen, wie er die neuen An⸗ 
kömmlinge aus meiner Periode verfpottete, die unter ung erjchienen 


25 


feien, um wie Die Rofe zu blühen, und ihre Düfte Durch das Land 
zerftreut hätten. Zwar war es natürlich, daß eine Gemeinſchaft, 
die fih im Laufe eines Jahrhunderts von einer halben Million zu 
zwei ein halb Millionen vermehrt hatte — ein Zuwachs, der eben 
fo gut feinen Grund in der natürlichen Sruchtbarkeit, als in der 
Einwanderung aus benachbarten Staatsverbanden feinen Grund 
hatte — nicht fortwährend eine Trägerin der gleichen Gefühle blieb; 
aber andererfeitd Tag es eben fo jehr in der Natur der Sache, daß 
der ächte New⸗NYorker an der alten Denkweife fefthielt. 

„Ei, Hugh, du follteft doch wiffen, daß dieß ein alter geach- 
teter Name unter uns ift," antwortete mein Onkel mit dem bereits 
erwähnten Blide der Ueberrafhung. Ein Zweig der Beefmang 
oder Bakemans, wie wir fie zu nennen pflegen, hat ſich in der Nähe 
von Satandtoe niedergelaffen, und aller Wahrfcheinlichkeit nach ift 
deine Schwefter bei Gelegenheit ihrer häufigen Befuche auf dem 
Sitze meiner Mutter mit ihnen zufammengetroffen. Die Bekannt: 
ſchaft liegt ganz in der Natur der Sache, und das andere Gefühl, 
auf das du anfpielft, ift ohne Zweifel eben fo natürlich, obfchon 
ich eben nicht jagen kann, daß ich es je eınpfunden hätte." 

„Ich finde, Sir, daß Ihr ſtets auf Euren Betheuerungen be= 
harrt und nie ein Opfer Cupido's geweſen fein wollt." 

„Hugh, jetzt Feine Spielereien. Es find Nachrichten aus der 
Heimath eingelaufen, die mir faft das Herz gebrochen haben." 

Sch blidte meinen Onkel erftaunt und unruhig an, während 
er mit den Händen fein Geficht verhüllte, ald wolle er den Anblid 
diefer gottlofen Welt und all’ ihren Inhalts ausfchließen. Sch be- 
merkte, daß der alte Gentleman in Wirklichkeit ergriffen war, weß- 
halb ich nichts erwiederte, fondern zuwartete, bis es ihm gefiele, 
mir weiter mitzutheilen. 

Meine Ungeduld wurde jedoch bald befriedigt, denn die Hände 
janfen nieder, und ich erblickte abermals das fchöne, aber umwölkte 
Antlig meines Onfels, 


26 


„Darf ich fragen, von welcher Befchaffenheit dieſe Neuigkeiten 
find?" wagte ich nun zu entgegnen. 

„Sa wohl, und du follft Alles erfahren. Es ift überhaupt 
nicht mehr als billig, daß du den ganzen Sachbeftand wohl be- 
greifeft, denn du bift unmittelbar dabei betheiligt, und bei dem Er- 
folg kömmt ein großer Theil deines Vermögens in Frage. Sind 
nicht die Manor-Wirren, wie fie genannt wurden, fehon vor uns 
ferem Abgang aus der Heimath befprochen worden ?” 

„Allerdings, obfchon damals nicht viel davon verlautete, Wenn 
ich mich recht erinnere, fo haben wir unmittelbar vor unferer Ab- 
reife nad) Rußland Einiges darüber in den Zeitungen gelefen, Ihr 
meintet damals, der Vorgang fei eine Schande für den Staat, 
glaubtet aber nicht, daß ein erhebliches Refultat dabei heraus 
fommen werde.” | 

„So meinte id) freilich zu jener Zeit, aber meine Hoffnung 
ift trügerifch gewefen. Es waren einige Gründe vorhanden, welde 
die Lage der Bevölkerung unter dem verftorbenen Patroon unan- 
genehm machten, und ich hielt die Sache für natürlich, obſchon 
nicht zu vechtfertigen; dem leider liegt e8 zu fehr in dem menſch⸗ 
lichen Wefen, ſich dem Unrecht zuzuneigen, namentlich wenn der 
Geldpuntt mit in Frage kommt." 

„Sch verftehe Eure Anfpielung nicht ganz, Sir." 

„Sie ift leicht in's Klare gefebt. Das Befigthun der van 
Renffelaer ift eritlich von großer Ausdehnung; denn das Herren- 
gut, wie es noch immer aus früheren Zeiten her genannt wird, 
erftret fich auf dreizehn Stunden von Oft nach Welt und auf 
zehn Stunden von Nord nad) Süd. Mit einigen unweſentlichen 
Ausnahmen, unter welche die Markungen von drei oder vier 
Städten gehören, Die; beziehungsmeife ſechs bis zwanzig und 
vierzigtaufend Seelen faffen, war früher dieſer große Landftrid 
das Eigenthum eines einzigen Marines, nach deſſen Ableben es 
auf zwei Individuen kam. Die Ländereien find an die Bedin— 


27 


gungen des Pachts geknüpft, welcher bei weitem zum größeren 
Theil ein fogenannter eiferner if." 

„Ich babe natürlich von alle Dem gehört, Sir, und weiß auch 
jelbft Einiges davon. Aber was ift ein eiferner Pacht? — denn 
ich glaube nicht, daß wir etwas der Art zu Ravensneſt haben.” 

„Nein, unfere Pachtverträge find insgefammt auf die Dauer 
von drei Leben geftellt, und die meiften find dann erneuerbar, Unter 
den Grundbefigern von New-Mork find zwei Arten des fogenannten 
eifernen Pachts üblich, und beide verleihen dem Pächter ein nach— 
haltiges Intereſſe. In beiden Fällen ift der Pacht für alle Zeiten 
erblich, und der Gutsherr bezieht eine Sahresrente, für die er das 
Recht der Auspfändung und des Wiedereintritts in fein Eigenthum 
hat. Die eine Art aber gibt dem Pächter das Recht, zu jeder Zeit 
gegen Bezahlung einer ftipulirten Summe die Allodiflfatton zu for- 
dern, während die andere Fein folches VBorrecht verleiht. Erftere 
heißt deBhalb ‚der eiferne Pacht mit der Befugniß der Erwerbung‘, 
indeß der andere nur einfach ‚der eiferne Pacht‘ genannt if.” 

„Und gibt es jet neue Schwierigkeiten in Betreff der Manor- 
Renten?” 

„Ah, es fteht viel fehlimmer. Das Contagium hat fo weit 
um ſich gegriffen, daß das Land fich allen Ernſtes von den ſchwer— 
ften Uebeln bedroht fieht, welche die fchlimmiften Feinde Amerika's als 
die Früchte feiner demokratiſchen Snftitutionen prophezeiht haben. 
Ih fürchte, Hugh, daß ich nicht länger New-Zork als eine Aus 
nahme von feiner fehlimmen Nachbarjchaft betrachten, oder dag 
Land felbft ein ‚glorreiches Land‘ nennen kann.“ 

„Die Klingt fo ernft, Sir, daß ich faſt Eure Worte bezwei- 
fein möchte, wenn fie nicht durch den Ausdrud Eures Gefichtes 
betätigt würden.” 

„Leider find fie nur zu wahr. - Dunning hat mir einen langen 
Bericht zugehen laſſen, der mit der Genauigkeit eines Rechtöge- 
lehrten abgefaßt it; auch jchiht er mir einige Zeitungen, weldge 


hp 
. 


28 


in ihren Artikeln unverholen auf eine neue Theilung des Eigen- 
thums, auf ein agrarifches Geſetz abheben." 

„Aber hoffentlich fteht Doch nichts Derartiges im Ernfte von 
den Amerikanern zu erwarten, mein theurer Onkel, da fie doch 
fonft fo große Freunde der Ordnung, Des Geſetzes und des Eigen- 
thums find?” 

„Sn dem lebteren Punkte mag eben das Geheimniß der gan- 
zen Bewegung liegen. Die Liebe zum Eigenthum könnte wohl jo 
ftar& werden, um fie zu vielen Handlungen zu bewegen, die fle 
unterlaffen follten. Ich bejorge allerdings nicht, daß in New- 
York unmittelbare Verſuche in’S Werk gefebt werden, den Grund 
und Boden zu vertheilen, und chen fo wenig glaube ich an die 
offene Einführung eines ausgefprochenen agrarifchen Statuts; 
meine Hauptbefürcdhtung befteht jedoch darin, dag ſich unmittel- 
bare und allmählige Gefeßesneuerungen geltend machen Eönnten, 
welche unter der trügerifchen Maske der Nechtögleichheit auf- 
treten und die Grundſätze des Volkes untergraben, ehe es fih - 
der Gefaht bewußt wird. Damit du übrigens nicht nur mich 
verfteheft, jondern auch einen Begriff von den Thatſachen er« 
hältft, die für Deine eigene Habe von größter Wichtigkeit find, 
will ich dir zuerft mittheilen, was gefchehen ift, und dann an« 
fnüpfen, was ich von den Folgen beforge. Die erfte Wirre — 
oder vielmehr die erfte neuere Wirre entipann fi) aus dem.Tode 
des lebten Patroon. Sch fpreche abfichtlich von einer neueren, 
weil Dunning mir jchreibt, unter der Verwaltung des John 
Say fei auf dem Manor der Livingstong ein Verſuch der Ren- 
ten-Zahlungs-Berweigerung gemacht, von dem Gouverneur aber 
augenblidlich wieder unterdrüdt worden.” | 

„Es läßt fich natürlich denken, daß die Schurferei nicht auf- 
fommen Fonnte, fo lange die wollziehende Gewalt einem ſolchen 
Manne anvertraut war. Das Zeitalter derartiger Politiker ſcheint 
übrigens unter ung ein Ende genommen zu haben.” 


29 


„Die Sache kam allerdings nicht auf. Gouverneur Jay begeg⸗ 
nete der Anmaßung, wie ed von feiner bekannten Perfönlichkeit zu 
erwarten ftand: die Angelegenheit verraufchte und Fam beinahe in 
Vergeſſenheit. Es ift bemerfenswerth, daß Er das Uebel 
bannte; aber freilich, wir haben Feine Sohn Jay's mehr. Um in 
meiner Erzählung fortzufahren: als der letzte Batroon flarb, waren 
ungefähr zweimalhunderttaufend Dollars Renten in Rüdftand, über 
die er in feinem Teftament eine befondere Verfügung traf, indem 
er das Geld zu einem gewiſſen Zwed anzulegen verordnete, Der 
Berjuch, die Rüdftände einzutreiben, gab den erften Anlaß zur Un- 
zufriedenheit. Diejenigen, welche fo lange fehuldig geblieben waren, 
wollten nun gar nicht mehr zahlen. Sie fahen ſich nad) Mitteln 
um, ihrer gerechten Verpflichtungen ledig zu werden, und da fie 
wohl wußten, wie in Amerika die Macht des großen Haufens ſo⸗ 
gar über dem Rechte fteht, jo vereinigten fie fich mit Andern, welche 
ſich gleichfalls ihre Zahlungspflichtigkeit gerne vom Hals gefchafft 
hätten, zum Widerſtand. Aus diefem Trutzbündniß erwuchfen die 
fogenannten „Manor-Wirren". Haufen von Männern verkleideten 
fih als Indianer, warfen Kalicohemden über ihren gewöhnlichen 
Anzug, maskirten das Gefiht mit Kalicolarven und traten den 
Bailliffen gewaltjam entgegen, jo daß e8 diefen unmöglich wurde, 
die Renten einzutreiben. Die Aufftändifchen waren meift mit Büch— 
fen bewaffnet, und man fand es zuletzt nöthig, eine flarfe Milizen- 
abteilung ausrüden zu lafien, damit fie die Beamten des Ge- 
meinwefens in Ausübung ihrer Pflichten ſchütze.“ 

„Alles dieß fiel vor, noch ehe wir unfere Reife nach dem Morgen- 
Ind antraten. Ich hatte übrigens geglaubt, man fei inzwifchen mit 
diefen Antirentern, wie fie fich nannten, fertig geworden?” 

„Den Anſchein hatte e8 wohl; aber derfelbe Gouverneur, wel- 
ber die Miliz hatte ausrüden laffen, brachte die „Befchwerden‘ in 
einer Weiſe vor die Gefebgebung, als ob fich’S dabei wirklich um 
Verlegung bürgerlicher Rechte handle, während doch in Wayıheit 


30 


die Grundbefiger, oder vielmehr im gegenwärtigen Falle die Renſ⸗ 
jelaers, auf deren Eigentbum die Unruhen flattfanvden, die ge- 
kränkten Partien waren. Diejer falſche Schritt hat unberechenbaren 
Schaden geftiftet, wenn er nicht etwa gar jo weit führt, die Infti- 
tutionen des Staates aus einander zu reißen.” 

„Es ift außerordentlich, daß fich bei folchen Ereigniffen irgend 
ein Menfch über feine Pflicht täufchen fanı. Warum fanden die 
Pächter eine ſolche Fürfprache, während man die gefeßlichen Nechte 
der Grundbefißer außer Acht ließ?" 

„Sch kann mir dieß nur aus dem Umftande erklären, daß ſich 
die mißvergnügten Pächter vielleicht auf zweitaufend beliefen. Trotz 
al’ des Geſchreies über Ariftofratie, Lehenweſen und Adel ift den 
Renffelaers nach dem Buchftaben des Geſetzes auch nicht ein Zitel- 
hen weiter politifche Gewalt oder politisches Recht verliehen, als 
den Kutjchern und Lafaien derfelben, jofern diefe Weiße find; 
Dagegen finden fie in der Wirklichkeit gar oft einen viel geringeren 
Rechtsſchutz!“ 

„Ihr glaubt alſo, Sir, die Sache habe deßhalb einen ſolchen 
Aufſchwung gewonnen, weil ſo viele Stimmen dabei betheiligt 
waren?“ 

„Der Grund liegt in nichts Anderem, und der Erfolg ſtützt 
ſich blos auf eine Verletzung der Grundſätze, die man uns ſo lange 
als heilig zu achten gelehrt hat, daß nur der übermächtige und ver— 
derbliche Einfluß der Politik fich eines Angriffs auf fie erdreiften 
durfte. Wäre bei jeder Farm Ein Grundher und Ein Pächter 
betheiligt, jo würden die Beſchwerden des Lebteren mit Gleich- 
gültigkeit behandelt werden, Tämen aber auf Einen Pächter zwei 
Landbefiger, fo dürfte fich wohl eine allgemeine Entrüflung über 
die Unverfchämtheit des Querulanten fund geben.” 

„Weber welche befondere Punkte führen die Pächter Befchwerde ?" 

„Du meinft vermuthlich die Pächter auf den Renffelaer’ishen 
Gütern? Je nun, fie beklagen fich über alle erdenklichen Stipu⸗ 


31 


lationen in ihren Verträgen, obſchon ihr Hauptleidwefen in der 
Thatfache liegt, daB anderer Leute Land nicht ihnen gehört. Der 
Batroon duldet auf vielen feiner Barmen — auf denen nämlich, 
welche im Laufe der lebten hundert Jahre verliehen wurden — 
feinen Verkauf anders, als gegen vierteljährige Bürgfchaft.” 

„Nun, und was weiter? Ein Berkauf, der gegen viertel- 
jährige Bürgfchaft geftattet wird, ift fo gut, wie jeder andere 
ehrliche Handel.” 

„Sn Wahrheit beffer, als die meiften andern, wenn man die 
Sache näher zergliedert; denn es ift ein gewichtiger Grund vor- 
handen, warum eine folche Klauſel ſtets jeden einzigen Pacht be- 
gleiten follte. Darf man wohl annehmen, ein Grundherr fei bei 
dem Charakter und Treiben feiner Pächter nicht intereffirt? Er ift 
im Gegentheil recht fehr dabei betheiligt, und Fein verfländiger 
Mann follte feine Grundftüde verleihen, ohne ſich bei Abtretung 
des Pachtguts eine Art Kontrole vorzubehalten. Nun gibt e8 aber 
nur zwei Wege, dieß zu thun: entweder muß der Grundbefiger den 
Pächter durch fein Intereſſe binden, oder fich ein willfürliches, un— 
mittelbares Veto vorbehalten.” ' 

„Das lebtere würde in Amerika zu einem fchönen Gefchrei 
über Zyrannei und Feudalismus Anlaß geben!“ 

„Die Amerikaner fchreien gar gerne über dergleichen Gegen 
fände, und die meiften machen den Lärm eben mit, ohne feine 
Bedeutung zu verftehen. Nehmen wir zwei Männer, die einen 
Bertrag mit einander fchließen: ‘Derjenige, welcher vor Eingehung 
defielben alle Anrechte an den Grund und Boden befibt, kann fi) 
fein Eigenthumsrecht vorbehalten und unter gewifjen Befchränfun- 
gen die Nupnießung an den Andern abtreten; es iſt deßhalb nicht 
mehr wie billig, als daß ihm feine Anfprüche beim Uebergang der 
Farm an einen Dritten belaffen bleiben. Bei diefem ewigen Gefchrei 
wird ſtets vergeflen, daß die Pächter, welche vor Eingehung ihres 
Bertragsverhältnifies gar Fein Anrecht an die Ländereien hatten, 


32 


gerade durch das Berhältnig, über welches fie fich befchweren, zu 
einem Eigenthum gelangt find. Mit Tilgung des Vertrags find 
alle ihre Rechte erlofchen. Auf welche Grundlage hin Tann num 
ein ehrlicher Mann behaupten, er befite Anfprüche außer denen, 
welche ihm durch fein Pachtverhältniß zugetheilt find? Und felbft 
angenommen, daß die Bedingungen befchwerend find, — welche 
Befugniß ſteht den Gouverneuren und Geſetzgebern zu, fich bei 
ſolchen Zuftänden als Schiedsrichter aufzuwerfen? Ich würde noch 
obendrein jede derartige Einwendung in Folge des allgemein aner- 
fannten Grundfaßes zurüdweijen, daß ein Schiedsgericht aus un⸗ 
parteiiſchen Männern beftehen müffe, und diefes Prädikat kommt 
weder den Gouverneuren noch den Angehörigen des gejeßgebenden 
Körpers zu. Sie find — möchte ich fagen — ohne Ausnahme 
politifche Perfonen oder Parteimänner, und wenn fih’8 um eine 
Abftimmung handelt, jo mürde ich ihnen wahrhaftig fein Ver⸗ 
trauen ſchenken. Eben fo gern wollte ich die Entfcheidung meiner 
Angelegenheiten einem beftochenen Gericht überlaffen.“ 

„Es wundert mich, daß der wirklich unpartetifche und ehren» 
hafte Theil der Gemeinfchaft fich nicht mit aller Macht erhebt, um 
dieſem Unwefen ein Ende zu machen; man follte e8 mit Stumpf 
und Stiel ausrotten.” 

„Die ift eben die ſchwache Seite unferes Syſtems, welches 
neben hundert fhönen Zügen diefen Grundfehler befikt. Die Ge⸗ 
jeßgebung fowohl als die Verwaltung beruht auf der Annahme, 
daß jede Corporation Ehrenhaftigkeit und Einficht genug befige, 
um gute Gefeße zu geben und für ihre gute Verwaltung zu 
forgen. Es ift übrigens eine traurige Erfahrung, dag die Recht⸗ 
Ichaffenen fi) gewöhnlich leidend verhalten, bis der Mißbrauch un⸗ 
erträglich wird, während fich der, ränkefüchtige Schuft gemeiniglich 
am rührigften benimmt. Allerdings gibt e8 auch Menfchenfreunde, 
die nicht fchlummern, aber ihre Anzahl ift jo Elein, daß fie in dem 
angebeuren Ganzen nur wenig, und gegen den Eifer einer feilen - 


33 


Oppofition gar nichts auszurichten vermögen. Nein, nein, — in 
polttifhen Sachen ift von dem Wirken der Rechtfchaffenheit nicht 
viel zu hoffen, während man dagegen von dem Walten fchlimmer 
Leidenichaften gar viel zu beforgen hat.” 

„Ihr betrachtet das menfchliche Gefchlecht aus keinem gar gün⸗ 
ſtigen Standpunkt, Sir.” 

„Ich ſpreche von der Welt, wie ich fie in den beiden Hemi- 
fphären, oder in den vier Hemifphären gefunden habe, um mich 
eines Ausdrucks meines Nachbars, des Friedensrichters Squire New⸗ 
come, zu bedienen. Die Art, wie ſich Amerika darftellt, zeigt im 
beften Fall ein durchichnittliches Gemenge von den Eigenfhaften 
der ganzen Gemeinjchaft, etwas zu niedrig angefchlagen durch die 
Thatſache, daß Männer von wirflihem Verdienft einen Widermwillen 
haben vor einem Zuſtand der Dinge, der für ihren Geſchmack nichts 
beſonders Verlodendes bietet. Was nun die vierteljährige Bürg- 
haft betrifft, jo jehe ich darin Feine größere Bedrüdung, als im 
Bezahlen der Bachtrente felbft, und wenn der Grundbeſitzer auf 
diefe Weiſe eine Veräußerung feiner Rändereien erſchweren kann, fo 
fteht er in einem Verhaltniß, welches ihn befähigt, einen Vergleich 
zu erzwingen. Der Bächter ift durchaus nicht genöthigt, zu ver> 
faufen, und macht, wenn er einen guten Erfagmann ftellen kann, 
demgemäß feine Bedingungen. If übrigens der Erfabmann fchlecht, 
jo muß der urfprüngliche Contrahent mit feinem Beutel einftehen.” 

„Biele unjerer Landsleute würden e8 für ehr ariſtokratiſch hal⸗ 
ten,” rief ich lachend, „daß einem Grundbefiger die Befugniß der 
Erklärung zuftehen ſoll: „Du darf mir dieſen aber jenen Stell- 
vertreter nicht flatt Deiner aufbürden. en 5 

„Es ift nicht ariftofratifcher, ald wenn ai den Pächter be⸗ 
rechtigen wollte, dem Eigenthümer ſeines Landes zu ſagen: „Du 
mußt dieſen oder jenen Stellvertreter von meinen Händen anneb- 
men.“ Die Bedingung der vierteljährigen Bürgſchaft gibt jedem 
Theil eine Handhabe in der Sache, und das Ergebnig ii Arts an 


Ravensneft: 3 


34 


volltommen billiger Vergleich gewefen, da beim Abfchluß des Han- 
dels nicht leicht ein fo wichtiger Punkt überfehen werden Tann. 
Wer etwas von folchen Dingen verfieht, weiß auch, daß der- 
gleichen Anforderungen ſtets bei der Beflimmung der Rente Be- 
rüdfichtigung finden. Bon Lehensverhältniß kann ohnehin Teine 
Rede fein, fo lang der Pächter fein Freizligigkeitsrecht hat, und 
mit der vertragsmäßigen vierteljährigen Bürgfchaftsleiftung findet 
er fich gegen alle feine früheren Verpflichtungen ab. Es handelt 
fih dann nur noch um die Frage, ob der Contrahent gehalten fet, 
den bedungenen Preis, flr welchen er fich dieſen Vortheil erfauft, 
zu zahlen.” 

„Sch verfiehe Euch, Sir. Es ift leicht, der Sache den rich- 
tigen Standpunkt abzugereinnen, wenn man nur auf die urjprüng= 
lichen Verhältniffe zurücigeht, die ihr eine ganz andere Farbe ver- 
leihen. Der Pächter hat Fein Recht, bis fein Vertrag abgefchloffen 
if, und kann auch nicht weiter anfprechen, als ihm kraft diefes 
Bertrags verliehen wird.” 

„Da erhebt man nun ein Gefchrei über Beudalprivilegien, weil 
einige von den Pächtern des Renffelaers fo und fo viele Tage mit 
ihren Gefpannen oder Stellvertretern für den Befiter des Bodens 
arbeiten, ja fogar weil fle jährlich ein paar fette Hühner abliefern 
müffen! Wir Haben genug von Amerika gejehen, Hugh, um zu 
wiflen, daß die meiften Landwirthe von Herzen gerne lieber in Hüh- 
nern und Arbeit, als in Geld ihre Schulden abtragen würden, und 
eben durch diefen Umftand wird diefes Gefchrei nur um fo ſchänd⸗ 
liher. Ich kann wahrhaftig ebenfowenig von Feudalweien in 
dem Umftande fehen, wenn ein Pächter feinen Grundherrn in 
dieſer Weife bezahlt, als wenn man mit einem Schlächter akkor⸗ 
dirt, er habe für eine Reihe Jahre fo und fo viel Fleifch zu lie— 
fern, oder wenn ein Poftpächter fich anheiſchig macht, für eine be= 
fimmte Zeit eine vierfpännige Kutfche im Dienfte der Poſt fahren 
zu laſſen. Niemand hat etwas gegen die Rente in Waizen ein- 


35 


"zuwenden — warum jeßt bei den Hühnern anfangen? Liegt der 
Grund wohl darin, daß unfere republifantfchen Pächter felbft 
jo ariftofratifch geworden find, daß fie fih nicht für Hühner- 
züchter anfehen laſſen wollen? Dieß wäre andererfeitd eine ari= 
ftofratifche Denkweife. Aber wenn der fih fo vornehm dunkende 
Bauer es für fo plebejifch hält, Geflügel abzugeben, fo iſt e8 doch 
eben fo plebejifch, e8 in Empfang zu nehmen; muß daher der Päch⸗ 
ter eine Perſon auffuchen, welche fich der Herabwürdigung unter⸗ 
wirft, ein paar fette Hühner zu überbringen, fo if der Grundbes 
fiber gleichfalls in die Lage verfebt, für ein Individuum zu forgen, 
das fih dem Schimpf unterzieht, fie anzunehmen und in dem 
Speifefchrant unterzubringen. Es kommt mir vor, daß die Be- 
fchwerniß auf beiden Seiten gleich ſei.“ 

„Denn ich mich übrigens recht erinnere, Onkel Ro, jo wurden 
diefe Kleinigkeiten ftetS in Geld umgewandelt?" 

„Dieß muß immer der Willkühr des Pächters überlaffen bleiben, 
wenn nicht etwa die Verträge eine Verfallgzeit flipulicen, was übris 
gend meines Wiſſens nirgends gefchehen iſt; denn wer verfäumt, 
zur beftimmten Zeit in natura Zahlung zu leiften, muß fich ſpäter 
von ſelbſt die Umwandlung in Geld gefallen laſſen. Das Auffal- 
Iendfte in der ganzen Gefchichte ift jedoch, Daß es unter und Leute 
gibt, welche den Sat aufftellen, dergleichen Pachtgüter flehen im 
Widerſpruch mit unfern Snftitutionen, während fie Doch einen Theil 
derfelben bilden und in ihnen eine Gewährleiftung finden. Wären 
nicht eben dieſe Snflitutionen vorhanden, denen ein folches Verhält⸗ 
niß angeblich widerfprechen foll, obſchon es in denfelben begründet 
iR, jo würde e8 zwifchen Grundherrn und Pächtern bald zu bittern 
Händeln kommen.” 

„Wie wollt Ihr beweifen, daß das Pachtverhältniß einen Theil 
unferer Snftitutionen bilde, Sir?" 

„Einfach durch den Umftand, dag fie den feierlichiten Erklä— 
rungen gemäß auf ben Schuß des Eigenthums abzielen, Mon 


ar 


36 


macht fo viel Wefens davon, daß fämmtliche Staaten-Eonftitutio- 
nen den Grundſatz enthalten, kein Eigenthum fei anders, als auf 
dem gebührenden Wege des Geſetzes antaftbar, und wenn man eine 
derfelben liest, fo jollte man glauben, die Habe eines Bürgers fei 
eben jo heilig gehalten, wie feine Perſon. Nun haben einige diefer 
Pachtländereien fchon beftanden, ald der Staat feine Snftitutio- 
nen ſchuf, und hiemit noch nicht zufrieden, Bat New Morf ge= 
meinfchaftlih mit den übrigen Staaten in der Verfaffung der 
Unton die feierliche Erklärung niedergelegt, diefe Rechtöverhältniffe 
nie zu ftören. Gleichwohl laffen ſich Menfchen finden, welche mit 
fühner Stirne behaupten, ein Sachbeftand, der eigentlich in unfern 
Inftitutionen liegt, ftehe mit denfelben im Widerſpruch.“ 

„Bielleicht haben Ste dabei den Geift und die Tendenz im 
Auge, Sir." 

„Dieß könnte wenigftend einigen Sinn haben, obſchon lange 
nicht fo viel, als die Lärmmacher meinen. Der Geift von Staats- 
Einrichtungen liegt in den gefeglichen Zweden derjelben, und 
es würde ſchwer fallen, zu beweifen, daß ein Pachtſyſtem unter 
was immer für Zahlungsbedingungen im Widerfpruh mit In— 
ftitutionen flehe, welche die vollen Rechte des Bigenthums aner- 
fennen. Die Verbindlichkeit zur Zahlung einer Rente hat Feine 
größere politifche Abhängigkeit zur Folge, als der Eredit, den 
man im nächften beften Kaufladen genießt; ja, bei Verträgen, 
wie Die der Nenffelaers find, iſt man fogar noch ungebundener, 
da ein Buchfchuldner jeden Augenblid gerichtlich belangt werden 
ann, der Pächter aber genau weiß, wann er zu gahlen hat. Ge— 
rade hierin liegt die große Abgeſchmacktheit Derer, „welche das 
Pachtſyſtem als ariftofratiich verfchreien, denn fie ſehen nicht ein, 
daß die gedachten Verträge den Pächter weit mehr begünftigen, als 
jeden andern.” 

„Ich muß Euch bitten, Sir, mir dieß näher zu erklären, da 
205 zu unbewandert in ber Sach⸗ bin, um fie zu verftehen. 


37 


„Je nun, die Pachtbriefe Tauten auf ewige Dauer, und ber 
Pächter kann nicht vertrieben werden. Bet fonft gleichen Berhält- 
nifjen iſts über die ganze Welt nur um fo befler, je länger die 
Pachtzeit währt. Seben wir den Fall, von zwei Farmen ſei die 
eine auf fünf Jahre, die andere auf immer in Pacht gegeben. Wel⸗ 
her Pächter ift nun unabhängiger von dem politifchen Einfluffe 
feined Grundherrn, auch abgejehen davon, daß e8 aus verfchiedenen 
Urfachen in Amerika unmöglich ift, bei öffentlichen Verhandlungen 
in diefer Weife die Stimmen zu beherrfchen? Sicherlich derjenige, 
der einen Vertrag auf ewige Zeiten hat. Er ift eben fo un- 
abhängig von feinem Grundherrn, wie diefer von ihm, mit der 
einzigen Ausnahme der Rentenpflichtigkeit, und in diefer ergeht 
es ihm gerade, wie jedem andern Schuldner — wie etwa dem 
Armen, der für eine Reihe von Fahren bei demfelben Handele- 
mann auf Borg holt. Hinfichtlich der Benützung des Grund 
und Bodens, die natürlich dem Pächter wünfchenswerth fein muß, 
erwächst Zebterem augenfällig durch die lange Dauer feines Ver⸗ 
trags eine ungebundene Stellung, während ein Anderer, der blog 
auf fünf Sahre gepachtet hat, nach Ablauf diefer Zeit fortgewiefen 
werden kann. Was nun eine etwaige Veräußerung des Eigenthums 
betrifft, fo findet hier nicht der mindefte Unterfchied ſtatt, ſinte— 
mal der Grundbefiker in dem einen Fall mie in dem andern fei- 
nen Willen hat. Magerfih von dem, was ihm gehört, 
niht trennen, fo darf unter was immer für einem 
Syſtem fein Ehrenmann weder mittelbar noch unmit- 
telbar ihn Dazu zwingen — und ed wird überhaupt 
auch feinem Ehrenmanne einfallen, es zu wollen.” 

Sch habe einige von den Worten meines Onkels Ro in ge= 
ſperrter Schrift abdruden laffen, da der Geift der Zeiten, nicht 
der der Inſtitutionen dergleichen Fingerzeige nöthig macht. 
Fahren wir übrigens in unſerm Gefpräd fort. 

„Sch verfiehe Euch jetzt, Sir, obſchon ich die Unteriheidung, 


38 


die Ihr zwifchen Geift Der Inſtitutionen und Tendenzen 
zieht, nicht ganz begreife.“ 

„sch Tann mich Leicht deutlicher faſſen. Der Geift der Inftitu- 
tionen befteht in ihrer Abficht, die Tendenz aber in der natür- 
lichen Richtung, welche fie unter dem Antrieb menfchlicher Be- 
weggründe einfchlägt, und dieſe find ſtets fchlecht und verderblich. 
Der Geift bezieht fi auf das, was gefchehen follte, die Tendenz 
auf das, was ift oder fich bildet. Der Geift aller politifchen Infti- 
tutionen foll den natürlichen Trieben der Menfchen einen Zügel anle- 
gen und fie in den gebührenden Schranken halten, während die Ten- 
denzen den Leidenfchaften fröhnen und gar oft ganz in Widerſpruch 
mit dem Geifte treten. Daß das Gefchrei gegen das amerikanifche 
Pachtverhältniß eine Folge der Tendenz unferer Inftitutionen ift, 
dürfte leider zu wahr fein, dagegen ziehe ich ſchnurſtracks in Abrede, 
daß e8 irgendwie im Einklang mit ihrem Geifte ftehe." 

„Ihr werdet übrigens Doch zugeben, daß in allen flaatlichen 
Einrichtungen ein Geift liegt, welchen man ftet8 achten muß, da⸗ 
mit die Harmonie erhalten werde?" 

„Ohne Frage. Das erfte Haupterforderniß eines politifchen 
Syſtems befteht in Beifchaffung der Mittel, fich felbft zu ſchuͤtzen, 
das zweite in Zügelung der Tendenzen, mo Gerechtigkeit, Weis- 
heit, Treue und Glauben dieß heifchen. Bei einer despotifchen 
Staatsform zum Beifpiel liegt im Geift des Syſtems die Feft- 
haltung des Grundſatzes, daß ein Einziger, der über den niedri- 
geren Sorgen und Verſuchungen feines Volkes fteht, um des Herr- 
fcheramtes willen mit einer nur ihm eigenen Würde umgeben ift, 
und in feinem hohen Rang eine unparteiifche Stellung einnimmt, 
am eheften die Regierung in einer Weife zu leiten vermag, welche 
den wahren Sntereffen der Unterthanen entfpriht. Sn Rußland 
und Preußen wird ebenfogut die Theorie feftgehalten, daß die 
Monarchen nicht für fih, fondern zum Wohl der Untertbanen . 
derrjiben, als man bei uns der Ueberzeugung lebt, daß der Prä- 


39 


fident der Vereinigten Staaten eine ähnliche Stellung einnehme. 
Wir alle wiflen, daß der Despotismus eine Tendenz zu Miß— 
bräuchen von ganz eigener Art hat, und, ein Gleiches läßt fi 
von denen einer Republik, oder vielmehr einer demofratifchen Re- 
publik behaupten; denn der Ausdrud Republik befagt an und für 
fih nur wenig, fintemalen e8 Republifen gab, die Könige hatten. 
Natürlich haben die Mißbräuche, zu denen .die Demokratie führt, 
wieder ihren eigenen Charakter. Mit Einem Worte, wo immer der 
Menſch die Hand anlegt, ift der Mißbrauch nicht fern zu halten, 
und vielleicht nirgends weniger, als wo fih8 um Ausübung poli- 
tifcher Gewalt handelt. Diefe Wahrheit fehen wir fchon im ge- 
I menfchlichen Treiben, und der Mißbrauch dehnt fich 
auf Alles aus, ja fogar auf die Religion. Im Grunde liegt auch 
weniger in dem ausgefprochenen Eharakter was immer für einer 
Infitution ; die Hauptfache befteht jederzeit Darin, daß fie im Stande 
jet, ihreh Zendenzen da Halt zu gebieten, wo Recht und Billigkeit 
dieß fordert. Bisher find allerdings erftaunlich wenig bedeut- 
fame Mißbräuche aus unfern Inftitutionen hervorgegangen; diefe 
Angelsgenheit aber gewinnt ein fürchterlich ernftes Geficht — denn 
ich habe dir noch nicht die Hälfte mitgetheilt, Hugh.” 

„Wirklich, Sir? So bitte ich Euch, mir zuzutrauen, daß ich 
im- Stande bin, auch das Schlimmfte zu hören." 

„Der Anti-Rentismus hat allerdings auf dem Beſitzthum der 
Renflellaers feinen Anfang genommen; man begann mit Befchwer- 
den über Feudal-Abgaben, Frohntage und Zinshühner und rückte 
mit dem maßlos ariftofratifchen Hochmuth heraus, ein Manor» 
pächter fei als freier Mann ein fo bevorzugtes Wefen, daß er ee 
unter feiner Würde achten müfle, das zu thun, was jeden Tag von 
den Poft-Akfordanten, Lieferanten und fogar von ihnen ſelbſt ge- 
ſchieht, wenn fie einen Vertrag über Beifchaffung von Kartoffeln, 
Zwiebeln, Truthühnern und Schweinefleifch fchließen. Und doch 
find fie feierlich mit ihren Grundherrn über die Entriätung, Ver 


40 


fetten Hühner und über gewiffe Arbeitsleiftungen einig geworden. 
Es blieb übrigens nicht allein bei dem Widerfland gegen die An= 
fprüche der Renifefaers; denn da man fand, das Keudalfyften ver- 
breite fich viel weiter, jo find auch in andern Theilen des Staates 
fogenannte ‚Wirren‘ ausgebrochen. Dem Erecutionsverfahren wurde 
Widerſtand entgegengejept, und auf dem Gut Livingston, in Har⸗ 
denberg — Eurz in acht oder zehn Counties des Staates haben 
die Pächter Zahlung verweigert. Selbft unter den bona fide 
Käufern des holländifchen Strichs ift ein gleicher Widerftand or⸗ 
ganifirt und eine Art Heeresmacht auf die Beine gebracht worden, 
die fich überall bewaffnet und verkleidet einftellt, wo die Gerichte 
eine Hilfsvollſtreckung in Anwendung bringen wollen. Mehrere 
Morde haben flaatgefunden und wir ſehen aller Wahrſcheinlichkeit 
nach einem Bürgerkrieg entgegen.“ 

„Im Namen der Gerechtigkeit, was hat die Regierung des 
Staates dieſe ganze Zeit über gethan?“ 

„Meinem geringen Urtheil nach ſehr viel, was ſie pätte unter= 
laſſen, und nur ſehr wenig, was ſie hätte zur Ausführung bringen 
ſollen. Du kennſt unſere politiſche Stellung, Hugh; du weißt, 
welche bedeutſame Rolle New-York in allen Nationalfragen ſpielt, 
und wie gebunden es in ſeiner Stimmgebung iſt — unter einer 
halben Million von Wählern eine Majorität von nicht einmal 
zehntauſend. Unter ſolchen Verhältniſſen nun gewinnt der grund— 
ſatzloſeſte Theil der Wahlmänner eine ungebührliche Bedeutſamkeit, 
und dieſe Wahrheit hat ſich bei der gegenwärtigen Frage auf's 
Ichlagendfte herausgeftellt. Das natürlichfte Verfahren hätte darin 
befanden, eine bewaffnete Gonftablermacht auf die Beine zu ftellen, 
und ebenjo das Land durchziehen zu laffen, wie die Antirenters ihre - 
„Inſchens‘ in Bewegung erhielten. Auf diefe Weife würden die 
Rebellen — denn anders Tann ich fie nicht nennen — bald genug 
befommen haben, wenn fie eine Armee in diefem und eine zweite 
in jenem Theile hätten erhalten müflen. Ein derartiger Schritt 


Al 


von Seiten ber Staatsgewalt , gut und thatkräftig ausgeführt, 
würde die Hälfte der „Anfchens‘ aus den Reihen der Unzufriedenen 
in dte des gefeßlichen Anfehens herübergelodt haben, denn die mei- 
ften von diefen Leuten wollen nur gemächlich leben und militärifche 
Parade machen. Statt deffen hat der gejeßgebende Körper im 
Weſentlichen nichts gethan, bis es wirklich zum Blutvergießen ge- 
fommen und der Aufftand nicht nur zum Schimpf für den Staat 
und das Land, fondern auch den Gutgefinnten in den unruhigen 
Counties ſowohl, als auch denen, welchen ihr Eigenthum vorent- 
halten blieb, völlig unerträglich geworden war. Seht wurde frei» 
lich das Geſetz erlaffen, welches ſchon im erften Jahr des Inſchens⸗ 
Syſtems hätte in Wirkſamkeit treten follen, ein Gefeb, welches es 
für ein Kapitalverbrechen erklärt, bewaffnet und verkleidet fich be- 
treten zu laſſen. Dunning fchreibt mir übrigens, dieſes Geſetz 
werde namentlich in Delaware und Shoharie offen verhöhnt, denn 
ganze Banden von Infchen$, wohl taufend Mann ftarf, zögen be- 
waffnet und in vollem Koftüm aus, um Erecutionen oder Verkäufe 
zu hindern. Wo dieß enden wird, weiß der Himmel!” 

„Man befürchtet alfo allen Ernſtes einen Bürgerkrieg?“ 

Es iſt unmöglich zu ſagen, wie weit falſche Grundſätze füh— 
ren mögen, wenn man fie in einem Lande, wie das unfere, er» 
Rarfen und fich verbreiten laßt. Gleichwohl ift der Aufſtand als 
folder nur eine armjelige Kundgebung und könnte, jobald eine 
thatkräftige Erecutiv-Mannfchaft verfammelt wäre, in zehn Tagen 
befehwichtigt werden. In einzelnen Punkten hat fi der gegen- 
wärtige Gouverneur vollfommen gut benommen, in andern aber, 
fo weit mir ein Urtheil zufteht, Die Rechtsverhältniſſe in einer 
Weiſe beeinträchtigt, daß man, wenn es ja noch möglich ift, Fahre 
dazu brauchen wird, fie wieder zu ordnen.” 

„Ihr ſetzt mich in Erftaunen, Sir, um fo mehr, weil ich weiß, 
daß Ihr in der Regel die politifchen Anfichten der Partei, welche 
jegt im Beſitz der Gewalt ift, theilt.“ 


42 


„Haſt Du fe von mir erlebt, daß ich um einer politfchen 
Sreundfchaft willen Dinge unterftügte, die ich für unrecht hielt, 
Hugh?" fragte mein Onkel vorwurfövoll. „Uebrigens muß ich 
dir jagen, daß ich der Anfiht bin, alle Gouverneure, die mit der 
Sache zu thun, — darunter befinden fich zwei von meiner und 
einer von der Gegenpartie — feien von einem irrigen Standpunkt 
ausgegangen. Zupdrderft haben fie insgefammt die Sache fo behan= 
deit, als hätten die Pächter wirklichen Grund zur Befchwerde, wäh 
end doch in Wahrheit ihre Unzufriedenheit nur aus dem Umſtand 
hervorging, daß andere Leute ihr Eigenthum nicht unter Bedin- 
gungen an fie ablaffen wollen, wie man fie ihnen gerne willführ- 
lich vorfchreiben möchte." s 

„Jedenfalls ift die Befchwerde von der Art, daß fein civilifirtes 
Land, Feine chriftliche Gemeinſchaft fie für begründet halten wird." 

„Hm, das ChriftenthHum muß, wie die Freiheit, in den Hän⸗ 
den des Menfchen fehredlich nothleidet, fo daß man bisweilen 
weder das eine, noch die andere mehr erkennt. Ich habe ſchon 
gejehen, daß Diener des Evangeliums in Unterflüßung ihrer Par 
teien eben fo flarrfinnig, fo rückſichtslos gegen Die allgemeine ‘Mo- 
ral und fo gleichgültig gegen das Recht waren, wie nur irgend 
ein Laie; und doch war ich Zeuge, wie Laien in diejer Hinficht 
Leidenichaften entfalten, die gerade aus der Hölle herausflammen. 
Wie dem übrigend fein mag, unfere Gouverneure haben jedenfalls 
die Sache in einer Weife behandelt, als ob die Pächter beachtens- 
werthe Bejchwerdegründe hätten, während doch die ganze Bedrückung 
blos in einer nominellen Rente und in dem Umftande lag, daß fie 
andern ihr Eigenthum nicht für einen jelbfigemachten Preis ab» 
zwingen konnten. Gin Gouverneur ift fogar fo großmüthig gewejen, 
fih zur Vermittlung eines Streits zu erbieten, der ihn, beiläufig 
bemerft, gar nichts anging, fintemal zur Erledigung folder Fra⸗ 
gen die Gerichtshöfe vorhanden find. Dieß war im glimpflichften 
Holle eine merkwürdige Anmaßung von feiner Seite, und fie riecht 


\ 


43 


weit mehr nach Ariftofratie oder Monarchie, als irgend etwas, was 
mit dem Pachtſyſtem zufammenhängt.“ 

„Bas Tann der Mann wohl gethan haben?“ 

„Er hat das Tiebevolle Amt übernommen, einen Schritt zu 
thun, für den er meiner Anficht nach weder durch die Inftitutionen, 
noch durch ihren Geiſt berechtigt war — er hat nämlich den Bür⸗ 
gern einen Rath ertheilt, wie fie in ganz bequemer Weiſe ihre An⸗ 
gelegenheiten ſelbſt bereinigen und die Schwierigkeiten befeitigen 
fönnten, die, wie er bei Gelegenheit deffelben Raths im Wefentli« 
‘hen zugibt, durch die Gefebgebung fanctionirt find.” 

„Dieß ift eine ganz außerordentliche Einmengung von Seiten 
eines öffentlichen Beamten. Wie konnte er fich herausnehmen, das 
. Gewicht einer noch obendrein nur angemaßten Auctorität bei einer 

Rechtsfrage in die Wagfchale zu werfen, in welcher von zwei Con⸗ 
trahenten der eine Theil über das Weſen eines durch die Geſetz⸗ 
gebung feierlich garantirten Vertrags, nicht aber über deffen Be- 
- dingungen Befchwerde führt?" 

„Und dieß dazu in einer Volksregierung, Hugh, in welcher 
eine mögliche Unpopularität fo ſchwer wiegt, daß unter einer Mil- 
lion nicht Einer den moraliihen Muth befikt, der öffentlichen 
Meinung zu widerfprechen, felbft wenn er im Rechte iſt! Du haft 
den Nagel auf den Kopf getroffen, Zunge; es ift der höchfte Grad 
von Anmaßung, die fogar bei jedem Monarchen Europa’s für eine 
tyrannifche Handlung erklärt worden wäre. Aber man hat ums 
ſonſt gelebt, wenn man nicht gelernt hat, daß Diejenigen, welche 
am lauteften von ihrer Liebe zur Freiheit fchreien, fie in nichts Bef- 
ferem zu bethätigen wiflen, als daß fie fich den Anforderungen des 
großen Haufens unterwerfen. Unfere Erecutivgewalt hat jogar 
ihre väterliche Sorgfalt noch weiter getrieben, und die Bedingun⸗ 
gen nahmhaft gemacht, von welchen fie ſich eine Befeitigung der 
Schwierigkeit verfpricht. Alfo außer der Unverfchämtheit, fich eine 
Stimme anzumaßen, wo ihr durchaus Feine gebührt, \haniet Ar 


44 


fich noch durch Anempfehlung eines Vergleichs, der fogar als bloßes 
pekuniäres Abhilfsmittel ein fchreiendes Unrecht in fich faßt.“ 

„Ihr ſetzt mich in Erſtaunen, Sir! Welcher Vorſchlag mag 
wohl hier ausgebrütet worden fein?" 

„Die Renffelaers follten von jedem Pächter eine Summe er- 
halten, welche Intereffen im Werth der gegenwärtigen Rente ab=- 
würfe. Nun handelt ſich's hier zuvörderft um einen Bürger, der 
bereits jo viel Vermögen hat, als er braucht, und nicht blos zu le— 
ben wünfcht, um Geld zufammenfcharren. Seine Habe ift, was Be⸗ 
quemlichkeit, Sicherheit und Ertrag betrifft, nicht nur zu feiner 
vollen Zufriedenheit, fondern auch in einer Weife angelegt, die in. 
einigen der edelften Gefühle feines Wefens ihren Grund hat. Das 
Eigenthum ift im Laufe von zwei Jahrhunderten durch eine Reihe 
von Vorfahren bis auf ihn gekommen, ift gefchichtlic, mit jeinem 
Namen verwoben, er wurde darauf geboren, hat darauf gelebt und 
hofft darauf zu fterben — kurz, es ift ein Gut, an dem die theuer- 
ften Erinnerungen feines Herzens haften. Weil nun ein Zwifchen- 
läufer, der fich vielleicht vor fechs Monaten auf einer feiner Far- 
men eingekauft hat, den ariflofratifhen Wunſch fühlt, Keinen 
Grundherrn zu haben, und eine Farın eigen zu befiten, an die er 
blos durch fein Pachtverhältnig ein Anrecht hat, ſo wirft der Gou⸗ 
verneuer des großen Staates New-Nork das Gewicht feiner amt- 
lichen Stellung gegen den alten Erbeigenthümer des Bodens in die 
Wagfchale, indem er in einem offiziellen Dokument, einen feierlis 
chen, auf die Stimmung des öffentlichen Haufeng berechneten Rath 
ertheilt, vermöge deffen befagter Grundeigenthümer abtreten foll, 
was er nicht zu verkaufen, fondern zu behalten wünjcht, und dieß 
zu einem Preiſe, der meiner Anficht nach weit unter dem wahren 
Geldwerth fteht. Wir haben da eine verzweifchte Freiheit, wenn fie 
folhe Sprünge macht!“ | 

„Die Sache wird noch ſchlimmer durch den Umftand, daß jeder 
von den Renfjelaers auf feinen Beſitzungen ein Haus hat, welches 


N 


45 


fo gelegen -ift, daß er bequem nach dem Stande der Dinge jehen 
fann. Das Haus bleibt ihm, aber feine Angelegenheiten gewinnen 
eine ganz andere Geftaltung, weil da eine Partie, welche einen 
einfachen, billigen Handel zu machen wünfcht, befjere Bedingungen 
fordert, als ihr durch den Vertrag zugefichert wurden. Es wundert 
mich nur, ob Seine Ercellenz nicht gleichfalls einen Rath für Die 
Grundbefiger bereit hat, was fie mit ihrem Geld anfangen follen, 
wenn fie es kriegen. Neue Ländereien kaufen und neue Häufer 
bauen, aus denen fie wieder verjagt werden, wenn eine neue Bande 
von Pächtern über Ariftofratie zu fchreien beliebt, und ihre eigene 
Liebe zur Demokratie durch den Wunfch an den Zag legt, andere 
in den Troß herunter zu zerren und ſich ſelbſt in ihre Stellung 
einzufchieben ?” 

„Du haft wieder recht, Hugh; aber es iſt die Erbfünde Ames 
rita’3, im Leben nur ein Mittel zu fehen, das ohne Unterlaß welt- 
lihen Zweden dienen muß. Ich flehe dafür, es Laffen fich Leute 
unter und finden, welche es für die größte Anmaßung erklären 
würden, wenn Jemand ein großes Haus für fich bauen und durch 
feine Lebensweiſe andeuten wollte, Daß ex mit feinen gegenwärtigen 
Mitteln zufrieden ift und fie weiter zu vermehren wünfcht. Zu 
gleicher Zeit fahen fie in der gefegwidrigen Einmifchung des Gou- 
verneurs die liebenswürdigfte Befcheidenheit und die reinfte Hand- 
habung der Rechtsgleichheit! Dein Gedanke in Betreff des Haufes 
gefällt mir fehr wohl. Um dem ‚Geift‘ der New-Morker Snftitutio= 
nen zu entfprechen, dürfte es für einen New-Yorker Landbefiber 
wohl gerathen fein, e8 auf Räder zu feßen, damit er feinen Wohn 
platz nach irgend einem neuen Grundflüde fchaffen könne, wenn es 
etwa feinen Pächtern beliebt, ihn auszukaufen.“ 

- „Glaubt Ihr wohl, die Renfjellaers werden fich mit Geld ab- 
finden laſſen und mit dem Kapital der Rente, zu fieben Prozent 
berechnet, Land anfaufen, nachdem fie die Unficherheit derartiger 
Beflgungen unter uns kennen gelernt haben?" 


46 


„Gewiß nicht," verfebte Onkel Ro lachend. „Nein, nein, fie 
werden das Manor-Houfe und Beverwyk zu Wirthfchaften verkau⸗ 
fen, und dann kann Zeder fich darin aufhalten, wer das Kapital für 
den Werth eines Mittageffens aufzubringen vermag. Sie paden 
ihre Dollars zufammen, ziehen ungefäumt nach Wallftreet und le⸗ 
gen fich drauf, Wechfel mit hohem Disconto einzuhandeln; denn 
wie ich aus den legten Nachrichten erjehe, gilt dieſe Befchäftigung 
für fehr ehrenhaft und preiswürdig. Bisher find fie nichts als 
Drohnen gewefen, aber jebt können ſie mit ihren Dollars bis aufs 
Mark eindringen. Ste werden zu nüplichen Gliedern der Gejell- 
haft und kommen demgemäß zu Ehre und Achtung.” 

Was noch gefolgt fein würde, weiß ich nicht, denn wir wurden 
jet durch den Befuch unferes gemeinfchaftlichen Bangquiers unter- 
brochen, wodurch das Gefpräch nothwendig eine andere Wendung 
erhielt. 


Drittes Kapitel. 


D Heimathland, jo theuer mir vor allen, 
Bann ſeh ich wieder meiner Väter Hallen? 
Mann labt der Gaumen wieder ih am Duell, 
Der bei dem Dörflein ſp rudelt Derhelit 
Dann ftreift auf's new’ her Buß die Berge nieder, 
yueh der Urwald echo't meine Sieb EN 

ann lächelt abermald ein Himm 
Aus ihrem Aug’, ded Thales —X Bier? 


Montgommerd. 


E; war in der That für einen Amerikaner, der fo lange nichts 
von Haus gehört hatte, eine Neuigkeit, fo plöblich erfahren zu 
müflen, daß fich einige Scenen des Mittelalters — Auftritte, welche 
die gröbften Beeinträchtigungen menfchlicher Rechte in fich faßten — 
in feinem eigenen Lande vorkommen jollten, in einem Zande, wel- 
ches fich rühmt, nicht nur ein Zufludhtsort für den Bedrückten, ſon⸗ 
dern auch eine Stübße des Rechtes zu fein. Die Nachrichten waren 
mir fehmerzlich nahe gegangen, da ich während meiner Reife ſtets 
ein theures Bild von Rechtsfinn und politifchen Auszeichnungen 

der Heimath mir vorgehalten hatte, das ich jet aufgeben 
zu müſſen befürchtete. Ich und mein Onkel bejchloffen, ohne 
Zögern nach Haufe zurüdzufehren, da ein derartiger Schritt ſchon 
durch die Klugheit geboten wurde. Ich war nun in einem Alter, 
welches mich — ſoweit es „die neuen Geſetze und die nenn Herin 


48 - 


geflatteten — zum Antritt meines Befitzthums befähigte, Denn 
die von meinem Pfleger eingelaufenen Briefe fowohl, als audy ge- 
wife Zeitungen meldeten die unangenehme Thatfache, daß viele 
Ravensneftpächter fih der Affociation angefchloffen hatten, zur Un— 
terhaltung der „Inſchens“ Beifteuern leifteten und auf dem Punkte 
waren, in Betreff ihrer Anfchläge und Plünderungsentwürfe fo 
ihlimm als die Uebrigen zu werden, obwohl fie noch immer ihre 
Renten zahlten. Der leßtere Umftand wurde von unfrem Agenten 
der Thatjache zugefchrieben, daß viele von den Pachtverträgen dem 
Berfalle nahe feien, und es dann in meiner Gewalt fiche,. an die 
Stelle mehrerer der gegenwärtigen Farm-Inhaber ehrlichere und 
grundfaßfeftere Leute zu fegen. Wir trafen dengemäß unfere Ma$- 
regeln zu einem möglichft baldigen Aufbruch von Paris, um noch. 
im Monat Mai die Heimath zu erreichen. 

„Wenn wir Zeit hätten, würde ich bei dem gefehgebenden 
Körper einige ſchriftliche Vorftellungen einreichen,” bemerkte mein 
Onkel ein paar Tage vor unferer Abreife nach Havre, wo wir ung 
auf dem Padetboote einjchiffen wollten. „Ich habe gute Luft, als 
freier Mann gegen die Beeinträchtigung meiner Rechte, welche von 
den vorgefchlagenen Geſetzen beabfichtigt wird, Proteſt einzulegen; 
denn der Gedanke gefällt mir gar nicht, daß mir die Befugniß ver> 
fümmert fein foll, ein Bachtgut auf fo lange Zeit, als ich es er- 
halten Fann, zu miethen. Dieß ift nämlich eines von den Pro- 
jetten, welche die Ulterareformer des freien und gleichen New-Yorks 
in Antrag gebracht haben. In welche merkwürdigen Thorheiten ver⸗ 
fallen nicht die Menichen, Hugh, ſobald fie — ſei es in der Bolitik, 
oder in der Religion, oder in Sachen der Liebhaberei — fib in 
Uebertreibungen einzulaffen anfangen. Unter unfern edlen Menſchen⸗ 
freunden fieht jebt auf einmal die Hälfte die allerfchlimmften Folgen 
für die Menschenrechte in dem Umftand, dag einer dem andern auf 
möglichft lange Zeit Grund und Boden abzumiethen jucht, während 
Ae Jonk für das Lob des freien Verkehrs nicht Worte genug finden 


49 


können. Manche Journale halten letztern für ein jo treffliches 
Mittel, Grundbefiger und Pächter an einer geordneten Ueberein- 
£unft zu hindern, daß fie fih ſogar über den Gedanken eines feften 
Preifes für Miethkutfchenpläge luſtig machen, ihrem Princip vom 
freien Berfehr nach wäre es viel beffer, die Leute im Regen flehen 
und um den Preis mäfeln zu laffen. Manche von unfern Philan- 
thropen laſſen fih’& entweder angelegen fein, die Gefeßgebung zu 
ſpornen, daß fie den Bürger eines fo einfachen Mittel8 der Ueber- 
wachung jeines Eigenthung beraube, oder ftehen bei einem jo uns 
geheuerlichen Treiben als müffige Zufchauer da.“ 

„Die Stimmen, Sir, die Stimmen kommen hier hauptfächlich 
in Rechnung.” 

„Ja wohl, die Stimmen; denn nichts als diefe find im Stande, 
ſolche Leute mit ihren eigenen Inconfequenzen zu verföhnen. Was 
dich betrifft, Hugh, jo wirft du gut daran thun, den bededten 
Kirchenftuhl abzufchaffen.“ 

Ä „Welchen bededten Kirchenftuhl? ich weiß in der That nicht, 
was Ihr meint." 

„Du vergißft, daß der Familienftuhl in der St. Andrewskirche 
zu Ravensneſt eine hölzerne Bedachung hat — ein Ueberbleibfel 
von den Sitten und Gebräuchen aus den Zeiten der Kolonie." 

„Run Ihr davon ſprecht, erinnere ich mich jenes plumpen und 
— offen geftanden — fehr häßlichen Borfprungs, von dem ich im«- 
mer annahm, er fei von den Erbauern der Kirche als Ornament 
angebracht worden.” 

„Sener häßliche Borfprung, den du für ein Ornament hielteft, 
follte eine Art Baldachin vorftellen; derartige Gegenſtände nämlich) 
galten noch bis zum Schluß des letzten Jahrhunderts im Staat 
und in der Kolonie als gewöhnliche Merkmale der Auszeichnung. 
Die Kirche wurde auf Koften meines Großvaters, des Generals 
Bittfepage und feines Bufenfreundes und Vetters, des Obriften 
Dir Follock erbaut. Beide waren gute Wighs und tayiere Ver» 


Ravensneit. 4 


50 


theidiger der Freiheit ihres Landes. Ste hielten es für pafjend, 
daß die Littlepage's einen bedachten Stuhl haben follten, und in 
folhem Zuftande kam das Gebäude an meinen Vater. Das alte 
Merk fteht noch immer, und Dunning fchreibt mir, unter die 
übrigen Beweife, welche gegen deine Intereffen aufgebracht werden, 
gehöre auch der Umftand, daß fih dein Kirchenftuhl vor denen der 
übrigen Gemeinde auszeichne.“ 

„Um diefe Auszeichnung würde mich gewiß fein Menſch be⸗ 
neiden, wenn man wüßte, daß mir der plumpe, mißgeſtaltete Vor—⸗ 
fprung flet8 zumider war, denn ich habe ihn immer für einen ganz 
abfcheulichen Zierath gehalten. Daß mir dadurch eine perfönliche 
Auszeichnung zugehen follte, ift mir nie zu Sinn gekommen, da ich 
im Gegentheil ftet3 der Anficht war, er fet in der mißverflandenen‘ 
Abficht, das Gebäude zu verfchönern, nur deghalb über unferem 
Stuhle angebracht worden, weil ein derartiger Auswuchs an einem 
folchen Platze am wenigften Neid erweden Eonnte.” 

„Mit einer einzigen Ausnahme finde ich ‚dein Urtheil ganz 
natürlich, und vor etwa vierzig Jahren noch Tonnte etwas Nehnliches 
wohl geichehen, ohne daß die Mehrzahl der Pfarrkinder darin etwas 
Ungewöhnliches erblickt hätte! Doch diefe Zeiten find vorbei, und 
du wirft auf deinem Beſitzthum die Entdedung machen müffen, 
daß du gerade in den Dingen, die von dir und deiner Familie 
herrühren, außer dem, was du dir um dein Geld kaufen Fannft, 
weit weniger Nechte befieft, als irgend einer deiner Nachbarn. 
Schon die einfache Thatjache, daß die St. Andrewskirche von dei⸗ 
nem Urgroßvater erbaut und von ihm der Gemeinde geſchenkt wurde, 
wird vielen in der Gemeinde Anlaß geben, bei allen Fragen, welche 
diefes Gebäude betreffen, dir dein Stimmrecht zu verfümmern." 

„Dies if ſo außerordentlich, daß ich wohl um den Grund 
fragen möchte.” 

„Der Grund beruht auf einem Zuge, welcher fo augenfällig 
der Denjchennatur im allgemeinen und der des Amerikaners ins⸗ 


51 


befondere inwohnt, daß ich mich wundere, wie du nur fragen Fannft. 
Der einzige Beweggrund ift der Neid. Gehörte der Kirchenftuhl 
3. B. den Neweomes, fo würde Niemand Anftoß daran nehmen.” 

„Sleihwohl müßten die Newcomes fich Lächerlich machen, wenn 
fie in einem Stuhle fipen wollten, welcher ſich vor denen ihrer 
Nachbarn auszeichnete, Die Abgefchmadtheit des Gegenſatzes würde 
Jedermann auffallen. 

„Aber in deinem Falle befteht die Abgeſchmacktheit nicht, und 
eben dieß ift die Urfache, warum dein Sib ein Gegenfland des 
Neides if. Du wirft übrigend gerne zugeben, Hugh, Daß man in 
einer Kirche und auf einem Kirchhofe am menigften mit menfch- 
lichen Auszeichnungen prunfen follte; denn im Auge Deffen, den 
wir Alle anbeten, und im Grabe ift ein Menſch wie der andere. 
Sch habe die weltlichen Auszeichnungen in den Kirchen nie leiden 
können, und die Fatholifche Sitte, welche nichts von abgefchloffenen 
Stühlen weiß, gefällt mir vecht wohl. Grabmäler find eine An- 
ſprache an die Welt, und haben eine allgemeine Beziehung zu der 
Geſchichte; fie mögen daher bis zu einem gewiflen Punkte wohl 
angehen, obwohl fie in der Regel arge Lügner find." 

„sch bin mit Euch der Anficht, Sir, daß es unpaffend if, in 
einer Kirche Auszeichnungen für einzelne anzubringen, und werde 
daher von Herzen gern meinen Baldachin abjchaffen, obſchon auch 
diefer feine hiftorifche Bedeutung hat. Wenn ich darunter faß, kam 
mir gewiß nie ein Gefühl des Stolzes zu Sinne, da ich.mich im 
Gegentheil oftmalen feiner ungereimten Form ſchämte, wenn ich 
bemerkte, daß er die Blicke verftändiger Fremder auf ſich zog." 

„sch finde dieß ganz natürlich, Denn wenn wir auch den Lurus 
und die Auszeichnungen, an die wir von Jugend auf gewöhnt find, 
wicht gerne vermiffen, fo machen fie doch den Befiker ſelten ftolz, 
wie fehr fie auch den Neid der Zufchauer weden mögen.” 

„Gleichwohl kann ich nicht einfehen, was der Kirchenftuhl mit 
meinen Renten oder meinen gefeplichen Rechten zu ſchaffen har." 


4* 


ı 52 

„Sn einer fchlechten Sache wird allem aufgeboten, was ihr 
möglicherweife einigen Anftrich geben kann. Wer gute, rechtmäßige 
Anfprüche an ein Eigenthum hat, wird nie daran denken, diefe noch 
durch weitere ſcheinbare unterftüßen zu wollen, und ein Gefeßgeber, 
der feine Maßregeln durch gute, zureichende, vor Gott und Men- 
hen Stich haltende Gründe zu belegen weiß, braucht nicht zu 
Umfchweifen feine Zuflucht zu nehmen. Wenn die Antirenters im 
Recht wären, hätten fie nicht nöthig, fich in geheime Verbindungen 
einzulaffen, Masken vorzunehmen, mit Blut- und Donnernamen 
zu prunfen und Die Gejebgebung des Landes durch befondere 
Agenten zu bearbeiten. Das Recht bedarf Feiner falfchen Beihilfe, 
um fich als folches geltend zu machen, aber das Unrecht muß alle 
Hilfsmittel aufbieten, die es für feinen Dienft preffen kann. Dein 
Kirchenſtuhl heißt ariftofratifch, obfchon er keine politifche Gewalt 
verleiht; man nennt ihn ein Adelspatent, obgleich durch ihn eine 
Berechtigung weder gegeben noch genommen wird, und er iſt nebft 
deiner Perſon verhaßt — aus dem einfachen Grunde, weil du 
darin fißen kannſt, ohne wich Lächerlich zu machen. PVermuthlich 
haft du die Zeitung, die ich dir mittheilte, noch nicht forgfältig 
durchgeleſen?“ 

„Genug, um die Ueberzeugung zu gewinnen, daß ſie mit 
hohlen Floskeln angefüllt ſind.“ 

„Mit etwas Schlimmerem, als mit Floskeln, Hugh. Du 
findeſt darin die grundſatzloſeſten Anfichten und die ſchändlichſten 
Gefinnungen, welche die arme Menſchennatur herabwürdigen kön⸗ 
nen. Einige von den Neformern machen den Vorſchlag, Niemand 
ſolle mehr als taufend Acres Land befiben, während Andere den 
fehr vernünftigen Grundſatz aufftellen, daß dem Einzelnen nur fo 
viel Landbeſitz zuftehe, als er bewirthichaften könne. Wie ich höre, 
find in letzterem Sinne fogar Petitionen an die Gefebgebung ein- 
gereicht worden." 

„Dieje hat aber weder in der Debatte noch fonft Rotiz davon 


93 


genommen — wenigftens erfehe ich aus den Berichten nicht, daß 
etwas der Art geichehen wäre.” 

„Sa, ih kann mir denken, daß die Rabuliften diefer ehren» 
werthen Körperfihaften alle dieſe Ungeheuerlichkeiten forgfältig be— 
mänteln, weil einige derfelben ohne Zweifel hoffen, fie können in 
die Schuhe der gegenwärtigen Grundbefißer treten, fobald fie ihre 
Füße aus denen herausgefriegt haben, welche fie jeßt tragen. Co 
aber lauten die Entwürfe und Petitionen in den Spalten der 
Journale, und fie ſprechen für fich ſelbſt. Unter anderem fagen fie, 
der größere Grundbefiß fei ein adeliges Inſtitut.“ 

„Aus Mr. Dunning’8 Brief entnehme ich, es fei bei der Ge— 
feßgebung eine Petition eingelaufen, meine Berechtigungen zu un= 
terfuchen. Nun ftammt unfer Grundbefiß von der Krone her..." 

„Um fo fchlimmer, Hugh. Pfui, wer wird in einem republi- 
Tanifhen Lande einen Rechtstitel von der Krone herleiten wollen! 
Daß du dich nicht ſchämſt, dieß zuzugeftehen. Weißt du nicht, 
Junge, wie ernſtlich jchon in einem Gerichtshofe die Behauptung 
verfochten wurde, das Bolt habe Durch feine Losreißung vom eng— 
lichen König alle frühern Berleihungen deſſelben wieder erobert, 
und fie müßten daher für null und nichtig erklärt werden?" 

„Dieß ift eine Ungereimtheit, von der ich noch nie gehört habe. 
Bie, die Bevölkerung New-York's, welche alle ihre Ländereien von 
der Krone erhielt, follte fie für Andere erobert haben?" bemerkte ich 
lachend. ‚Mein guter Großvater und mein Urgroßvater, beide haben 
in der Revolution mitgefochten und ihr Blut für die Unabhängig: 
feit vergoffen; aber fie wären recht thöricht gewefen, wenn fie ihre 
tigenen Befitzungen hätten erfämpfen wollen, um fie einer Bande 
von Einwanderern aus Neu-England und andern Theilen der Welt 
zu überlaflen.” 

„Ganz richtig gefprochen, Hugh," fügte mein Onfel bei, in— 
dem er in mein Gelächter einftimmte; „aber deine Begründung, 
hat noch viel wichtigere Unterflüßungspunfte. Auch der Stat hot 


54 


in feinem Korporationscharakter diefe ganze Zeit über den Betrüger 
gefpielt. Dir ift vielleicht von der Thatfache nichts befannt, aber 
ih als dein Vormund weiß, daß die Erbzinfen, welche fih die 
Krone bei Verleihung der Güter Mooferidge und Ravensneft vor- 
behielt, von dem Staat in Anſpruch genommen wurden; weil er 
nun Geld brauchte und das Volk nicht mit Steuern belaften wollte, 
jo verglih er fih mit ung und erhielt eine bedeutende Summe, 
durch welche alle fpätern Leiftungen abgelöst wurden.” 

„Dieß habe ich in der That nicht gewußt. Kann ein Beweis 
dafür aufgebracht werden?" 

„Allerdings — die Thatfache ift allen alten Knaben, wie ich 
bin, wohl bekannt, denn die Maßregel war Durchgreifend und be— 
traf fämmtlihe große Gutsbefiger. Die Quittungen für das be- 
zahlte Geld finden fich noch unter unfern Familienpapieren. Aeltere 
Befigungen, wie die der Nenffellaers find, haben eine noch weit 
nachdrüdlichere Begründung ihres Rechts; denn an die Weber» 
tragung des Landes war die Verpflichtung geknüpft, innerhalb 
einer gegebenen Zeit fo und fo viel Anftedler aus Europa herüber- 
zubringen. Du kannſt dir denken, daß eine folche Bedingung fidy 
nicht ohne große Koften ausführen ließ, und auf ihr beruhte auch 
in Wahrheit die Gründung der Kolonie." 

„Die ſchlimm fteht es nicht mit der Ehrenhaftigkeit eines 
Bolfes, wenn es in einem derartigen Balle ſolche Thatfachen zu 
vergeffen wünjcht!" 

„Bon Bergeffen iſt nicht die Rede, denn die Verhältniſſe 
waren Denen, welche in Betreff der von der Krone eroberten 
Rechte das große Wort führten, wahrfcheinlich nie bekannt. Wie 
du übrigens fagft, die Civilifation eines Staatsverbandes ift nach 
dem Grade zu bemeffen, in welchem fie die Grundfäße der Ge- 
rechtigkeit ehrt und mit ihrer Gefchichte vertraut iſt. Die große 
Maffe der Bevölkerung New-Yorks beabfichtigt bei dieſem Anti— 
zenten=Stampf keine Rechtseingriffe, da für fie Feine unmittelbaren 


2 


55 


Intereſſen darin auf dem Spiele ſtehen; dagegen aber muß man 
ihr die theilnahmloſe Unthätigkeit zum Vorwurf machen, indem ſie 
ſich und ihre Geſetzgebung von Leuten, welche nur für ihr eigenes 
politifches Auffommen arbeiten oder nad) dem unrechtmäßigen Beflk 
fremden Eigenthums ringen, mißbrauchen läßt.” 

„Aber ift e8 nicht "eine große Verlegenheit für eine Gegend, 
wie die um Albany, daß file folhen Landbelaftungen unterliegt, 
und daß eine fo große Menfchenmaffe im Herzen des Staates ren- 
tenpflichtig fein ſoll, während es doch alle Verhältniffe wünfcheng- 
werth machen, den Unternehmungsgeift fo ungefeffelt, als nur mög- 
lich zu laſſen?“ 

Ich bin nicht vorbereitet, dieß auch nur nad) Maaßgabe eines 
allgemeinen Grundfages einzuräumen. Ein Haupteinwurf der An- 
tirenters befteht 3. B. darin, daß die Patroone fich in ihren Ver⸗ 
trägen die Wafferfräfte vorbehalten haben. Nun, und wenn auch? 
Irgend Jemand muß die Waſſergerechtigkeit befitzen und warum 
der Patroon nicht ſo gut, als ein Anderer? Um der Einwendung 
Gewicht zu verleihen — nicht nach der Grundlage des Geſetzes 
oder der Moral, ſondern nur nach der einer bloßen Zweckmäßig⸗ 
keit — müßte nachgewieſen werden, daß die Patroone ihre Waſſer⸗ 
kraft nicht zu ſo niedrigen Renten ablaſſen, als andere Perſonen; 
und da iſt nun meine Anſicht, ſie fordern nicht halb ſo viel, als 
der Fall wäre, wenn die geeigneten Lagen für Mühlen und Fabri⸗ 
fen einer Anzahl von Perfonen, die durch's ganze Land zerftreut 
find, zugehörten. Aber auch zugegeben, daß ein fo großes, derar⸗ 
tiges Befibthum in diefer Beziehung manche Unbequemlichkeiten mit 
fi führt, kann e8 in Betreff der Weiſe, wie man ſich der Beläfti- 
gung zu entledigen fucht, unter Biedermännern eine getheilte Anficht 
geben? Alles hat feinen Preis, und im induftriellen Sinne gebührt 
auch Allem fein Pre. Niemand erkennt dieß mehr an, als der Ame⸗ 
rikaner, oder bringt es fo ausgedehnt in Anwendung. Man laſſe den 
Renflelaers Anerbietungen machen, die fie zu einem freiwilligen Ver⸗ 


96 


fauf verloden, aber geftatte nicht, daß ihre Nechte durch die heil- 
lofefte von allen Bedrüdungsakten, durch eine Spezialgefeßgebung 
gefährdet und fie felbft durch Einſchüchterung im ruhigen Beſitz 
ihres gejeglichen Eigenthums geftört werden. Iſt der Staat der 
Anfiht, daß ein derartiger Befisftand dein Geſammtwohl nach— 
theilig fei, To möge er das Beifpiel nachahmen , welches England 
gegen die Sklavenhalter beobachtet — er gebe ihnen eine volle 
Entjhädigung, bedrüde fie aber nicht durch Taren, ungerechte Ge— 
jege und Beläftigungen aller Art. Doch genug davon vor der 
Hand, Hugh, wir werden die Sache zum Ueberdruß hören müffen; 
wenn wir nad) Haufe kommen. Unter meinen Briefen habe ich 
einige von meinen übrigen Mündeln.“ 

„Noch immer die alte Leyer von meiner Tochter‘, Sir,” ants, 
wortete ich lachend. „Ich hoffe, daß die lebhafte Miß Henrietta 
Eoldhroofe und die fittfame Anna Marston fich volltommen wohl 
befinden ?" 

„Beide erfreuen fich einer trefflichen Gefundheit und fchreiben 
ganz bezaubernd. Sch muß dich doc, Henriettas Brief leſen laffen, 
da er ihr meiner Anficht nach ſehr zur Ehre gereicht. — ©edulde 
Dich einen Augenblid, ich hole ihn aus meinem Zimmer,” 

Sch muß bier den Leſer in ein Geheimniß einweihen, das mit 
dem Verlauf meiner Gefchichte in einiger Beziehung fteht. Ehe ich 
die Heimath verließ, mar der vergebliche Verſuch mit mir gemacht 
worden, mich zu veranlaffen, daß ich mich mit einer von drei jungen 
Damen — mit Miß Henrietta Coldbroofe, mit Miß Anna Mars- 
ton oder mit Miß Opportunity Neweome verlobe. Für die beiden 
Eriteren hatte mein Onkel Ro das Wort geführt, da er als ihr 
Bormund ein natürliches Intereſſe dabei hatte, für fie eine Partie 
ausfindig zu machen, die ihm als eine gute vorfanı, während die 
Mandver zu Gunften der Miß Opportunity Nemcome von ihr felbft 
audgingen. Unter folchen Umftänden mag es daher wohl paffend 
jein, einiges über die Perfönlichkeit diefer jungen Damen zu fagen. 


97 


Miß Henrietta Goldbroofe war die Tochter eines Engländers 
von guter Familie und einigem Vermögen, der fich in Amerika 
niedergelaffen und verheirathet hatte, weil er e8 um gewifler poli- 
tifcher Theorien willen für das verheißene Land hielt. sch erinnere 
mich feiner noch als eines unzufriedenen, mißvergnügten Wittwerg, 
der, wie man glaubte, in Folge unkluger Speculationen täglich 
mehr verarmte, und zuletzt in all’ feinem Wünfchen und Sehnen 
jo ganz und gar wieder zum Engländer wurde, daß er behauptete, 
die gemeine Bilamente ſei ein beflerer Vogel ald der Cannavaß⸗ 
brüden. Er flarb übrigens zeitlich genug, um feinem einzigen 
Kinde ein Bermögen zu hinterlaffen, welches unter meines Onkels 
trefflicher Verwaltung zu mehr als einmalhundertfiebzigtaufend 
Dollars angewachfen war, und einen Nettvertrag von achttaufend 
im Jahr abwarf. 

Die machte Miß Henrietta mit einemmal zu einer gefuchten 
Schönheit; da fie aber in meiner Großmutter eine Eluge Freundin 
hatte, fo war fie bisher vor dem Schritte bewahrt geblieben, ſich 
an den nächſten beften Habenichts wegzumerfen. Das Zartgefühl 
meines Onfeld Ro Tannte ich zu gut, um nicht überzeugt fein zu 
dürfen, daß er in feinen brieflichen Hindeutungen auf mich nicht 
weiter ging, als der Anftand geftattete, und meine treffliche, biedere, 
offene alte Großmutter hatte einmal in einem Schreiben an mic) 
einen Ausdruck fallen laffen, welcher mich auf den Glauben brachte, 
die leifen Anjpielungen meines Onkels hätten im Herzen der jungen 
Dame fo viel Anklang gefunden, als fi) etwa mit einer Empfin- 
dung, Die nothwendigerweife nichts anderes, als Neugier fein 
fonnte, füglich in Verbindung bringen ließ. 

Mit Anna Marston war gleichfalls eine Erbin, aber in einem 
viel geringeren Maaßftabe, da fie aus einigen Häufern in New— 
York eine Rente von etwas mehr als dreitaufend Dollars bezog, 
und von diefen ungefähr fechzehntaufend Dollars als erfpartes Ka— 
yital angelegt hatte. Sie war übrigens Fein einziges Kind, \üt- 


98 


dern hatte noch zwei Brüder, auf die ein eben fo großer Antheil 
wie auf die Schwefter gefallen war — ein paar lodere Bögel, die, 
wie es in der Negel bei den Erben von New⸗NYorker Kaufleuten 
zu gehen pflegt, auf dem beften Weg ſich befanden, durch ein 
Ihwelgerifches Leben in Bälde ihres Erbtheils ledig zu werden. 
Unter ſolchen Umftänden kommt einem jungen Amerikaner nichts 
befier zu ftatten, ald das Reifen, durch das er entweder zum Manne 
gemacht oder jchnell ganz zu Grunde gerichtet wird. Ein unver- 
befierliher Pinjel wird von europäiſchen Abenteurern in kurzer 
Zeit dermaßen gerupft, daß er den Nothſtand bald überwunden 
bat; ift aber der junge Reijende in Folge der fchlechten Erziehung, 
welche man zu New-Dork heimifch findet, nur eitel und leichtfertig, 
dabei übrigens mit einigem gefunden, heimiſchen Kern verjehen, fo 
läßt er fih den Bart um Ohren und Kinn wachen, Tleidet fich 
befler, nimmt feinere Manieren an, verliert bald den Geihmad an 
den gemeinen und niedrigen Liebhabereien der Jugend, und eignet 
fih eine Bildung an, wie fie Jeder gewinnen muß, der die koſt⸗ 
baren Augenblide feiner früheren Jugend nicht ganz wegwirft. Iſt 
einer in feiner Zugend gut erzogen worden und mit der Fähigkeit 
begabt, auf diejer Grundlage fortzubauen, fo fteht zu erwarten, 
daß ihm bei jeinem Eintritt in die alte Welt die Schuppen jchnell 
vom Auge fallen werden. Seine Sdeen und Liebhabereien gewin- 
nen eine neue Richtung, er bildet fih zu dem verfländigen Mann, 
den die Natur aus ihm formen wollte, und kehrt zulekt in die 
Heimath zurück, eben jo fehr der guten als der fchlinnmen Seiten 
bewußt, welche jein Vaterland und defien Inftitutionen bieten. Ein 
ſolches Reifen an Weisheit kann dann auch nicht verfehlen, ihn zu 
einem befjern Menjchen zu machen. Wie diejer Verſuch hei den 
Marstons angefchlagen hatte, war weder mir noch meinem Onfel 
bekannt, denn fie hatten das europäische Feftland bejucht, während 
wir uns im Orient aufhielten, und waren bereits wieder nad 
Amerika zurückgekehrt. Was Miß Anna betraf, jo hatte fie eine 


Mutter, welche in gleicher Weife für die Ausbildung ihres Geiftes 
und Körpers Sorge trug, obſchon das Mädchen fchon von Natur 
aus hübſch, gefühlvoll und verfländig war. 

Miß Opportunity Neweome fpielte die belle zu Ravensneft, 
einem Dorfe auf meinem eigenen Beſitzthum; fie war eine ländliche 
Schönheit, und vereinigte als folche eine entfprechende Erziehung, 
ländliche Sitten, Tugenden und Gewohnheiten in fih. Da Ravens- 
neft in der Givilifation nicht fonderlich vorgefchritten, oder wie man 
nach Landesfitte zu fagen pflegt, Fein fonderlich „ariftofratifcher 
Platz“ war, fo will ich bei den Vorzligen diefes jungen Mädchens 
nicht länger verweilen; denn wenn fie auch für Navensneft voll- 
fommen binreichten, jo würden fie doch meinem Manufeript zu 
feiner wejentlichen Zierde dienen. 

Opportunity war die Tochter Ovids, und diefer ein Sohn Ja⸗ 
ſons aus dem Haufe Neweome. Wenn ich mich des Ausdrude 
‚Haus‘ bediene, jo muß man mich wohl verftehen, denn die Familie 
hatte jeit unfürdenklichen Zeiten, d. h. ſeit ungefähr achtzig Jahren, 
eine Wohnung inne gehabt, die zu einem meiner Zinsgüter ge= 
hörte. Der Name Neweome konnte daher wohl in der Gegend als 
ein alter gelten. Diefe ganze Zeit über war ein Neweome als 
Pächter auf der Mühle, dem Wirthshaufe, dem Kaufladen und 
der Meierei geſeſſen, welche dem Dorf Ravensneft oder Littleneft, 
wie ed gemeiniglich genannt wurde, am nächſten lag; auch dürfte 
es hinftchtlich der Lehre, welche meine Erzählung in fich faßt, hier 
nicht ungehörigen Orts fein, wenn ich beifüge, daß fchon vor 
diefer Periode meine Vorfahren bie Grundherrn gewefen waren. 
Ich bitte den Leſer, diefen letztern Umftand im Gedächtniß zu be- 
halten, fintemal fidh bald eine Gelegenheit ergeben wird, zu zeigen, 
daß gewifle Perfonen fehr geneigt waren, dieß zu vergeflen. 

Wie bereits gejagt, war Opportunity die Tochter Ovids 
und hatte einen Bruder, Namens Seneka oder Seneky, wie er 
fich jelbft zu nennen pflegte; diefer war ein Sohn Dvids, dee 


60 


Sohnes von Zafon, welcher als erfler feines Namens auf Ravens- 
neft wohnte. Befagter Senefa bekleidete kraft einer Licenz, die 
ihm von den Richtern des oberflen Gerichtshofes fowohl, als von 
dem Gerichtshof für Givilproceffe in der County Waſhington ver- 
lieben war, die Stelle eines Rechtögelehrten. Unter drei Generatio- 
nen, welche mit Jaſon begann und mit Senefa endete, hatte ftets 
eine Art erblicher Erziehung ftattgefunden, und da der letztere Fa- 
milienzweig im Dienfte der Gerechtigkeit fland, fo war ich hin und 
wieder fowohl mit ihm, als mit feiner Schwefter zufammen ge= 
fommen. Ueberhaupt pflegte Miß Opportunity das Neft, wie mein 
Haus in vertrauten Kreifen genannt wurde — denn der wahre 
Name war Ravensneft, und mußte fpäter ald Bezeichnung fowohl 
des ganzen Befitzthums als des Dorfes dienen — fehr gerne 
zu befuchen; fie entfaltete früh eine große Zuneigung zu meiner 
lieben alten Großmutter und der mir nicht minder theuren jungen 
Schwefter, welche namentlich zur Zeit der Herbfivacanzen einige 
MWochen in unferer Wohnung zubrachte. So fand ich denn vielfach 
Gelegenheit, den Einfluß ihrer Reize kennen zu lernen, und ich 
muß fagen, daß Miß Opportunity nicht verfäumte, dergleichen An- 
läffe nach Kräften zu benügen. Wie ich hörte, hatte ihre Mutter, 
die denfelben Namen trug, ihrem Ovid die Kunft der Liebe durch 
eine ähnliche Kundgebung beigebracht und den Sieg Davongetragen. 
Diefe Dame war noch am Leben und darf daher als Opportunity 
die Große betrachtet werden, während wir die Tochter Opportunity 
die Kleine nennen können. Im Alter war die junge Dame nicht 
ſonderlich von mir verfchieden, und da ich die Feuerprobe des ver- 
fänglichen Alters von zwanzig bereits zurüdgelegt hatte, war, nun 
ich fünf Jahre weiter zählte, von einer wiederholten Beftehung der 
Gefahr nichts Sonderliches mehr zu fürchten. Ich muß übrigens 
auf meinen Onkel und den Brief der Miß Henrietta Goldbroofe 


Br 


„ler il er, Hugh!" rief mein Bord yätır, A tom 


61 


dir jagen, ein Kapitalbriefchen! Ich wünfchte nur, daß ich ihn 
dir ganz vorlefen könnte, aber Die beiden Mädchen haben mir das 
Berjprechen abgenommen, daß ich ihre Depefchen nie Jemand zeigen 
wolle — dieß war natürlich auf dich gemünzt — denn nur unter 
diefer Bedingung wollten fie in ihrer Gorrefpondenz an mich über 
die gewöhnlichen Gemeinpläße hinausgehen. Jetzt fprechen fle ihre 
Gefühle natürlich und unverholen aus, fo daß ich an ihren Briefen 
eine wahre Sreude habe; indeß darf ich es wohl wagen, dir einen 
Heinen Auszug daraus zu geben.” 

„O, unterlaßt e8 lieber, Sir, denn Ihr begeht dabei doch 
eine Art von Berrath, deflen ich mich in der That nicht theil= 
baftig machen möchte. Wenn Miß Eoldbroofe nicht wünfcht, daß 
ih leſe, was fie fchreibt, fo muß es wohl ebenfo jehr ihrer Ab- 
fiht zumider laufen, wenn mir etwas aus ihren Briefen vorge- 
lefen wird.” 

Onkel Ro warf mir einen Blid zu, in welchem fi Unzu⸗ 
friedenheit über meine Gleichgültigkeit auszudrüden ſchien. Dann 
las er den Brief für fi, lachte hier, Tächelte dort, und murmelte 
ein: „trefflich!" gut!" „bezauberndes Mädchen!" „einer Hannah - 
More!” würdig u. |. w. vor fih hin, als ob er dadurch meine 
Neugierde reizen wolle. Wie übrigens jeder junge Mann von 
fünfundzwanzig Jahren fich recht wohl denken kann, trug ich Fein 
Berlangen darnach, „Hannah More" zu lefen, weßhalb ich gegen 
alle dieſe Berlodungen mit der Ruhe eines Stoikers Stand hielt. 
Mein Bormund mußte daher nachgeben und legte die Briefe wieder 
in fein Schreibpult. 

„Run, die Mädchen werden fich freuen, und wieder zu ſehen,“ 
jagte er nach einem kurzen Nachdenken; „ich kann mir ſchon jebt 
ihre Meberrafchung vergegenwärtigen, denn in dem Schreiben an 
meine Mutter meldete ich, daß wir nicht vor dem Oktober ein- 
treffen würden. Jeßt treffen wir fpätefteng Anfangs Jom en." 

„3 zweifie nidl Daß Patt ſehr erfreut fein wird;, wos ht. 


62 


gens die Heiden jungen Damen betrifft, fo haben fie fih um fo 
viele Freunde und Verwandte zu befümmern, daß ihnen an ung 
ficherlich nicht viel gelegen fein kann.“ 

„Du thuft ihnen Unrecht und Eönnteft dich aus ihren Briefen 
davon überzeugen; fie nehmen den lebhafteften Antheil an unfern 
Bewegungen und ſprechen von meiner Ruͤckkehr, als ob fie der- 
jelben mit der größten Erwartung und Breude entgegenfehen." 

Die Antwort, die ih Onkel Ro gab, war etwas vorlaut; 

aber die Billigfeit fordert, daß ich fie hier berichte. 
DDieß glaube ich wohl, Sir, entgegnete ich; aber welche 
junge Dame fieht nicht mit „Erwartung und Freude‘ der 
Rückkehr eines Freundes entgegen, der in Paris gewefen ift und 
befanntlich eine gut geſpickte Börfe führt." 

„Wahrhaftig, Hugh, Du verdieuft Feines von diefen theuern 
Mädchen, und wenn ich’S ändern kann, follft du auch Feines da⸗ 
von kriegen.“ 

„Danke ſchön! Sir!" 

„Pfui; das if fchlimmer als einfältig — e8 ift roh. Sch flehe 
dafür, die eine wie die andere würde Deine Werbung zurückweiſen, 
und wenn du morgen um ihre Hand nachſuchteſt.“ 

„Dieß hoffe ih um ihrer ſelbſt willen, Sir, denn es wäre 
doch eine gar handgreifliche Demonftration, wenn eine derjelben 
gleih auf die Bewerbung eines Mannes einginge, den fie kaum 
fennt, und den fe feit ihrem fünfzehnten Jahre nicht mehr ge= 
ſehen hat." 

Onkel Ro lachte, aber ich bemerkte, daß er fehr ärgerlich 
war; und da ich ihn troß meiner Abneigung gegen feine Verhei⸗ 
rathungspläne von Herzen liebte, fo Ienkte ich das Gefpräch in 
ſcherzender Weife auf unfere bevorftehende Abreife. 

„So höre denn, Hugh, was ich thun will," rief mein Onfel, 
der in manchen Dingen etwas Enabenhaft war — ein Umftand, 
Der ohne Zweifel von feiner alten Junggeſellenſchaft herrührte; 


63 


„Ih habe eben am Bord des Padetichiffes falſche Namen ein- 
tragen laſſen, und wir werden alle unfere Freunde überrafchen. 
Unfere Leute kennen wir fo weit, daß wir ficher fein dürfen, weder 
Jakob noch dein Diener wird uns verrathen, und wenn wir je 
etwas befürchten, jo können wir fle ja über England nad) Haufe 
ſchicken. Wir beide haben Effekten in London, nach denen man 
jehen muß, und die Burfchen gehen dann über Liverpool. Dieß ift 
ein guter Gedanke, und ich freue mich, daß er mir glüdlicherweife 
noch eingefallen if." 

„Sch habe durchaus nichts dagegen einzuwenden, Sir. Ohne- 
hin nüßt mich zur See mein Diener ebenfo wenig, als ein Auto- 
mat, und es ift mir lieb, wenn ich fein Sammergeficht nicht jehen 
muß. Er ift zwar ein Kapitalburfche auf dem Lande, aber eine 
wahre Niobe, wenn er auf dem Salzwafler dahinfchwimmen fol." 

Die Sache wurde in's Reine gebracht, und ein paar Tage 
fpäter brachen unfere beiden Leibdiener, d. h. Jakob, der Schwarze, 
und Hubert, der Deutfche, nach England auf. Die Wohnung in 
Baris, von welcher mein Onkel flets behauptete, ich müffe mit 
meiner jungen Braut einen Winter,in derfelben zußringen, wurde 
auf’s Neue vermiethet, und wir traten in einer Art von Incognito 
den Weg nad) Havre an. Auf dem Padetboot "hatten wir ein 
Erkanntwerden nicht zu beforgen, um jo weniger, da wir zuvor 
ſchon die Meberzeugung eingeholt hatten, daß fich Feine Bekannten 
in dem Schiff befanden. Ich hatte eine große Familienähnlichkeit 
mit meinem Onfel, weßhalb wir uns für Vater und Sohn aus- 
gaben. Onkel Ro war der alte Mr. Davidfon und ich der junge 
Mr. Davidfon aus Maryland — oder Meir⸗rland — wie der 
Name im dorifchen Dialekte diefes Staates lautet. Diefer Theil 
der Täufchung hatte eigentlich Feine andere Behelligung für ung, 
als daß ich meinen angeblichen Vater nicht Onfel nennen durfte, 
da ein derartiger Verftoß natürlich unter einer fremden Gefellfchaft 
aufgefallen wäre. 


64 


Die Ueberfahrt ſelbſt Tief ohne erwähnungswerthe Ereigniſſe 
ab. Wir hatten den gewöhnlichen, durchfchnittlichen Wechſel von 
guten und fchlechtem Wetter, die gewöhnliche Verpflegung mit 
Speije und Trank und den gewöhnlichen Antheil von langer Weile, 
Der legtere Umftand trug vielleicht hauptfächlich dazu bei, einen 
weiteren Plan meines Onkels zur Neife zu bringen, den ich hier - 
anführen muß. 

Er hatte feine Briefjchaften und Zeitungen abermals durchge⸗ 
lefen und war biedurh auf den Glauben gekommen, die Anti⸗ 
Renten Bewegung habe weit mehr Bedeutung, als es urjprünglich 
den Anfchein gewonnen. Das heimliche Bündniß unter den Päch» 
tern hatte, wie wir von .einem verfländigen New-Morker erfuhren, 
der mit ung reiste, fich viel weiter verbreitet, als wir unfern Be 
richten zu Folge anzunehmen Grund hatten, und man hielt es fo- 
gar in vielen Fällen entfchieden für gefährlich, wenn ſich Grund- 
bern auf ihren Befißungen bliden ließen. Der allgemeinen Ans 
nahme zu Folge hatten fie Befchimpfung , perfönliche Beleidigung, 
wo nicht gar Ermordung zu’ beforgen. Allerdings war aus dem 
bereit3 vergoffenen Blut wenigftens fo viel Gutes hervorgegangen, 
daß den ungeftümeren Kundgebungen ein Zügel angelegt wurde; 
aber troß aller der fäumigen Erklärungen, daß man nur mit Mä- 
Bigung zu Werk gehen wolle und blos nach dem Nechte trachte, 
ließ fih doch unter den Pächtern leicht ermitteln, daß fie im Ge- 
heim entjchloffen waren, ihre Abfichten durchzufegen. Wie Eonnte 
auch in diefem Falle von Necht die Rede fein, da diejes durch den 
Buchſtaben jowohl als durch den Geift der Verträge gegeben war, 
und man fo augenfällig fah, daß die Unzufriedenen es hierauf 
zuleßt abhoben! 

Dem erfahrenen Manne gelten Betheurungen für nichts, wenn 
fie mit einem Handeln verbunden find, das ihnen geradezu wider- 
ſpricht. Für Alle, welche einen Blid in die Sache thun mochten, 
war ed nur zu augenfälig, und zwar durch Beweife, welche nicht 


65 | “ 


täufchen -Tonnten, daß die große Maffe der Pächter in den verfchie- 
denen Bountied New-York's darauf erpicht war, auch ohne die 
Zuftimmung der Grundherren Bortheile aus ihren Farmen zu zie- 
ben, die ihnen durch die Verträge nicht zugeflanden waren; ihre 
Anfchläge waren demgemäß von einer Art, wie fie Eein ehrlicher 
Mann in der Gemeinjchaft hätte dulden follen. 

Schon die Thatfache, daß fie das fogenannte „Infchens"-Sy- 
ſtem unterflüßten oder auch nur gewähren ließen, gab ihre Beweg- 
gründe zur Genüge zu erfennen, und wenn wir dabei noch ferner in 
Erwägung ziehen, daß dieſe „Inſchens“ bereits zu dem Aeußerſten 
des Blutvergießeng gefchritten waren, fo Eonnte wohl Niemand mehr 
daran zweifeln, daß die Yngelegenheiten bald zu einer Krifis kom⸗ 
men mußten. 

Wir beide, Onkel Ro und ich, ſtellten über alle dDiefe Dinge - 
mit der größten Ruhe unfere Betrachtungen an, und entfchieden ung 
für ein Verfahren, das man hoffentlich nicht für unklug halten wird. 
Da diefer Entſchluß folgereich für mein ganzes Tünftiges Reben 
wurde, fo will ich jeht in Furzen Zügen andeuten, was uns 
zu demfelben beftimmte. 

Es war für uns höchft wichtig, Ravensneft perfönlich zu be- 
fuden, und doch konnte ein derartiger offener Schritt fehr gefähr- 
lid) werden. Das Nefthaus fand mitten auf dem Befigthum, und 
da wir die Stimmung der Pächter nicht Fannten, fo war es viel- 
leicht unklug, unjere Anwefenheit wiffen zu laſſen. Die Umftände 
begünftigten übrigens den Plan unferes Incognitobeſuchs; denn da 
man ung erft im Herbft oder mit dem „Ball der Blätter,” — wie 
diefe Zeit des Jahres poetiich in Amerika genannt wird — er= 
wartete, fo fonnten wir wohl annehmen, daß wir bei unferem un⸗ 
vorhergefehenen Eintreffen auch unentdedt blieben. Die Art, wie 
wir dieß angriffen, war fehr einfach, und läßt fich am beften im 
Laufe der Erzählung darftellen. 

Das Packetſchiff Hatte eine leidlich Eurze Kahrt gehabt, da wir 

Ravensneil. 5 


# 66 


in neunundzwanzig Tagen von Land zu Land gelangten. An einem 
lieblichen Mai- Nachmittag wurden wir vom Deck aus zum erſten⸗ 
mal der Höhen von Navefink anfichtig, und eine Stunde fpäter er- 
blickten wir die thurmähnlichen Segel der Küftenfahrer, welche fich 
in der Nähe des niedrigen Landvorfprunges, der den bezeichneten 
Namen Sandy Hook führt, verfammelt hatten. Bald nachher 
tauchten die Leuchtthürme aus dem Waffer auf, und allmälig traten 
die Gegenftände an der New-Jerſey-Küſte aus dem nebligen Hin- 
tergrunde hervor , bi8 wir endlich nahe genug flanden, um zuerft 
von dem Lootfen und dann von den Neuigkeitsbooten geentert zu . 
werden. Merkwürdiger Weife Fam jener vor diefem an, denn Die 
Sucht nad Neuigkeiten ift in unferer guten Republik gewöhnlich 
viel zu rührig, als dag man aud mit der größten Wachfamteit 
dieſem Uebel entgehen koͤnnte. Mein Onkel mufterte die Mannſchaft 
des Neuigkeitsboots auf's forgfältigfte, und da er Niemand an 
Bord bemerkte, den er ſchon früher gefehen hatte, fo ſchloß er in 
Betreff der Meberfahrt nach der Stadt den Handel ab, 

Wir hatten den Fuß eben auf die Batterie gefebt, als die 
Uhren New-York's 8 Uhr ſchlugen. Ein Zollbeamter unterfuchte 
unfere Reifefäde, und ließ fie paffiren; denn unfere übrigen Effekten 
befanden fih noch auf dem Schiff und unter der Obhut des Ka⸗ 
pitäns, welchen wir um dieſe Gefälligkeit angegangen hatten. 
Seder von uns befaß ein Haus in der Stadt, aber wir wollten 
unfern Wohungen nicht nahe fommen. Die meinige hatte blos 
den Zwed, Winterd zum Gebrauch meiner Schwefter und einer 
Zante zu dienen, welche während der Saifon fich des Mädchens 
freundlich annahm, während das Haus meines Onkels hauptfächlich 
nur von feiner Mutter bewohnt wurde. Zu der gegenwärtigen 
Jahreszeit waren aller Wahrfcheinlichkeit nach nur ein paar alte 
Diener der Familie daſelbſt zu treffen, und es gehörte mit zu un= 
ferem Plan, fogar diefe zu meiden. „Sad Duning” aber, wie ihn : 
mein Onkel ſtets zu nennen pflegte, war eher ein Freund, als ein 


67 


Gefchäftsführer, und hatte feine Sunggefellenwirthichaft in Cham⸗ 
berftreet — einem Stadttheil, auf den wir ed zuwörderft abhoben. 
Um dahin zu gelangen, fchlugen wir den Weg durch Greenwid- 
fireet ein, weil wir fürchteten, in Broadway Jemand zu begegnen, 
von dem wir erfannt werden konnten. 


l 


nr 


Viertes Kapitel. 


Bürgerhaufen: Sprich! Sprich! 

Erfier Bürger: Sen ihr alle entfchloffen,, Lieber zu ſterben, als 
u bungern 

Bürgerhaufen: 83 feſt entſchloſſen! 


Best der eingefleifchtefte Manhattanefe, wenn er ſchon etwas 
von der Welt gefehen hat, muß einräumen, daß New⸗-Nork im 
Allgemeinen auf das Auge Eeinen fehr günftigen Eindrud madt. 
Dieß fiel mir fogar um diefe Stunde auf, als wir flolpernd auf 
einem heillos jchlechten Nebenwege dahin gingen; denn Jedermann 
kann fich denken, daß ich nach einer Abwefenheit von fünf Jahren 
mich allenthalben umfah. Unmöglich konnten mir die ungereimten 
Zujammenftellungen entgehen — die Marmorwohnungen in un= 
mittelbarer Berührung mit erbärmlichen niedern Holzhäufern, das 
ſchlechte Pflafter, und vor allem das Kleinftädtifche Ausfehen einer 
Stadt von faft viermalhunderttaufend Seelen. Sch weiß zwar wohl, 
dag viele von den Mängeln der fchnellen Vergrößerung zuzuſchrei⸗ 
ben find, welche dem Plaß ein fo buntes, wirres Ausfehen gegeben 
bat; aber, obgleich ein Manhattanefe von Geburt, halte ich. es doch 


69 


für paſſend, den Uebelſtand unverholen zuzugeftehen, wäre e8 auch 
nur zur Belehrung eines gewifjen Theils meiner Mitbürger, welche 
in Betreff diefes Punktes an einer gewifjen Verblendung leiden. 
Was die Bergleichung der Bat von New-Morf mit der von Neapel 
betrifft, fo mag ich mich um der fpießbürgerlichen Gefühle von 
Broodway und Bondftreet willen ebenfo wenig einer folchen Thor⸗ 
heit jchuldig machen, als ich den Handel des alten Parthenope 
dem des alten New⸗-York an die Seite flellen möchte, um dadurch 
in den Bufen irgend eines Bottegajo von Toledo oder von dem 
Chiaja felbfigefällige Empfindungen zu weden. Unſer ſchnell zu- 
nehmendes Manhattan if in feiner Art eine große Stadt, ein 
wundervoller Platz, der meiner Anficht nach, was Unternehmungs- 
geift und Gefchäftsthätigkeit betrifft, auf Erden nicht feines Gleichen 
hat; es wäre daher nicht Leicht, einen derartigen Ort durch Spöt- 
teleien und Hindeutungen auf den pofitiven Stand der neuen Welt 
lächerlich zu machen, obfchon er durch eine Vergleichung mit London, 
Paris, Wien und Petersburg weit verlieren müßte. Der Manha- 
tanefe trägt fich viel zu viel mit der amerikanischen Vorftellung von 
der Gewalt der Zahlen, und glaubt daher, daß der höhere Rang, 
den eine Stadt einnimmt, gleichfalls durch Majoritäten zu erzielen 
fei. Aber nein — laßt ung ſtets des alten Sprüchleing eingedent 
fein: »ne sutor ultra creqidam.« New-Morf kann wohl Die 
Königin des „Geſchäftslebens,“ nicht aber die Königin der Welt 
genannt werden. 

Jeder, der von Reifen zurüdtömmt, follte einen Beitrag 
zu dem allgemeinen Wiſſensvorrath mitbringen; ich will daher 
meinen Mitbürgern einen Wint geben, der ihnen, wie id) 
glaube, als Mapftab dienen, und fie an einem gewiſſen moralifchen 
Pulsihlag erkennen laffen kann, wann ihre Baterftadt fich wirklich 
zur Höhe einer eigentlichen Großſtadt aufzufchwingen beginnt. Als 
guten Grundfaß kann man wohl betrachten, daß die Einfachheit an 
die Stelle der Anmaßung treten müße; da aber die Erkeuutuiß, 6 


70 


dieß wirklich ftattgefunden habe, viel Uebung oder angebomen Ge- 
ihmad erfordert, jo will ich eine andere Regel aufftellen, die 
mehr für die Sinne ſpricht, und die Anzeigen wenigftens gut er« 
fennen läßt. Erſt wenn wir aufhören, unfere freien Pläbe Parke, 
oder die Pferde-Bazars und die fafhionablen Straßen Zatterfalls 
und Bonftreet zu nennen — wann der Waſhingtonmarkt wie- 
der in einen Bärenmarkt umgetauft wird — wann Branklin, 
Fulton und andere große Gelehrte oder Erfinder die unverdiente 
Ehre verlieren, Schlachthäufer mit ihren Namen zieren zu müflen, 
wann der Ausdruck Gommerciell nicht mehr als ein Vorwort von 
Emporium gebraucht wird — wann man vom Ausland zurüdtehren 
kann, ohne die ftete Frage hören zu müffen, „ob man wieder mit 
dem Vaterlande verföhnt ſei,“ und warn an Fremdlinge nicht je die 
zweite Frage lautet: „wie gefällt Euch unfere Stadt? — " dann 
erft Eönnen wir glauben, die Stadt fange an, auf eigenen Beinen 
zu gehen, und koͤnne für etwas gelten. 

Obſchon Ney-York zuverläffig den Charakter einer Provinzial⸗ 
ſtadt trägt, und als ſolche die eigenthümlichen Gebrechen, Gewohn« 
heiten und Denkweifen des Provinzlebens in fich vereinigt, fo birgt 
fie doch manchen Mann von Welt, fogar unter der Zahl Derjeni- 

"gen, die ihren Herd nie verlaffen haben. In diefe Klaffe müffen 
wir auch Jack Dunning, wie mein Onkel ihn nannte, zählen, und 
der Lefer weiß, daß wir eben im Begriff find, defien Haus in 
Chamber » Street aufzufuchen. 

„Wenn wir nicht gerade zu Dunning gingen," fagte mein 
Onkel, ald wir zu Greenwich - Street heraustraten, „jo würde ich 
mich nicht fürchten, von den Dienern erkannt zu werden, denn Nies 
mand denft hier daran, einen Bedienten auch nur halbe Jahre bei- 
zubehalten. Dunning jedoch gehört der alten Schule an, und ift 
fein Freund von neuen Gefichtern; wir werden daher an feiner Thüre 
feinen Srländer treffen, wie dieß unter drei Häufern, die man heut 
zu Tage befucht, ſtets bei zweien der Fall iſt.“ | 


71 


Eine Minute ſpäter langten wir unten an Mr. Dunning's 
„Stoup“ an. Dieſe Stoups oder Vorhallen find eine wahrhaft 
hoͤlliſche Erfindung für ein Klima mit fo grimmiger Kälte, wie 
das unferige if. Doc, da waren wir, und ich bemerkte, daß mein 
Onkel zögerte. 

»Parlez au Suisse,« fagteih. „Zehn gegen Eins, er 
it frifch aus einem Bailly fo oder fo." 

„Nein, nein, e8 muß der alte Nigger Garry fein.” Onfel 
Ro war felbft von der alten Schule, und pflegte ſtets „Nigger" zu 
jagen. — „Unmöglid kann fih Jad von Garry getrennt haben.” 

„Garıy" war das Diminutiv von Garret, einem in Amerika 
ziemlich gewöhnlichen holländifchen Vornamen. 

Wir Hingelten, und — nad) etwa fünf Minuten ging die Thüre 
auf. Obſchon eben jet die Ausdrüde „Ariftofrat" und „Arifto- 
kratie“ durch ganz Amerika ebenfofehr in aller Leute Munde find, 
als man die Worte „Lehenweien” und „Mittelalter nicht blos auf 
die Pachtverhältniffe, fondern auch auf gewiffe Arten zu leben an- 
wendet, jo gibt e8 doch im ganzen Lande nur einen einzigen Pfört- 
ner, und diefer gehört zum weißen Haus in Waf bington. Ja, ich 
fürchte fogar, daß ſelbſt diefe Perſon, fo königlich einzig fie als 
Pföriner dafteht, oft nicht vorhanden ift, wie denn auch die Auf- 
nahme, die man — im Falle er fich finden läßt — von ihm erhält, 
nicht eben unter die glänzenditen und Eöniglichiten gehört Nachdem 
wir drei Minuten gewartet hatten, fagte Onkel Ro: 

„Ih fürchte, Garry thut beim Küchenfeuer ein Schläfchen. 
Will's doch noch einmal verfuchen.” 

Onkel Ro Elingelte abermals, und zwei Minuten fpäter öffnete 
fih die Thüre. 

„Was fteht zu Dienft?” fragte der Suiffe mit derbem Aecent. 

Mein Onkel fuhr zurüd, als hätte er einen Geift gefehen; 
dann aber fragte er, ob Mr. Dunning zu Haufe fei. 

„Za wohl, Sir!" 


172 


„Iſt er allein, oder hat er Geſellſchaft?“ 

„Sa wohl, Sir.” 

„Was, ja wohl?" 

„Daß es fo iſt.“ 

„Volt Ihr Euch die Mühe nehmen, mir zu erklären, was 
fo it? Hat er Gefellfchaft, oder ift er allein?“ 

„Su dieß. Spaziert herein; er wird erfreut fein, Euch zu 
ſehen. Seine Ehren ift ein feiner Gentleman, und es ift wahrhaf- 
tig eine Sreude, bei ihm zu leben.” 

„Wie lange iſt's her, daß Ihr Irland verlaffen habt?” 

„Es it Ihon lange," entgegnete Barney, indem, er die Thüre 
Ihloß. „Dreizehn Wochen auf den Tag hin; aber tretet ein.” 

„Nur voran, und zeigt ung den Weg. Hugh, es if ein 
ſchlimmes Vorzeichen, daß von allen Menjchen im Lande gerade 
Jack Dunning feinen Bedienten wechjeln mußte. Wie Tonnte 
er auch den guten, ruhigen, trägen, achtbaren Graufopf, den 
Neger Garıy gegen einen folchen Sumpfvogel, wie dieſer Kerl da, 
vertaufchen, der die Treppen hinaufflettert, als ob er nur an Lei- 
tern gewöhnt fei." 

Wir mußten in den zweiten Stod binauffteigen, und Dun⸗ 
ning in feiner Bibliothek aufjuchen, wo er ſtets jeine Abende 
zu verbringen pflegte. Als -er uns Beide vor fich ſtehen ſah, 
drüdte er eine eben jo große Weberrafchung aus, als die war, 
welche mein Onkel Eurz zuvor erfahren hatte. Eine bedeutjame 
Geberde bewog ihn jedoch, die Hand feines Freundes und Klienten 
zu ergreifen. Es wurde Fein Wort gefprochen, bis der Schweizer 
das Zimmer verlafjen hatte, der, die Thüre in der Hand, eine läftig 
lange Weile ftehen blieb, um zu hören, was zwiſchen feinem Herm 
und deffen Gäften vorgehe. Endlich aber trat ver ehrliche, wohl⸗ 
meinende Burfche ab, und die Thüre ſchloß fich. 

„Mein letztes Schreiben hat Euch nach Haufe gebracht, Ro⸗ 
ger," begann Jad, jobald er fprechen Eonnte; denn fein Schweigen 


73 


hatte eben jo fehr in der Meberrafchung feiner Gefühle, als in der 
nöthigen Vorficht feinen Grund. 

„Dieß ift allerdings der Fall. Dem gemäß, was ich gehört 
habe, müffen große Veränderungen im Land vorgegangen fein, und 
eines der fchlimmften Anzeichen befteht wohl darin, daß Ihr Garry 
abſchafftet, und einen Srländer an feine Stelle feßtet.” 

„Ach, leider fterben alte Leute fo gut, wie alte Grundfäße 
Der arme Burfche fegelte in der letzten Woche ab, und in Er> 
manglung eines Beſſern nahm ich den Irländer in's Haus Nach⸗ 
dem ich den guten Garry, der noch als Sklave im Haus meines 
Baters geboren wurde, verloren hatte, war mir alles gleichgültig, 
und ic) ließ mir den erften beften gefallen, der mir von dem Anfün= 
digungs = Bureau zugeſchickt wurde.“ 

„Wir müſſen behutfam fein, Dunning, und dürfen ung nicht 
zu bald fügen. Aber hört mich zuerfl an, und dann wollen wir-auf 
andre Dinge übergehen.” 

"Mein Onkel ſetzte ihm jebt auseinander, daß er incognito 
bleiben wolle, und theilte ihm die Gründe feines Wunſches mit. 
Dunning hörte aufmerkfam zu, fchien aber unfchlüffig zu fein, ob 
er den Plan feines Freundes gut heißen oder tadeln follte. Die 
Sache wurde in Kürze verhandelt, und dann auf weitere Be- 
ſprechung ausgeſetzt. 

„Wie ſteht es mit jenem großen moraliſchen Zerwürfniß, dem 
ſogenannten Anti⸗Rentismus? iſt er im Abnehmen oder noch immer 
im Steigen begriffen?“ 

„Dem äußeren Anſchein nach vielleicht im Abnehmen; was 
jedoch die Grundſätze, das Recht und die Thatſache betrifft, müſſen 
wir eher von einem weiteren Umfichgreifen fprechen. Die Sucht, 
ih Stimmen zu fihern, wirkt auf, die Politiker aller Farben fo 
verführerifch, daß fie fi) bereitwillig als Werkzeuge brauchen laſſen, 
und es fieht nun im hohen Grade zu befürchten, daß diefe dreifte 
Diderre qhtuchteit fortan unter geſetzlichen Formen begangen wird.“ 


74 


„In welcher Weife wäre ein Gerichtshof im Stande, einen 
beftehenden Vertrag anzutaften? Die oberfte Juftizftelle der Ver⸗ 
einigten Staaten muß nothwendig alles wieder in's Gleiche bringen. ” 

„Ich muß fagen, daß dieß allerdings die einzige Heffnung 
aller rechtlich Gefinnten if; im Uebrigen aber wäre es Thorheit, 
zu erwarten, daß eine Körperfchaft, wie die aus dem gewöhnlichen 
Menfchenfchlag zufammengefehte Stantögefeßgebung if, der Ver⸗ 
lockung widerftehen follte, fih durch Begünftigung des großen 
Haufens den Beſitz der Macht zu fihen. Bon diefer Seite 
ber if alfo nichts zu hoffen. Einzelne leiften vielleicht 
MWiderftand; aber die allgemeine Stimmung wird fih im Gegenfaß 
zu den Wenigen für das Intereffe der Vielheit erklären, und dann 
müffen eben die Theorien durch ſchwuͤlſtige Ziraden unterftüßt wer⸗ 
den. Zuvörderfi wird man den Borfchlag aufgreifen, die Renten 
unter dem Namen von Erbzins zu befteuern. 

„Dieß wäre ein höchſt ungerechtes Verfahren, uud würde einen 
Widerſtand ebenfo rechtfertigen, als fich unfere Vorfahren für berech⸗ 
tigt hielten, fich gegen die Befteuerung Großbritanniens aufzulehnen. ” 

„Sm gegenfeitigen Falle jogar noch mehr, da wir die ſchrift⸗ 
liche Zuficherung einer gleichförmigen Befteuerung haben. Der große 
Grundbefiger zahlt bereitd aus jeder feiner Farmen eine voll- 
fländige Steuer, die im urfprünglichen Vertrag mit dem Pächter 
von der Rente in Abzug kömmt, und nun will man die Renten felbft 
mit einer neuen Taxe belegen. Auch gefchieht dieß nicht etwa in 
der Abficht, um die Staatseinkünfte zu erhöhen, da man zugeftan- 
dener Maßen Feine weiteren Mittel braucht, fondern es liegt dem 
Ganzen blos der Plan zu Grund, den Grundbefißern immer mehr 
Anlaß zu geben, daß fie gerne von ihren Berechtigungen abftehen. 
Hat man's einmal fo weit gebracht, fo wird für den Verkauf der 
Grundſatz aufgeftellt, daß Niemand als der Pächter Käufer fein 
dürfe oder Tönne. Dann werden wir ein fchönes Schaufpiel er- 
leben. Leute, welche fich unter der Bedrängniß eines Gefchreieg, 


75 


das jo viel wie thunlich im Geſetz einen Hinterhalt erzwingen hat, 
von ihrem Eigentbum trennen, und Käufer, ‘welche das Monopol 
befiten, felbft den Preis machen zu dürfen! Ja, e8 geht fchön zu 
in einem Lande, welches fich auf feine Liebe zur Freiheit jo große 
Stüde einbildet, und in welchem die vorherrfchende Klaffe der Po- 
litifer Freunde eines vollkommen freien Verkehrs find!" 

End „Mit den Inkonſequenzen der Politik nimmt es freilich kein 
e. 4 

„Es hat kein Ende mit der Schurkerei, wenn die Männer der 
Gewalt ſich durch Köpfe, nicht durch Grundfähe beherrfchen laſſen. 
Bezeichnet die Zuftände lieber mit dem rechten Namen, Ro, denn 
fie verdienen e8 wohl. Diefe Sache iſt fo einfach, daß fie ein 
Blinder verftehen kann.” 

„Aber wird der Befteuerungsentwurf durchgreifen * Uns z. 2. 
fann er nichts angehen, da unfere Pachtverträge auf drei Lebens⸗ 
dauern feftgefegt find." 

„O, dieß will noch nichts heißen. Für Leute in Eurer Lage 
finnt man auf ein Geſetz, welches fortan verbietet, länger als auf 
fünf Sabre zu verpachten. Hugh's Verträge werden bald fällig 
fein, und dann kann er Niemand mehr länger als auf fünf Jahre 
zu einem Sklaven machen.” 

„Sicherlih wird Fein Menſch fo thöricht fein, zu glauben, 
daß das Durchgehen eines derartigen Geſetzes die Ariflofratie däm— 
men, und den Pächtern Vortheile verfchaffen werde!" viefich lachend. 

„Lacht wie Ihr wollt, junger Sir," nahm Jad Dunning 
wieder auf, „aber mit der Abficht trägt man fich wirklich. Ich 
kann mir wohl denfen, was Ihr vorbringen wollt; Ihr werdet 
lagen, je länger der Pachtvertrag währt, defto mehr Bortheil hat 
der Pächter, wenn anders die Bedingungen leidlich find; auch Eönnen 
die größeren Srundbefiger für die Benügung ihrer @ändereien nicht 
mehr verlangen, als fie in diejem Land werth find, wo es zufälliger 
Weiſe mehr Grund und Boden, als Arbeiter gibt. Aber nein, 


76 


die Landbeſitzer erhalten aus diefem einfachen Grumde eher weniger 
für ihren Boden, als er werth ifl. Ihr denkt deßhalb, wenn man 
einen Pächter zwinge, für die kurze Dauer von fünf Jahren einen 
Vertrag einzugehen, jo erwachſe ihm daraus ein Nachtheil, und 
er falle mehr der Willkür des Grundherrn anheim, weil er 
natürlich wünfchen müffe, fih die Koften und Mühen eines Um⸗ 
zug8 zu erfparen, auch liege es in feinem Intereſſe, Die ange- 
fäten Aecker zu fchneiden, und den Ertrag des von ihm gemachten 
und verführten Düngers einzuheimfen. Sch fehe wohl, wie Ihr 
da rechnet, junger Sir; aber Ihr jeid Häglich weit hinter der Zeit 
zurück.“ 

„Dann müßte die Zeit in der That wunderlich fein! Durch 
die ganze Welt herrfcht die Anficht, daß Pachtverträge von langer 
Dauer im Intereſſe des Pächters liegen, und caeteris paribus 
kann dieß Verhältniß durch nichts geändert werden. Wohl können 
durch eine derartige Mafregel Recht, Moral und eine beflimmte 
Geſetzgebung verlegt werden; aber wie wäre ein neuer Steuerjag 
im Stande, und unfere Berechtigungen überhaupt zu entreißen? 
Nah der Art, wie ich anderweitig auf Ravensneft befteuert bin, 
hätte ich aus hundert Dollars Renten etwa fünfundfünfzig Cents 
zu bezahlen; wer Fann wohl glauben, ich werde um einer ſolchen 
Auflage willen ein Befitzthum aufgeben, daß fich in meiner Fa— 
milie durch fünf Generationen vererbt hat?" 

„Ganz ſchön, Sir, ganz fchön! prächtige Worte — aber ich 
möchte Euch rathen, ja nicht von Euren Vorhaben zu fprechen. 
Heut zu Tage können ſich Grundbefiger nicht ungeftraft auf ihre 
Borfahren berufen." 

„sch erwähne der meinigen blos als eines Grundes für die 
natürliche Borliebe, die mich an meine Güter feffelt." 

„Dieß Fönntet Ihr thun, wenn Ihr ein Pächter wäret, aber 
als einem Grundbefiter läßt man es Euch nicht hingehen. Beim 
Grundbefiter wird es zu ariftofratifchem, unerträglichem Stolze, 


N 


177 


der im höchften Grad anflößig oder, wie Dogberry jagt: ‚ganz 
tolerahel und nicht zu präftiven ift.” 

„Gleichwohl handelt ſich's um eine Thatfache, und es liegt 
nur in der Natur derfelben, daß ſich die Gefühle nicht von ihr 
loszãhlen können.” 

„se unwiderfprechlicher ein Thatbeſtand ift, defto weniger wird 
er Beifall finden. Man bringt eine Stellung in der Geſellſchaft 
wohl mit Reichtum und anderweitigem Befitz in Verbindung, aber 
nit mit Farmen, und je länger man lebtere in einer Familie 
hatte, deſto ſchlimmer iſt es.“ 

„Ich glaube, Jack,“ fügte Onkel Ro bei, „daß bei uns da 
Gegentheil von dem ftattfindet, was in der ganzen übrigen Belt 
Geltung hat. Man ift der Anficht, die Anfprüche einer Familie 
werden durch die Zeit eher vermindert, als verftärkt." 

„Gewiß,“ antwortete Dunning, ohne mir- Gelegenheit zu 
geben, etwas beizufügen. „Erinnert Ihr Euch noch jenes albernen 
Briefs, den Ihr mir Einmal aus der Schweiz in Betreff einer 
Familie, de Blonai genannt, ſchriebt? Ihr ſagtet, fie Haufe ſchon 
etliche ſechs⸗ oder achthundert Jahre auf einem Keinen Felfenchlöß- 
lein, und wußtet mir nicht genug zu erzählen von der Achtung und 
Verehrung, welcher dieſer Umftand wede. Na, alles dieß war fehr 
thöricht, wie Shr bei Gelegenheit Eures Incognitobeſuchs zu Ra- 
vensneft finden werdet. Ich will dem Refultat der Belehrung, die 
Ihr dort zu gewärtigen habt, nicht vorgreifen, aber geht immerhin 
in dieſe Schule.” 

„Die Renſſelaers und andere große Grundeigenthümer , welche 
Befibthümer mit eifernen Verträgen haben, werden wahrfcheinlich 
nicht geneigt fein, fie aufzugeben, wenn man ihnen nicht Bedingun- 
gen ftellt, die ihnen zufagen,” bemerkte mein Onkel, . ‚Reinesfalls 
Tann die unbedeutende Steuer, von der Hugh fprach, einen Anlaß 
dafür abgeben. Was verfpricht fi alſo die Gefebgebung von Er⸗ 
Inffung einer derartigen Auflage?“ 


78 


„Daß ihre Mitglieder Freunde des Volkes, und nicht Freunde 
der Grundbefiger genannt werden. Wird wohl Jemand feine Freunde 
beſteuern, wenn er es ändern Tann?" 


„Aber, was wird der Theil des Volks, der ſich der Anti-Pen- 


tenbewegung angefchloffen hat, durch dieſe Maßregel gewinnen?" - 


„Nichts, und ihre Befchwerde wird nachher eben fo laut Elin- 
gen, ihre Habgier eben fo regfam fein. Keine Gefebgebung Tann 
in der Sache ein Ende erzielen, wenn fie nicht alle Wünfche diefer 
unruhigen Köpfe befriedigt. Ihr werdet Euch erinnern, daß ein 
Eomite der Affembly fogar den Befchluß beantragt hat, der Staat 
jet befugt, alle die fraglichen Ländereien an fich zu ziehen, und fie 
an die Pächter oder an fonft Iemand zu verkaufen. Wenn. ich 
mich recht erinnere, lautet ungefähr fo der Inhalt deflen, was die 
weife Verſammlung herausgeklügelt hat." 

„Die Eonftitution der Vereinigten Staaten muß Hugh's 
Aegide fein." 

„Und dieſe allein wird ihn ſchützen, Tann ich Euch fagen; 
aber ohne dieſe ehrenhafte Vorforge in der Gonftitution ber 
Föderalregierung würde fein Beſitzthum unfehlbar für die Hälfte 
des wahren Werthes in fremde Hände gehen. Es Füße zu 


De 017 


nichts, den Stand der Dinge zu bemänteln oder dem Glüuben 


Raum zu geben, die Menfchen jeien ehrlicher, als fie find — 
man fpricht in diefem Lande fo viel von einem 
böllifhen Gefühl der Selbſtſucht, eitirt es, und 
kömmt bei allen Gelegenheiten wieder darauf zu— 


rück, fo daß man ſich faſt Läherlih maht, wenn. 


man thut, als halte man noch auf Grundſätze.“ 
„Habt Ihr gehört, auf was es die Pächter von Ravensneft 
insbefondere abheben?” 
„Sie möchten eben gerne Hug's Ländereien haben, dieß ift alles, 
weiter nichts, kann ich Euch verſichern.“ 


79 


„Und darf ich fragen, unter welchen Bedingungen?” entgeg- 
nete ich. 

„Ste möchten leichten Kaufs dazu kommen, wie fie jelbft zu 
fagen pflegen, obſchon auch einige darunter find, welche erklären, fie 
feien bereit, einen fchönen Preis dafür zu zahlen.” 

„Aber ich wünfche fie nicht einmal für einen fchönen Preis zu 
verkaufen, da mir nicht entfernt einfällt, mich von einen @igenthum- 
zu trennen, daß mir durch die theuerften Bamifienerinnerungen 
lieb geworden iſt. Ich habe auf meiner Beſitzung ein Toftipieliges 
Haus und Anweſen; dieſes erhält feinen Hauptwerth von dem 
Umflande, dag es fih einer Lage erfreut, welche mich befähigt, 
auf die bequemſte Weife nach meinen Angelegenheiten zu jehen. 
Was Fönnte ich mit dem Gelde anders anfangen, als ein anderes 
Gut kaufen? Das, welches ich bereits beſitze, ift mir jedenfalls 
lieber.“ 

„Pah, Zunge, erinnerft du dich nicht? Du kannſt Wechfel 
discontiren,“ fagte Onkel Ro troden. „Das höchfte Tribunal hat 
fih dafür entfchieden, daß diefer Beruf ein ehrenwerther fei, und 
Niemand follte fih über das Geſchäftsleben erheben wollen.“ 

„sn einem freien Lande habt Ihr kein Recht, Sir," entgeg- 
nete Jack Dunning mit Schärfe, „ein Befitzthum dem andern 
vorzuziehen, namentlich nicht, wenn andre Leute ein Auge darauf 
haben. Eure Ländereien find an ehrliche, der harten Arbeit ge- 
.wöhnte Männer verpachtet, welche ohne filberne Gabeln ihr Effen 
hinunterbringen, und deren Vorfahren... 

„Halt,“ rief ich lachend, „ich laſſe keine Vorfahren gelten. 
Ihr erinnert euch, daß in einem freien Lande Niemand ein Recht 
an Ahnenſchaft hat!“ 

„Der Grundbefitzer nicht, wohl aber der Pächter, denn dieſer 
Tann einen Stammbaum haben, fo lange als die maison de Levis. 
Rein Sir, jeder Eurer Pächter hat die volle Befugniß zu verlans 
gem, dag feine Familiengefühle geachtet werden. Sein Bater 


80 


bat jenen Obfigarten angepflanzt, und die Aepfel darin find ihm 
lieber als alle Nepfel der Welt... .” 

„And mein Bater hat die Propfreifer beigefchafft und fie ihm 
zum Geſchenk gemadht. 

„Sein Großvater lichtete jenes Feld und arbeitete die Afche 
zu Potafhe um. . .” 

„Und mein Großvater erhielt jedes Jahr aus dem Lande, deſ⸗ 
fen Afche ihm zweihundertundfünzig Dollar einbrachte, eine Rente 
von zehn Schillingen. ” 

„Sein Urgroßvater, ein ehrlicher, treffliher Mann — ja fogar 
überehrlich, ein vertrauensvolles Weſen — nahm ſich zuerft des 
Landes an, als es noch eine Wildniß war, fällte mit eigenen Hän⸗ 
den das Holz, und befäete den Grund mit Weizen —“ 

„Defen Ertrag ihm zwanzigfältig Mühe und Aufwand vergü⸗ 
tete, fonft wäre er nicht fo einfältig gewefen, fih damit zu befaflen, 
Auch ih hatte einen Großvater — hoffentlich wird man es nicht 
für ariftofratifch halten, wenn ich dieß behaupte. Diefer — ohne 
Zweifel ein unehrenhafter, gefährlicher Schurfe — trat das ber. 
ſagte Grundſtück auf ſechs Sahre vollfommen rentenfrei ab, damit 
fich’8 das „arme vertrauensvolle Wefen‘ darauf bequem mache, ehe 
e8 anfing, für die übrigen drei Lebensdauern vom Ader ſechs 
Pence oder einen Schilling zu zahlen, fich dabei der moralifchen 
Gewißheit erfreuend, daß der Vertrag nach Ablauf deffelben unter 
den freigebigften Bedingungen, wie man diefe nur in einem neuen 
Land Eennt, wieder zu erneuern ſei. Der ehrlihe Mann wußte 
dabei recht wohl, daß er feine zwei Stunden vor feiner Thüre 
freies und eigened Land erwerben Tonnte; gleichwohl aber gefiel 
ihm jener Handel weit beſſer, als diefer.” 

„Genug mit foldhen Thorheiten,“ rief Onkel Ro, in das Ge- 
lächter einftimmend. „Wir alle wifjen, daß man in unferem treff- 
lihen Amerika mit den beften Anfprüden an eine Sache thun 
muß, als befite man die allergeringften, um mur das Ungeheuer 


.. 


81 


Neid zu erfliden. Da wir in Betreff unferer Grundſätze einig find, 
jo wollen wir auf Thatfachen übergehen. Was wißt Ihr von den 
Mädchen, Sad, und meiner verehrten Mutter?" 

„Die edle, heldenmüthige Frau befindet fich in diefem Augen 
blick zu Ravensneft; die Mädchen wollten fie nicht allein ziehen 
laſſen und haben fie begleitet.“ 

„Und Ihr, Jack Dunning, duldetet, daß fie unbeſchützt nach 
einem Landestheil ging, ver ſich in offenem Aufruhr befindet?“ 
fragte mein Onfel vorwurfsvoll. 

„Ei, ei, Hodge Littleyage, dieß ift wohl recht erhaben als 
- Xheorie, aber nicht fo einleuchtend, wenn es in Prari ausgeführt 
werden fol. Ich habe Miftreß Littlepage und ihr junges Volk 
. aus dem guten, ſehr wichtigen Grund nicht begleitet, weil ich 
nicht getheert und gefedert zu werden wünfchte. 

„Ihr habt fie alfo der Gefahr preisgegeben, an Eurer Statt 
getheert und gefedert zu werden?” 

„Sagt, was Ihr wollt, von dem Freiheitsgeſchrei, das jebt 
jo gewöhnlich unter ung wird und von dem wir früher nichts hör- 
ten; jagt, was Ihr wollt, Ro, von der Snconfequenz Derjenigen, 
welche in demfelben Augenblide, in weichem fie nach ausschließlichen 
Rechten und Privilegien für ihre Perfon ringen, über Feudalwefen, 
Ariftofratie und Adel jchimpfen; jagt, was Ihr wollt, über den 
Neid, diefes hervorragende Lafter Amerika's, Über Unehrenhaftig- 
feit, Schurferei, Habgier und Selbſtſucht — ih will Euch in allen 
Punkten beiflimmen; nur fagt mir nicht, ein Frauenzimmer Eönne 
ernftlich in Gefahr kommen unter was immer für einem Amerika- 
nerhaufen, jelbft wenn diefer aus Antirenterd und masfirten Roth- 
häuten obendrein beftünde.” 

„Wenn ich weiter darüber ‚nachbente, fo glaube ih, daß Ihr 
hierin Recht habt. Berzeiht mir meine Wärme; aber ich habe in 
letzter Zeit in der alten Welt und in einem Bande gelebt, in welchem 

Ravensneft. 6 


82 


es noch nicht fo Tange her ift, daB man fogar Frauen wegen ihrer 
politifchen Anfichten auf’3 Schaffot führte.” 

„Weil fie fih in Politit mengten. Eure Mutter ift in feiner 
ernftlichen Gefahr, obgleich fchon ein Eräftiger, weiblicher Sinn dazu 
gehört, fih auch nur zu Diefer Ueberzeugung aufzufchwingen. Es 
gibt wenige Frauen im Staate, die ihrem Beifpiele Folge geleiftet 
haben würden, namentlich wenn man dabei ihr hohes Lebensalter 
berüdfichtigt; und Auch den Mädchen rechne ich e8 hoch an, daß fie 
nicht von ihr wichen. Die Hälfte der jungen Männer New-Morks 
waren ganz verzweifelt bei dem Gedanken, daß drei fo ehrenwerthe 
Damen fich einer Derunglimpfung ausfepen follten. Eure Mutter 
ift nur gerichtlich belangt worden.” 

„Gerichtlich belangt worden? Wem ift fie etwas fchuldig, oder 
was Tann fie gethan haben, um fich diefen Schimpf zuzuziehen?“ 

„Ihr wißt, oder folltet e8 wenigftens wifjen, wie e8 in Diefem 
Lande zugeht, Littlepage; wir müffen ung ein bischen vor den Ge- 
richten herumfchlagen, felbft, wenn e8 und darum zu thun ift, gegen 
alles Recht zu Handeln. Ein offener, dreifter Schurke, der unverholen 
dem Geſetz Trotz bietet, ift eine wunderfeltene Erfheinung. Wir jpre- 

chen vieleicht dann am meiften von Freiheit, wenn wir ihr den tiefften 
Stoß verfeßen wollen, und auch die Religion betheiligt fich in nicht 
geringem Grade an unfern Laftern. So haben nun auch die Antiren- 
ters dem Geſetz aufgeboten, um für ihre Anfchläge eine Beihilfe zu 
finden. Wie ich höre, wurde einer von den Renffelaerd wegen Geldes 
verklagt, daß er in einem Fährboot borgte, um damit die Fahrt 
über einen Fluß bis an feine Hausthüre bezahlen zu Fönnen, und 
eine weitere gerichtliche Aufforderung betraf Kartoffeln, welche feine 
Gattin in den Straßen von Albany gekauft haben ſollte.“ 

„Bon den Renffelaers aber braucht Keiner Geld zu borgen, 
um einen Bährmann zahlen zu können, da diefer ihn ficherlich kannte; 
auch ftehe ich dafür, daß nie eine Dame aus der Familie Renfjelaers 


— 4 Straßen von Albany Kartoffeln gekauft hat.“ 


83 


„Ich finde, dag Ihr von Euren Reifen einige Kenntnig mit- 
gebracht habt," fagte Jack Dunning mit komiſchem Ernfte. „Eure 
Mutter ſchreibt mir, fie fei wegen fiebenundzwanzig Baar Schuhen ver- 
klagt worden, Die ihr ein Schuhmacher geliefert haben ſoll, von Dem 
fie nie etwas fah oder hörte, bis fie den Zahlungsbefehl erhielt.” 

„Dieß ift alfo eine von den Beläftigungsweifen, welche man 
in Anwendung bringt, um den Grundbefigern ihr Eigenthum zu 
entleiden?“ 

„sa. Und wenn die Grundbefitzer ſich ſogar auf ihre feier- 
lichen, mit gutem Vorbedacht eingegangenen Verträge berufen, 
welche in einem Grundgefeß eine heilige Bürgfchaft haben, fo ſchallt 
gleichwohl das Gefchrei über Ariftofratie und Bedrüdung aus dem 
Munde derfelben Menfchen, und. wiederholt fich unter vielen von den 
Gefhöpfen, die hohe Ehrenftellen unter ung einnehmen — oder 
Doch Ehrenftellen einnehmen würden — wenn diefe eine folche Be- 
zeichnung Durch den Umftand verdienten, daß fie mit würdigen Män- 
nern beſetzt wären." 

„Ich fehe, Ihr gebt Euren Worten keinen Hinterhalt, Jack.“ 

„Warum follte ich auch? Worte find das Einzige, was mir 
geblieben ift. Ich habe in der Regierung unſeres Staats fo wenig 
Gewicht, als jenem Srländer, der Euch eben einließ, nach fünf Jah— 
ren zuftehen wird. Weniger fogar, denn er wird durch feine Stimme 
eine Majorität anjchwellen helfen, während die meinige, da ich fie 
nur nach Grundſätzen abgebe, wahrfcheinlih für Niemand einen 
Nutzen hat.” | 

Dunning gehörte zu einer Schule, welche ziemlich viel ſpecu— 
lative und unausführbare Theorien mit einer gediegenen Grundſatz⸗ 
feftigfeit verbindet, fich aber nutzlos macht, weil fle nichts von einem 
Bergleich wiſſen will. Gleichwohl hielt er es nicht mit jener Klaffe 
von amerifanifchen Doftrinären, welche behaupten — nein nicht 
behaupten, denn in unferem Lande thut dieß Niemand mehr, was 
auch feine Anfichten über den Gegenftand fein mögen — \unhern 


6* 


ke 


84 j 


welche denken, daß die politifche Gewalt in Iehter Stufe das 
Eigenthum weniger fein müffe. Er verlangte vielmehr im Gegentheil, 
daß New-Nork umfaſſende Vollmachten und Berechtigungen haben 
müffe. Demungeachtet war er fein Freund des allgemeinen Stimm- 
rechts in feiner weiteflen Ausdehnung, wie es wirklich befteht — 
eines Stimmredhts, dem im Innern vielleicht volle Dreiviertheile 
der ganzen Bevölkerung abgeneigt find, obgleich fein einflußreicher 
Politiker der Jetztzeit den moralifchen Muth beſitzt, e8 auszufprechen. 
Dunning beugte fi) vor den Grundfäßen, nicht vor den Men- 
hen; er wußte wohl, daß ein untrügliches Ganzes nicht aus 
trüglichen Theilen beftehen durfte, und wenn er auch glaubte, daß 
viele Dinge durch Stimmenmehrheit zur Entſcheidung gebracht 
werden müßten, hielt er doch an der Anficht feft, daß es Rechte 
und Prinzipien gebe, die fogar der Einftimmigfeit, wie fie 
durch Menſchen Eund gegeben werven kann — geſchweige denn den 
Maforitäten unnahbar wären. Mit feinen politifchen Grundſätzen 
verband übrigens Dunning feine felbftfüchtigen Plane, da er nad 
feinem Amte ftrebte und deßhalb fih au nicht veranlaßt fah, 
eine Außenfeite anzunehmen, die nicht mit feinen Gedanken und 
MWünjchen im Einklang ftand. Er hatte feine Heimath nie verlaf- 
fen, da fonft wahrfcheinlich feine Anfichten von den Mißbräuchen 
in den verſchiedenen Syftemen, welche in der Welt Geltung haben, 
eine ganz andere Geftaltung gewonnen haben würden. Die ihm 
aus der täglichen Erfahrung befannten Berhältniffe ſtammten noth- 
wendig aus einer Demofratifchen Quelle, da es in Amerika weder 
einen Monarchen noch eine Ariftofratie gibt, durch welche eine an- 
dere Die Bergleichung möglichmachende Geflaltung der Dinge hätte 
hervorgerufen werden können, und da es auch unter folchen Zu— 
fänden an Mißbräuchen durchaus nicht fehlt, To darf eg Niemand 
wundern, wenn er zuweilen die Thatſachen ein wenig entflellte und 
die Uebel vergrößerte. 

„And meine edle, hochſinnige, ehrwürdige Mutter hat fich alſo 


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wirflich nach dem Neft begeben, um dem Feind entgegenzutreten ?" 
rief mein Onkel nach einer Baufe. 

„Sa wohl, und die edlen, hochfinnigen, aber nicht ehrwürdigen 
Mädchen find mit ihr gegangen,” entgegnete Mr, Dunning in 
feiner kauſtiſchen Weiſe. 

„Ihr meint wohl alle drei?“ 

„Ale drei — Martha, Henrietta und Anne.” 

„Es wundert mich, daß die Lebtere dieß gethan hat. Anna 
Marston ift ein fo ftilles, ruhiges, friedliebendes Mädchen, daß ich 
vermuthet hätte, wenigftens fie würde lieber bei ihrer Mutter blei- 
ben, da dieß natürlich recht gut angegangen wäre, ohne zu irgend 
einer Bemerkung Anlaß zu geben.” 

„Sleihwohl hat fie anders gehandelt. Miſtreß Littlepage 
wollte einmal den Antirenters entgegentreten, und die drei Jung— 
frauen ließen ſich's nicht nehmen, fie zu begleiten. Ohne Zweifel 
wigt Ihr, Ro, wie e8 bei dem zartern Gefchlecht ift, wenn es-fich 
etwas in den Kopf gefebt hat?” 

„Meine Mädchen find lauter gute Kinder und haben mir nie 
jonderliche Ungelegenheiten gemacht," antwortete mein Onfel wohl= - 
gefällig. 

„Dieß glaub’ ih Euch aufs Wort. Ihr feid. bei Eurem 
lebten Ausfluge nur fünf Sahre von der Heimath abweſend ge- 
weſen.“ 

„Gleichwohl kann man dem Vormund keine Sorgloſigkeit zur 
Laſt legen, da er Euch als Stellvertreter zurückließ. Hat Euch 
meine Mutter feit ihrer Ankunft unter den Schaaren der Philifter 
nicht geſchrieben?“ 

„Allerdings, Littlepage,” antwortete Dunning ernſt; ‚ich habe 
dreimal von ihr gehört, denn fie ſchreibt mir flets, ich ſolle mich 
ja nicht auf dem Beſitzthum blicken Laffen. Sch wollte fie befuchen, 
aber fie benachrichtigte mich, daß dieß zu einer Scene der Gewaltthat 
führen Eönnte, ohne etwas zu nüßen. Die Renten werden ut im 


86 


Herbft fällig; bis dahin iſt Mafter Hugh volljährig, und da zu 
erwarten ftand, er werde um dieſe Zeit hier fein, um felbft nach 
feinen Angelegenheiten fehen zu Eönnen, fo fühlte ich mich nicht 
bewogen, es für meine Berfon auf's Getheert- und Gefedertwerden 
ankommen zu laſſen. Wir amerikaniſchen Rechtsgelehrten tragen 
keine Perücken, junger Gentleman.“ 

„Schreibt meine Mutter ſelbſt, oder Läßt ſie reißen?“ fragte 
mein Onfel mit Theilnahme. 

„Sie beehrt mich mit ihrer eigenen Hand. Ich kann Euch 
jagen, Roger, daß fie fogar viel beffer ſchreibt, als Ihr.“ 

„Dieß kömmt Daher, weil fie einmal, wie fle jelbft zu Tagen 
pflegt, die Feffeln der Liebe getragen hat. Schreibt Martha gleich⸗ 
falls an Euch?" 

„Natürlich; Ihr wißt ja, daß wir Beide, die füße, Kleine Patty 
und ih, Bufenfreunde find.” 

„Und fagt fie nichts von dem Indianer und dem Neger.“ 

„Bon Jaaf und Susquefus? Ei freilich, Beide leben noch und 
find wohl. Ich habe fie felbft gefehen, und erft im lebten Winter 
noch von ihrem Wildbrät gegeflen.” 

„Don den alten Burfchen muß wohl jeder mehr als ein 
‚Sahrhundert auf dem Rüden haben, Jack; fie erwiefen fich bei 
meinem Großvater in dem alten franzöftfchen Krieg als fehr 
thätige, nüßliche Leute, und waren fchon damals älter als mein 
Großvater.” 

„Sa, wenn ein Nigger oder eine Rothhaut fich der Mäpigfeit 
befleißt, fo halten fie zäh am Leben. Laßt mich fehen, der Feldzug 
Abererombies fand vor ungefähr achtzig Sahren flatt. In der That 
die alten Knaben müſſen weit über hundert fein, obgleich Jaap 
wie der ältefte von Beiden ausfieht.“ 

„Ich glaube, Feiner von ihnen weiß die Zahl feiner Jahre an- 
zugeben, obſchon es fchon lange her ift, daß man Beide für hun- 
Prrbjäbrig hält, Namentlich war Susquefus, als ich ihn zum 


87 


lebten Male ſah, noch erftaunlich rührig — wie etwa ein Fräftiger 
Greis von Achtzig.“ 

„su letzter Zeit iſt er gebrechlich geworden, obſchon er, wie 
ich eben ſagte, noch im vorigen Winter einen Hirſch ſchoß. Wie 
mir Martha ſchreibt, verirren fie ſich oͤſter nach dem Neſt hin⸗ 
unter, und der Indianer iſt ſehr erbittert uͤber die jämmerlichen 
Nachahmungen ſeiner Raſſe, die jetzt im Schwunge ſind. Dem 
Vernehmen nach war er ſogar mit Jaaf willens, gegen die In- 
ſchens in's Feld zu rüden, Auf Seneca Neweome find fie ganz be- 
fonders erbost.” 

„Wie geht e8 Opportunity? Nimmt fie auch Theil an diefer 
Bewegung?" 

„Entfchieden, wie ich höre. Sie hält es mit den Antirenters, 
wünjcht aber zugleich mit ihrem Grundheren auf gutem Fuße zu 
ſtehen.“ 

„Ein merkwürdiger Verſuch, Gott und dem Mammon zugleich 
zu dienen! Sie iſt übrigens nicht die Einzige, ſondern wir haben 
wohl Tauſende, welche in dieſer Sache zwei Geſichter zur Schau 
tragen.“ 

„Hugh iſt ein Verehrer von Opportunity,“ bemerkte mein On- 
fel. „Ihr habt daher Urfache, in Euern Neuerungen Maaß zu hal- 
ten. Es verfteht fih, daß der moderne Seneca mit Leib und Seele 
gegen ung ift?" 

„Senefy möchte gern in die Gefebgebung kommen und ift 
deßhalb natürlich auf der Seite der Mehrheit. Auch hat fein Bruder 
den Mühlpacht, und wünfcht deßhalb natürlicher Weife ſelbſt Eigen- 
thümer zu fein, abgejehen davon, daß er noch weiter bei den Län— 
dereien betheiligt if. Was mir bei diefem Streit ald vorzugs- 
weiſe beachtenswerth auffiel, ift Die Naivetät, mit welcher man die 
augenfälligen Aeußerungen der Habgier den fogenannten Prinzipien 
der Freiheit anzupaflen bemüht ift. Hat Einer während einer Reihe 
von Jahren eine Farm bewirthſchaftet, fo ftellt er dreift den Sat 


88 


auf, diefe Thatfache an fich gebe ihm einen hochmoralifchen An« 
ſpruch, fie für immer zu befiben. Schon die flüchtigfte Unterfuchung 
muß den Zrugfchluß darlegen, in Folge deſſen diefe Sophiften ſich 
mit einer ſolchen Seelenſalbung ſchmeicheln. Sie bebauen ihre 
Farmen kraft ihrer Verträge als Pächter, und im moralifchen 
Sinne kann die Zeit Feine andere Wirkung üben, als daß fie den 
Kontrakt heilige, folglich bindender macht. Diefe Ehrenleute aber, 
deren Moral nur ihrem eigenen Sade gilt, bilden ſich ein, Die 
durch die Zeit geheiligten Verträge geben ihnen ein Recht, ſchon 
wegen ihrer Dauer von den übernommenen Bedingungen abzugeben 
und für den Fallıdes Ablaufs derfelben Anfprüche zu erheben, 
welche jogar weiter greifen, ald wenn das Pachtverhältniß noch in 
Wirkfamkeit ſtünde.“ 

„Schon gut, Jad, es ift nicht nöthig, fich in fo vielen Worten 
über eine Frage zu ergehen, deren Bedeutung fo leicht zu erfaflen 
‚if. Amerika ift entweder ein civilifirtes Land, oder es ift es nicht. 
Im erftern Falle wird es feine Geſetze und die Rechte des Eigen- 
thums achten, im andern aber ift dieß nicht zu erwarten, Millionen 
und Millionen Kapital find in pachtbarem Eigenthum angelegt, und 
das daraus entfpringende politische Verhältnig hat ſeit dem Beftand 
unferer Snftitutionen einen wefentlichen Theil derfelben gebildet; 
es gehört daher eine dreifte Etirne dazu, die Behauptung aufzu⸗ 
ftellen, daß das Pachtfyftem dem Geift unferer Staatseinrichtuns 
gen zuwider laufe, und ich glaube nicht, Daß irgend ein Mann in 
Albany Grüße genug beftbt, die bisherigen Grundfähe zu wider- 
legen. Man trägt fih zwar allgemein mit der Anficht, daB das 
Hinneigen, die Tendenz zu gewiffen Mißbräuchen, welche jedem 
Syftem inne wohnt, den Geift des Letzteren bilde, dieß iſt übri- 
geng ein Trugfchluß, defien Irrthümlichkeit man fchon bei geringem 
Nachdenken entdecken muß. Iſt es denn wirklich wahr, daß die 
Freiheitsfchreier die Ernennung von Bevollmächtigten beantragt 
haben, welche das Amt von Schied8richtern zwifchen den Grund- 


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beſitzern und Pächtern übernehmen und über Beſchwerdepunkte ent⸗ 
ſcheiden ſollen, die Niemand zu erheben berechtigt iſt?“ 

„So wahr wie das Evangelium, und wenn es fo weit kömmt, 
werden wir ein regelmäßiges Stern-Sfammer-Tribunal haben. Es 
ift doch wunderbar, wie überall die Extreme fich berühren!“ 

„Hierauf kann man fo fiher zählen, wie auf die Wiederkehr 
der Sonne am Morgen. Doch laßt uns jetzt von unferem Plan 
und von der Art fprechen, Jack, wie wir unentdeckt unter diefe 
durch ihre eigene Habgier verblendeten Menſchen kommen können. 
Ich bin feſt entfchloffen, felbft Augenfchein zu nehmen, um mir 
über ihre Beweggründe und ihr Benehmen felbft ein freies Urtheil 
zu bilden.” 

„Nehmt Euch vor dem Theerfaß und dem Federnfad in Acht, 
Roger!" 
„Sch werde nicht verfäumen.” | 

Der Gegenftand wurde nun ein Ranges und Breited verhan- 
delt; ich enthalte mich übrigens eines Bericht darüber, da er nur 
zu Wiederholungen führen würde, und verweife den Leſer auf den 
regelmäßigen Verlauf meiner Erzählung. Um die gewöhnliche 
Stunde begaben wir uns, — als Davidſon ſenior und junior, da uns 
dieſe Bezeichnung als paſſend und klug ſchien, — zu Bette. Am an⸗ 
dern Tage ſetzte ſich Mr. John Dunning für uns in Thätigkeit und 
leiſtete uns ſehr werthvolle Dienſte. Als alter Junggeſelle hatte 
er viele Bekannte beim Theater, und es gelang ihm, uns durch 
feine Sreunde aus dem Garderobezimmer mit Perüden zu verfehen. 
Ich und mein Onkel fprachen ziemlich gut deutfch, und unfer ur- 
ſprünglicher Plan Tief darauf hinaus, dag wir in der Eigenfchaft 
eingewanderter Haufirer mit Galanteriewaaren und Effenzen handeln 
jollten. Da ich aber eine Vorliebe für eine Drehorgel und einen 
Affen gefaßt hatte, jo Eamen wir endlich zu dem Beſchluſſe, daß 
Mr. Hugh Roger Littlepage fenior fein Abenteuer mit einer Kifte 
vol wohlfeiler Zundhölzchen und vergoldeter Meffingwanren antieten, 


“ . 


Mr. Hugh Roger Littlepage junior aber in der Rolle eines Leier- 
kaſtenmanns feine Heimath befuchen follte. Die Befcheidenheit ge- 
flattet mir nicht, in Betreff meiner muſikaliſchen Gefchieklichkeit 
Alles zu ‚jagen, was ich wünſchte; indeß muß ich Doch hier be= 
merken, daß ich für einen Dilettanten ziemlich gut fang, und daß 
ih fowohl auf der Violine ald auf der Flöte eine mehr als ge⸗ 
wöhnliche Fertigkeit beſaß. 

Im Laufe des folgenden Tages wurden alle erforderlichen Vor⸗ 
bereitungen getroffen, und unfere Perücken trugen dazu bei, die Ber- 
Heidung vollftändig zu machen. Da mein Onfel faft kahl war, fo 
beläftigte ihn die Perücke nicht fonderlich, während dagegen mir 
meine dichten Locken einige Noth machten. Die Scheere half übri- 
gens diefem Uebelftand ab, und ich mußte herzlich über mich felbft 
laden, als ih Nachmittags vor Dunnings Ankleidefpiegel mein 
Koftüm bewunderte. Das Verbot, bewaffnet und verkleidet aufzu⸗ 
treten, ging uns natürlich nichts an, da wir feine Wehr, fondern 
nur die Erforderniffe unferes Gewerbes mit uns führten. 


Fünftes Kapitel. 


„Ein folches Lächeln kennt die Erbe N 

Ein Lächeln , welches Reben hat und fpr 
Sich wie ein Strahl vertheilt und Ant A fällt, 
Bald flieht und bald das Antlitz neu erhellt, 
Und wenn es endlich anz und gar entweicht, 
Berftohlen ſich zurüd in's Auge jchleicht.“ 


Worbsworth. 


Am andern Morgen ſtaken wir ſchon mit dem Früheſten in 
unſern Verkleidungen, und ich glaube wahrhaftig, meine eigene 
Mutter würde mich nicht gekannt haben, wenn ſie fange genug ge⸗ 
lebt hätte, um meinen Badenbart zu jehen und Betrachtungen 
über mein männliches Geficht anzuftellen. Ich begab mich nad 
Dunnings Bibliothek, holte den Kleinen Leierkaften aus jeinem Ver⸗ 
ſteck hervor und begann den „Saint Patrickſtag am Morgen” mit 
Energie und — hoffentlich darf ich wohl auch beifügen — mit Ge⸗ 
wandtheit zu fpielen. Ich war eben in vollem Eifer, als die 
Thüre aufging, und Barney, den Mund fo weit offen, wie ein er⸗ 
frorenes Schwein, fein ſpitzbackiges Geficht in's Zimmer fledte. 

„Wo zum Teufel kommt Ihr her?” fragte der neugebadene 
Bediente, und die Muskeln um den offenen Mund wechfelten unter 
den Anzeichen des DBerdruffes und der Lachluſt. „Euer Georgel ift 
ſchon recht, aber wie fommt Ihr hieher?“ 

„Ich komme von Halle in Preußen. Was iſt Euer Vater⸗ 
land? *)“ 


*) Die Komik, welche in dem gebrochenen, mit deutſchen Worten untermengten 
Ente eined Deutichen liegt, läßt fich hier naturiich nicht nachbilden. 


92 


„Seid Ihr ein Jude?“ 

„Nein — ih Hin ein guter Chriſt. Wollt Ihr den Yankee⸗ 
Doodle hören?” 

„Dankee-Donner! Ihr weckt mir den Meifter auf, und er wird 
658 werben; fonft könntet Ihr mir fortorgeln bis zum jüngften 
Tag. Daß ich diefes Stück hier in meiner Bibliothek zu hören 
friege, und Alt-Irland ift doch dreitaufend Stunden entlegen.” 

Ein Gelächter von Dunning unterbrach das Geſpräch, und 
Barney verfhwand ohne Zweifel aus Furcht vor einer Art ame- 
rifanifcher Züchtigung für ein vermeintliches Vergehen. Oh der 
fafelnde, wohlmeinende, ehrliche Kerl wirklich entdedte, wer wir 
waren, da wir mit feinem Herrn frühftücten, weiß ich nicht; genug, 
wir nahmen unfer Mahl ein und verließen das Haus, ohne jein 
Geficht wieder zu fehen, da Dunning einen gelbgefichtigen Zungen 
im Haufe hatte, der den Dienft bei der Tafel bejorgte. 

Sch brauche kaum zu fagen, daß ich mich ein wenig beengt 
fühlte, als ich in ſolcher Verkleidung die Straßen von New-Morf 
durchzog; indeß gereichte mir die Gravität und Faffung meines 
Onfels ſtets zu großem Vergnügen. Auf dem Quai hatte er, noch 
ehe das Boot abftieß, eine Uhr verkauft, objchon ich diefen Erfolg 
dem Umftand zufchreiben zu müffen glaubte, daß ein Haufirer, wel= 
her in der Nähe gleiche Gefchäfte machte, den Preis für „gewif- 
jenlos niedrig” erklärte. Wir erfianden fir ung unter dem Vor— 
wande, daß wir unfer Eigenthum einfchließen müflen, ein gemäch- 
liches Paflagierzimmer, und fchlenderten, wie e8 Leuten unjerer 
Klgffe zuftand, gaffend und neugtertg im Boote umher. 

„Hier find wenigftens ein Dutzend Leute, die ich kenne,“ fügte 
mein Onfel bei Gelegenheit unſeres Umhergehens, als das Boot 
in der Nähe des Forts Washington hinruderte. „Sch habe 
mich überall umgejehen und finde ein volles Dutzend Befannte. 
Da ift 3.2. ein alter Schulfreund, mit dem ich ſtets auf fehr 
vertranlichem Buße fland; ich habe mich die febten zehn Minu— 


93 


ten mit ihm unterhalten, und finde, daß die Verkleidung nebft 
meinem gebrochenen Englifh ihrem Zwede entfpriht. Ja, ich 
glaube ‚fogar, meine theure Mutter jelbft würde mid nicht er⸗ 
kennen.“ 

„Dann können wir, wenn wir das Neſt erreichen, uns mit 
der Großmama und den jungen Damen einen Spaß machen,“ 
antwortete ich. „Was mich betrifft, ſo bin ich der Meinung, 
wir ſollten unſer Geheimniß fo lang wie möglich zu bewahren 
ſuchen.“ 

„Bst! jo wahr ich’ lebe, da iſt auch Seneka Newcome! Er 
fommt gegen und her, und wir müffen wieder Deutiche fein." 

Und richtig zeigte fich jetzt Squire Seneky, wie ihn die ehr- 
lichen Farmer in der Nachbarfchaft des Nefts nennen — obichon 
viele derfelben von ihrem Zreiben abſtehen müfjen, wenn nicht 
bald die Beilegung diejes Prädikats jo abgefhmadt werden foll, 
dag Niemand mehr die Berwegenheit haben wird, es zu brauchen. 
Neweome Fam langfam nach dem Vorderkaſtell, auf welchem wir 
fanden, und mein Onkel befchloß, fih mit ihm in ein Geſpräch 
einzulafien, eines Theil um die Kraft unferer Verkleidung weiter 
zu erproben, andern Theil um ihm etwa Mittheilungen zu ent- 
locken, die ung den Beſuch des Neftes erleichtern fonnten. In die⸗ 
fer Abfcht 30g der angebliche Hauflref eine Uhr aus der Tafche, 
dot fie demüthig dem Quafi-Rechtögelehrten zur Befichtigung hin 
und begann in gebrochenem Engliih: 

„Wollt Shr nicht eine Uhr kaufen, Gentleman ?" 

‚Se — mas? D eine Uhr!" entgegnete Senefa in jenem 
hohen, gemein herablaffenden Tone, mit welhem das Salz der 
Erde Diejenigen zu behandeln pflegt, welche an Einficht, Stellung - 
oder irgend einer andern großen Wefentlichkeit tief unter ihm er⸗ 
ſcheint, während es zu gleicher Zeit vor Neid berften möchte, wenn 
es über die Ariftofraten fchreit. „Eine Uhr aljo? Was jeid Ihr 
für ein Landsmann, Freund?” 


94 


„a Tſcharmans, ein Deutfcher.” 

„A German — ein Deitfcher; dieß iſt vermuthlich der Pla, 
von dem Shr kommt ?” 

„Nein — ein Deutfcher if ein Tſcharman.“ 

Ab, ſo — ih verfiehe! Wie lange feid Ihr ſchon in 
Ameriky?“ 

„Zwölf Monate.“ 

i, dieß iſt lang genug, um Euch bei und einzubürgern. 
Wo ſeid Ihr wohnhaft?“ 

„Nirgends; ich wohne, wie's eben kommt — das eine Mal 
hier, das andere Mal dort.“ 

„Ah, ich verſtehe — kein legales Domicil, ſondern Ihr führt 
ein wanderndes Leben. Habt Ihr viele von dieſen Uhren zu ver- 
kaufen?“ 

„Sa, ich habe ungefähr zwanzig; ſie find ſpottwohlfeil und 
gehen fo gut wie die großen Wanduhren.“ 

„Und was verlangt Ihr für diefe?" 

„Ihr Eönnt fie haben für den geringen Preis von acht Dol- 
lars. Jedermann wird fagen, fle ſei von Gold, wenn er e8 nicht 
beffer weiß.” 

„Ob, fe ift alfo nicht.von God — bigoſt!“ — was dieſer 
Ausruf bedeutete, habe ich nie recht erfahren können, obſchon ich 
vermuthe, es ſei ein puritanifches Surrogat für „bei Gott"; denn 
die Berfuche, in diefer Weife den Zeufel zu betrügen, find unter 
den frommen Abkömmlingen der ehrwürdigen Väter des Landes fo 
gewöhnlich, daß felbft „Smith Thompſon“ in einem folchen Ge- 
wifiensfall vergebens predigen würde. „Bigoft, Ihr hättet fogar 
mich anführen können! Ihr werdet übrigens Doch von diefem Preis 
etwas ablaffen?” 

„Dieleicht, wenn Ihr mir mit gutem Rath an die Hand gehen 
wollt. Ihr jeht aus wie ein rechtichaffener Schentleman, der einen 

nn Tſcharman gewiß nicht betrügen will, wie dieß von aller 


9 


Welt fo vielfach geſchieht. Ich will mich mit ſechſen begnügen, 
wenn Ihr mir guten Rath ertheilen wollt.” 

„Guten Rath? Da ſeid Ihr an den rechten Mann gekom⸗ 
men, Tretet ein wenig bei Seite, wo wir allein fein können. 
Um was handelt ſich's — um einen Civilprogeß oder um eine 
Injurie? 

„Nein, nein, von Gerichten brauche ich nichts, ſondern nur 
guten Rath." 

„Run, eine Berathung führt in hundert Fällen wohl neunund- 
neunzigmal vor Gericht." - 

„Ja, ja!" antwortete der Hauflrer lachend; „vieß mag wohl 
jo fein, aber ich brauche nichts dergleichen. Mir iſt es einzig 
darum zu thun, zu erfahren, wo ein Tſcharman im Lande und in 
den großen Städten mit feinen Gütern etwas machen kann.” 

„ab, ich begreife — ſechs Dollars fagt Ihr, dieß klingt hoch 
für eine Uhr von ſolchem Ausſehen,“ er hatte fie unmittelbar zu⸗ 
por für Gold gehalten — „aber ich bin fletd des armen Mannes 
Freund und verachte die Ariftofratie —“ — was Senefa mit feinem 
bitterften Haffe haßte, meinte er ſtets am meiften zu verachten, 
und unter Ariftofratie verſtand er blos Gentlemen und Ladies in 
der wahren Bedeutung diefer Ausdrüde. Sa, ich bin ſtets be- 
reit, einem ehrlichen Bürger fortzuhelfen. „Wenn Ihr Euch ent- 
ſchließen könntet, mir dieſe einzige Uhr umfonft abzutreten, fo 
glaube ih, Euch einen Strich namhaft machen zu koͤnnen, wo Ihr 
im Stande ſeid, die übrigen neunzehn in acht Tagen los zu werden.“ 

„Gut,“ rief mein Onkel hocherfreut; „nehmt ſie, fie iſt Euer 
Eigenthum und Euch von Herzen gegönnt; nur zeigt mir Die Stadt, 
wo ich die andern neunzehn verkaufen kann.” 

Wäre nun Onkel Ro ein ächter Sohn des Haufirhandels ge= 
weien, fo würde er jede von den neunzehn Uhren mit einem Ertra- 
Dollar belaftet und durch feine dermalige Freigebigkeit eilf Dols 


lars gewonnen haben. 


96 


„Es ift keine Stadt, nur eine Stadtmarkung,” entgegnete der 
buhftäblich genaue Seneka. „Meintet Ihr zulegt gar, ich rede von 
einer City?“ 

„Was kümmert mich dieß? Ich verkaufe meine Uhren jogar 
lieber an gutes, ehrliches Farmvolf, als an die beften Stabtbür- 
ger des Landes.“ 

„Ihr feid mein Mann und habt den rechten Geift in Euch. 
Hoffentlich feid Ahr Kein Patron, kein Ariſtokrat — ?" 

„Ih weiß nicht, was ein Badron oder ein Ariftofrat iſt.“ 

„Da feid Ihr ein glüdlicher Mann in Eurer Unwifienheit. 
Ein Patron if ein Edelmann, der anderer Leute Land eignet, und 
ein Ariftofrat ift eine Perfon, vie ſich für befjer hält, als ihren 
Nebenmenjchen, mein guter Freund.” 

„Dann bin ich freilich Fein Badron, denn ich eigne gar Kein 
Land, nicht einmal mein eigenes, und ich bin nicht beffer, als ir= . 
gend Jemand anderes.” 

„Hierin habt Shr recht, und Ihr braucht blos auf diefen 
Grundfägen zu beharren, um unter Allen der größte Gentleman 
zu fein." j 

„Sut fo, ich will's probiren und fo denken, damit ich beffer 

werde, als der größte Schentleman. So weit aber wird es nicht 
reichen, daß ich beffer wäre als Ihr, denn Ihr fein einer der 
größten unter allen Schentlemang. ” 
48, was mich betrifft, jo Fümmert Euch nicht um dieß. Ich 
verachte jede hohe Stellung und rufe: ‚Weg mit der Rente!“ Auch 
Euch wird's fo ergehen, noch ehe Ihr Euch acht Tage in unferer 
Gegend aufgehalten habt. 

„Bas ift denn die Rente, die Ihr wegkriegen möchtet?” 

„Ein Ding, das dem Geift der Inflitutionen geradezu wider: 
firebt, wie Ihr aus meinen gegenwärtigen Gefühlen entnehmen 
Zönnt. Doc) fei dem, wie ihm wolle, weil's Euch vecht iſt, will 


97 


ich die Uhr behalten und als Bezahlung Eu den Weg nach einem 
guten Landftrich zeigen.” 

„Einverftanden, Schentleman. Was ich brauchte, war der 
Rath, und Euch iſt's um eine Uhr zu thun.” 

Hier lachte Onfel Ro fo ganz, wie er felbft, während er doch 
augenfcheinlich in gebrochenem Englifch hätte lachen follen, daß 
ich in der größten Angft ſchwebte, unfer Begleiter Eönne aufmerf- 
fam werden; doch dieß war nicht der Fall. Bon Stunde an lebten 
wir mit Senefa auf dem beften Fuße, und er begrüßte ung im 
Laufe des Tages zu wiederholten Malen mit Lächeln und Winfen, 
obſchon ich deutlich ſehen Eonnte, daß die antiariftofratifchen Grund- 
fäge doch nicht fo tief in ihm gewurzelt hatten, um ihn wünfchen 
zu laffen, feine Bertrautheit mit ung möchte augenfällig werden. 
Indeß gab er ung, noch ehe wir die Infeln erreichten, Weifungen, 
wo wir ihn am Morgen zu finden hätten, und wir trennten ung 
denfelben Nachmittag, als das Boot neben dem Hafendamm von 
Albany Halt machte, in der beften Freundfchaft von der Welt. 

„Albany, theures, gutes, altes Albany!” rief Onkel Ro, als 
wir an dem Brüdenzuge Halt machten, um das gefchäftige Treiben 
in dem Beden zu betrachten, wo buchftäblich Hunderte von Kanal- 
booten ab⸗ und zufuhren und ihre Ladungen Löfchten, der übrigen 
Fahrzeuge gar nicht zu gedenken. „Theures, gutes, altes Albany, 
du bift eine Stadt, zu welcher ich ſtets mit Vergnügen zurückkehre, 
denn du wenigftens wirft mich nie täufchen. Du bift eine Land⸗ 
ſtadt erften Ranges, und obgleich ich deine zierliche, alte hollän- 
difche Kirche und deine Ländlich ausfehende alte englifche Kirche im 
Mittelpunkt deiner Hauptftraße vermiſſe, fo ift doch faft jeder 
Wechfel, den du vornimmft, achtbar. Zwar Tann ich dir's nicht 
verzeihen, daß du den Namen Markiftraße durch die jämmerliche 
Rahahmung des Broadway verketzert haft; aber wenn ich bedenke, 
wel’ eine Horde von Yankees ſeit dem Beginn des gegenwärtigen 
Jahrhunderts über dich gekommen ift, jo Darf du noch von SF 

Ravenöneft. ⁊ 


98 


fagen, daß deine Straße nicht die appianifche genannt wurde. 
Treffliches, altes Albany, deffen Herz nicht einmal die Berderbnifie 
der Politik umzuwandeln vermochten, — wie herrlich Liegt du an 
deinem Bergabhange, umgeben von einer malerifchen Landfchaft! 
Du lebſt in einer Atmoiphäre von Achtbarkeit, die ich bewundere, 
und dein ruhiger Wohlftand ift meinem Herzen theuer. Und doch 
wie fehr haft du dich feit meiner Knabenzeit verändert! Wo find 
deine einfachen Stoups und deine Giebel? Zwar erheben fih aud) 
Marmor und Granit in deinen Straßen, aber fie zeigen fich in 
ehrbaren Geftalten und find frei von dem Ehrgeiz, die Stelzen be- 
fteigen zu wollen. Dein Beden hat wohl den ganzen Charakter des 
Fluſſes verändert, der in feiner Waldlandfchaft ein ruhiges Handels⸗ 
treiben zeigte; aber ex verleiht deiner mannhaften Jugend ein Ge⸗ 
präge von Ueberfluß und Wohlftand, welches dir ein gedeihliches 
Alter verheißt!" 

Der Lejer kann fich denken, daß ich herzlich über diefe Rhap⸗ 
fodie lachte, denn ich vermochte in die Gefühle meines Onkels 
kaum einzugeben. Albany ift allerdings ein recht hübſcher Platz, 
und befigt beziehungsweife ein weit achtbarered Gepräge, als jenes 
„commerzielle Emporium," welches feinem Aeußern nach nur eine 
weit ausgedehnte Maſſe fehr augenfälliger Mittelmäßigkeit ift, ob⸗ 
ſchon es eine wirkliche Großftadt zu fein wähnt; gleichwohl aber 
kann Albany doch nur eine Provinzialfiant genannt werden, wie _ 
hoch fie auch in dieſer Klaffe fehen mag. Ich muß hier beiläufig 
bemerken, daß fich das amerikanische Volk in Nichts mehr täufcht, 
als in dein Bemeffen der Erforderniffe einer Großſtadt. Es wäre 
lächerlich, annehmen zu wollen, daß die Nepräfentanten unferer 
Regierung im Stande feien, was immer für einem Plabe den 
Zon, die Anfihten, die Gewohnheiten und die Sitten einer Haupt- 
fladt zu verleihen; denn wenn dieß der Fall wäre, fo müßte es 
nach dem nagelneuen Grundſatze gefcheben, daß man Etwas geben 
kanm was man nicht beſitzt. Selbft der Congreß, obſchon ex von 


99 


den meiften Feſſeln, einfchließlich derer, welche die Gonftitution in 
ih faßt, ziemlich frei ift, vermag.-fich nicht fo weit zu heben. 
Meiner Anficht nach Eönnte man einen Menjchen, der weiß, was 
Welt if, mit verbundenen Augen nach dem fchönften Viertel New- 
Morks führen, und ich fee mein Leben daran, er würde, fobald ihm 
die Binde abgenommen wäre, erklären, daß er fih nicht an einem 
Drte befinde, wo der Ton einer Hauptfladt eriftirt, obichon New⸗ 
York manche neue Stadttheile befikt, in welchen die bereits er- 
wähnten Ungereimtheiten nicht vorkommen. Der Handel ift am 
allerwenigften geeignet, eine Hauptftadt zu fchaffen, und man kann 
fiher darauf zählen, daß man ſich in einer folchen nicht befindet, 
wenn man unaufhörlich die Worte „Gejchäft" und „Kaufleute” 
in den Ohren Klingen hört. Zwar ift ein new-yorkiſches Dorf 
oft viel weniger ländlich, als die Dörfer der am weiteften vor- 
gefchrittenen europäifchen Länder; aber die Stadt New- Hort 
fteht weit unter jeder Hauptfladt irgend eines großen Staates der 
alten Welt. 

Wird wohl New-Morf je eine Hauptftadt werden? Ja — ohne 
alle Frage ja — e8 wird übrigens erft dann der Fall fein, wenn die 
plöglichen Wechfel der Zuftände, welche fo naturgemäß unmittelbar 
auf die Revolution folgten, aufgehört haben, ihren Einfluß auf die 
newöhnliche Gejellichaft zu üben, und die höher Stehenden den 
Niedrigern wieder mehr mittheilen, als fie empfangen. Diefe Wie- 
berherftellung des natürlichen Standes der Dinge muß Platz greifen, 
fobald die Geſellſchaft ſtändig wird; dann ift unter unferen Inſti— 
tutionen fammt ihrem Geiſt, ihren Tendenzen und Allem Eeine 
Stadt mehr gehindert, jenen feinen Ton zu erringen, der von jeher 
zu einer Hauptfladt gehörte. Die Thorheit befteht darin, daß man 
dem natürlichen Lauf der Ereigniffe vorgreifen will; aber nichts 
wird denfelben mehr befchleunigen, als eine Literatur, in welcher 
der Geift der Edlen im Lande, nicht der des großen Haufens waltet; 
und eine jolche Literatur wäre größtentbeils erſt noch zu jchaffen, 


7* 


100 


Nachdem ich mit meinem Affen ein paar Stunden umherge- 
zogen war, febte ich ihn ab. und trieb mich blos noch mit meiner 
Muſik um; denn ich hätte Fieber mit einer ganzen Armee von Anti- 
Renters, als mit dieſem einzigen Affen fertig werden wollen. Ich 
folgte daher, den Leierfaften ungehangen, meinem Onkel, der wieder 
- eine Uhr verkaufte, noch ehe wir ein Wirthshaus erreichten. Natür- 
lich maßten wir ung nicht an, nach der Gongreßhalle oder nach dem 
Adler zu gehen, weil wir wohl wußten, daß wir nicht zugelaffen 
werden würden. Diefer Theil unferer Abenteuer fiel ung am be= 
ſchwerlichſten. Meiner Anftcht nach beging mein Onfel einen Miß⸗ 
griff, denn er wagte fich in ein Wirthshaus zweiten Ranges‘, weil 
er meinte, die Verpflegung, wie man fie in Herbergen fände, die 
für Leute unferes angeblichen Schlages paßten, dürfte gar zu rauh 
für ung ausfallen. Ich glaubte übrigens, wir hätten uns. in die 
grobe Koft einer gemeinen Schenke weit beſſer finden können, als 
in die ſchäbig gentile des Haufes, in welches wir ung verirrt hat- 
ten; denn im erflern Falle wären wir durch Alles, und zwar in 
einer Weife, wie wir es erwarten mußten, daran erinnert worden, 
daß wir und auf einem außergewöhnlichen Wege befanden, und 
troß aller Befchwernifle hätte ung der Wechfel Vergnügen bereiten 
fönnen. ch erinnere mich, von einem jungen Manne gehört zu 
haben, der, nachdem er feine früheren Jahre in angenehmen Ver⸗ 
hältniffen verlebt hatte, zur See ging und feine Laufbahn als 
Matrofe vor dem Maft begann; diefer erklärte, die Nohheit feiner 
Schiffsgefährten zu gewöhnen — und doch findet fich bei einem wah- 
ren Matrojen, felbft bei dem roheften, Feine Gemeinheit, — fei ihm 
fchwerer geworden, als alles Ungemach, Das er von den Stürmen, 
förperlichen Zeiden, Mühen und Gefahren zu erdulden gehabt habe. 
Sch muß geftehen, daß es mir in meiner kurzen Erfahrung ebenfo 
ging. So lange ich mich als wandernder Mufifant umbertrieb, 
konnte ich mich in Alles beffer finden, als in das rohe Benehmen, 
welches bei Tifch herrfchte. Auf die Gewohnpeit, mit filbernen 


101 


Gabeln zu fpeifen, und ähnliche Eonventionelle Dinge legt natürlich 
fein Mann von Welt ernſtes Gewicht; aber dennoch gibt es Kon⸗ 
ventionalitäten, die zu den Grundprinzipien einer gebildeten Gefell- 
haft gehören und deren man in der That nicht gut entrathen kann, 
weil fie zur zweiten Natur geworden find. — Ich will übrigens 
möglichft wenig von den Unannehmlichkeiten meines neuen Gewerbes 
fprechen, jondern mich nur an Wefentlichkeiten halten. 

Am Morgen nach dem Tage, an welchem wir zu Albany anlang- 
ten, bedienten wir ung der Eifenbahn, um über Troy (Troja) nad) 
Saratoga zu geben. Es wundert mid, warum ed der Trojaner, der 
bier zuerft den Humor traveftiren zu fönnen glaubte, nicht für paflend 
hielt, den Platz Troyville oder Troyborough zu nennen, da dieß 
wenigftend halb anrerifanifch gewefen wäre, während die gegen- 
wärtige Bezeichnung fo rein Elaffifch Elingt. Es ift unmöglich, durch 
die Straßen diefer hübfchen, blühenden Stadt, welche bereits zwan⸗ 
zigtaufend Seelen zählt, zu durchwandeln, ohne durch die Bilder des 
Achill, des Hektor, des Priamus und der Hekuba ein bischen un= 
angenehm bedrängt zu werden. Hätte man den Ort Try (Verſuch) 
genannt, fo würde Doch die Bezeichnung einen verfländigen Sinn 
haben, denn man macht hier alle erdenklichen Verſuche, fich über 
Albany hinaufzufchwingen; und fo fehr ich auch diefe letztere, ehr- 
würdige, alte Stadt liebe, hoffe ich doch, die Bemühungen Troys, 
den Hudfon nicht überbrüden zu laffen, werden gelingen. Beiläuflg 
muß ich hier zum Beften Derjenigen, welche außer ihrem eigenen 
Lande nie ein anderes gejehen haben, bemerken, daß auf dem Wege 
zwifchen Scheneftady und diefem griechifchen Platz, an der Stelle, 
wo die Höhen zuerft das ganze Hudfonsthal mit Waterford, Lan 
fingburg, Albany und den beiden Troys überbliden Laffen, eine 
Ausfiht zu finden ift, welche eine beffere Vorſtellung von dem 
Wohlſtand einer europäifchen Landſchaft gibt, als irgend ein an⸗ 
derer Punkt, deffen ich mich in Amerika erinnern kann. Doch, u um 
auf meinen Leierfaften zurüdgufommen : 


102 


Ich machte meinen erften muſikaliſchen Verfuch unter den Fen⸗ 
ftern des Hauptwirthshaufes von Troy. Ohne viel zu Gunften 
meines Inftrumentes jagen zu wollen, glaube ich doch behaupten 
zu dürfen, daß fich meine Muſik recht ordentlich ausnahın; denn 
bald bemerkte ich ein Dugend ſchöner Gefichter in den Fenftern des 
Gafthofes, und auf jedem derfelben fpielte ein Liebliches Lächeln. 
Es that mir nur leid, daß ich den Affen bei mir hatte; ſolch' ein 
Anfang mußte mohl den fchlafenden Ehrgeiz fogar eines „Patrioten” 
vom reinften Waſſer weden, und ich geftehe, daß ich zufrieden war. 

Unter den Neugierigen, welche ich am Fenfter bemerkte, be— 
fanden fich zwei Perfonen, welche mir fogleih als Vater und 
Tochter vorfamen. Der Erftere war ein Geiftliher und mochte 
wohl feiner äußern Erfcheinung nach zur „Kirche“ gehören. Ach 
bitte Diejenigen, welche an diefem ausschließlichen Titel Anftoß neh- 
men könnten, um Verzeihung, und will ihnen in Vorbeigehen nur 
einen Win geben. Wer überhaupt die Menfchen fennt, wird mit 
mir einverftanden fein, Daß Niemand, der fi) im Befig irgend 
eines befondern Vortheils weiß, eine fonderliche Empfindlichfeit an 
den Tag legt, wenn diefer auch von Andern in Anfpruch genommen 
wird. An den beftändigen Kämpfen der Eiferfucht z. B., nament- 
lich wenn diejelben aus jener fo allgemeinen Quelle, der gejelligen 
Stellung, ftammen, betheiligt fich gewiß Derjenige nie, welcher ſich 
jeines innern Werth8 bewußt ift, da ihm die augenfällige Thatſache 
genügt. Will man mir hierauf erwiedern, daß fich die „Kirche“ 
eine Befugniß zum Ausſchließen anmaßt, fo widerfpreche ich ficher- 
lich nicht, da fie hiezu das volle Recht bat. Mebrigens ift fie 
nicht in dem Sinne, den man ihr gewöhnlich zur Laft legt, aug=- 
ſchließend, ſintemal Niemand in Abrede zieht, e8 gebe viele Zweige 
der „Kirche“, obſchon diefe nicht Alles umfaffen. Sch möchte Denen, 
welche Anftoß daran nehmen, daß wir ung „die Kirche" nennen, 
rathen, fich gleichfalls diefe Bezeichnung beizulegen, wie fie ja auch) 
ibre Beiftlichen Bischöfe nennen, und man wird dann fehen, wer 


103 


fi darum kümmert. Diep if ein Probierftein, durch welchen das 
gediegene Metall fich Leicht von der Legirung unterfcheiden Täßt. 

Mein Pfarrer war, wie ich Leicht fehen Eonnte, ein kirchli— 
der, fein „meeting house‘ Geiflliher. Wie mir dieß auf den 
erſten Bli ar wurde, will ich hier nicht weiter erörtern; ich be= 
merkte übrigens auch in feinem Geficht etwas von jener Neugierde, 
weldye auf einen einfachen Charakter fchließen läßt, ohne auch nur 
eine Spur von Gemeinheit zu verrathen. Es war ein Gefühl, 
welches ihn bewog, mich ein wenig näher heran zu winken. Ich 
entfprach diefer Einladung, obfchon ich geftehen muß, daß der Ge⸗ 
danke, einer folchen Aufforderung Folge geben zu follen, mich Anfange 
ein wenig linkiſch machte. Es lag übrigens Etwas in der Miene und 
dem Antlik der Tochter, was mich veranlaßte, nicht zu zögern. Ich 
kann nicht eben fagen, daß das Mädchen eine auffallende Schönheit 
war, obſchon fie entjchieden hübfch genannt werden mußte, Dennoch) 
war der Ausdrud des Geſichts, des Lächelns, der Augen, kurz Alles 
zufammen fo eigenthümlich für und weiblich, daß eine Sympathie, 
die ich nicht zu erklären verfuchen will, mich nach dem Haufe hin- 
drängte und mich bewog, nach dem Zimmer hinaufzugehen, dag, 
wie ich wohl jah, Jedem zugänglich war, objchon es zur Zeit Nie⸗ 
mand als den Geiftlichen und feine Tochter barg. 

„Nur herein, junger Mann,“ fagte der Vater in wohlwollen- 
dem Zone. „Ich möchte Euer Inftrument näher betrachten, und 
meiner Tochter, welche eine Freundin von Muſik ift, ergeht e8 eben 
fo. Wie nennt man e8?" 

„Leierkaften,“ lautete meine Antwort. 

„Aus welchem Theile der Welt kommt Ihr, junger Freund?" 
fuhr der Geiftliche fort, feine fanften Augen noch neugieriger zu 
den meinigen erhebend. 

„Bon Tſcharmany, von Preußen, wo kürzlich noch der gute 
König Wilhelm regierte," erwiederte ich in gebrochenem Engliſch. 

„Was fagt er, Molly?" 


“ 


104 


Das hübfche Weſen führte alfo den Namen Marie! Aber auch 
die Molly geflel mir; es war ein gutes Zeichen, da in unfern ehr⸗ 
geizigen Zeiten nur achtbare Berfonen jo vertrauliche Namen ge⸗ 
brauchen. Das ‚Molly‘ Hang mir als ein Beweis, daß diele Per- 
fonen fich ihrer würdigen Stellung und Bildung bewußt jeien. 
Ein gemeiner Sinn würde ein ‚Molliffa‘ daraus gemacht haben. 

„Die Ueberſetzung fällt nicht ſchwer, Vater,” antwortete eine 
der ſüßeſten Stimmen, die je melodijch in mein Ohr geklungen hat⸗ 
ten, und fie wurde noch mufitalifcher durch das leiſe Lachen, das 
fich drein mifchte. „Er fagt mir, er fei aus Deutfchland, aus Preus 
Ben, wo kürzlich der gute König Wilhelm regierte.” 

Auch der „Bater“ gefiel mir — es Elang wahrhaft erfrifchend, 
nachdem ich eine Nacht unter einem Abenteurer» Zroß zugebracht 
hatte, von dem jedes männliche oder weibliche Glied bemüht gewes 
jen war, feinen Antheil dazu beizutragen, um die ehedem beliebten 
Beizeichnungen zu ‚Pa‘ und ‚Ma‘ zu karikiren. Ein junges Frauen- 
zimmer fann zwar noch immer ‚Papa‘ oder auch „Mama* fagen, 
obſchon es befjer wäre, fie hielten fi an die Worte ‚Bater, Mut- 
ter; aber was die Ausdrüde ‚Pa‘ und Ma' betrifft, fo haben diefe 
in achtbaren Kreifen ihre Endfchaft erreicht und finden nicht ein- 
mal mehr in der Ammenftube Geltung. 

„Dieß Inftrument ift alfo ein Leierkaften?” fuhr der Geiftliche 
fort. „Und was ift denn dieß — die Buchftaben, die darauf ftehen ?" 

„Es if der Name des Verfertigers: „Hochftiel fecit‘." 

„Feecit?” wiederholte der Geiftliche. „Iſt dieß deutſch?“ 

„Nein — e8 ift lateiniſch; facio, feci, factum, facere — 
feci, fecisti, fecit. Ich denke wohl, Ihr wißt, daß dieß ‚er 
hat’8 gemacht‘ heißt.” 

Der Pfarrer ſah mich und meinen Anzug mit unverholener 
Ueberrafhung an; dann blidte er lächelnd nach feiner Zochter 
hin. Wenn man mid fragt, warum ich info einfältiger Weiſe 
eine Schuljungen-Gelehrfamfeit ausframte, fo kann ich nur fagen, 


105 


daß ich ungern von dem bezaubernden Mädchen, welches fich an⸗ 
muthig über den Ellenbogen ihres Vaters beugte, als diefer die 
Inſchrift auf einer Elfenbeinplatte meines Inftrumentes las, für 
einen bloßen alltäglichen Straßenmufifanten gehalten fein wollte, 
der feinen Affen zu Haufe gelaflen hat. Ich Eonnte jehen, daß 
Marie unter der ihrem Gefchlecht jo natürlichen Empfindſamkeit 
ein wenig zurüdwich und zu weit gegangen zu fein glaubte, indem 
fie fih jo ungezwungen in der Anwefenheit eines jungen Menfchen 
benahm, der ihrer eigenen Klaſſe näher ftand, als fie dieß bei einem 
Zeierkaftenfpieler für möglich gehalten hätte. Sie erröthete, aber 
der Blid des fanften blauen Auges, welcher jchnell darauf folgte, 
ſchien Alles wieder zu bereinigen, und fie lehnte fi) abermals über 
den Ellenbogen ihres Baters. 

„Ihr verfteht aljo Lateigifh?" fragte der Vater, mich über 
feiner Brille weg mufternd. 

„Ein wenig, ein Klein wenig, Sir; in meinem Lande muß 
Jeder eine Zeit lang Soldat fein, und wer etwas Iateinifch verfteht, 
kann Sergeant und Corporal werden. * 

„Das wäre in Preußen?” 

„Sa, in Preußen, wo kürzlich noch der gute König Wilhelm 
regierte." 

„Und wird die lateinifche Sprache viel unter Euch gepflegt? 
Ich habe gehört, daß in Ungarn die meiften gut unterrichteten Per- 
fonen fie fogar reden.” | 

„sn Ziharmany ift es nicht fo. Wir Alle lernen Etwas, aber 
nicht Alle lernen Alles." 

Nachdem ich mich diefer Anficht mit, wie ich meinte, vollfom- 
men richtiger Unrichtigkeit entledigt hatte, Eonnte ich bemerken, wie 
ein Lächeln die füßen Lippen des lieblichen Mädchens umzudte; es 
gelang ihr übrigens, dafjelbe zu unterdrüden, obfchon ihre ſchel⸗ 
miſchen Augen während des ganzen Geſprächs zu Lachen fortfuhren. 

„Sch weiß wohl, daß in Preußen die Schulen jehr gut find, 


106 


und dag Eure Regierung für die Bebürfniffe Aller Sorge trägt,“ 
entgegnete der Geiftliche. „IndeB Tann ich meine Berwunderung 
nicht bergen, daß Ihr Etwas vom Lateiniſch verfteht. Sogar i in 
diefem Lande, wo man fich fo viel einbildet — 

„Ja,“ unterbrach ich ihn in gedehntem Tone, — „man bildet 
fih gar viel ein in diefem Lande." 

Marie lachte jetzt hell auf — ob über meine Worte oder 
über die etwas komiſche Weife, die ich angenommen hatte, als ich 
meine Einfalt mit etwas Ironie würzte, weiß ich nicht zu fagen. 
Jedenfalls erfaßte der Vater den Spott nicht, und nachdem er höf- 
li gewartet hatte, bis ich mit meiner Unterbrechung fertig war, 
fuhr er in feiner Rede wieder fort. 

„Ich wollte beifügen,” nahm der Geiftliche wieder auf, „daß 
fogar in diefem Lande, wo man ſich fg viel einbildet” — der Kleine 
Schelm von Tochter fuhr mit der Hand über ihre Augen und errös 
thete bis zur Stirne unter der Anftrengung, mit der fie ein aber- 
maliges Lachen zu unterdrüden bemüht war, — „auf die gewöhn- 
lihen Schulen und auf den Einfluß, den fie auf den Hffentlichen 
Geiſt üben, fich nicht Häufig Perfonen Eures Standes finden laffen, 
welche Etwas von der todten Sprache wiſſen.“ 

„Ja,“ verjeßteich, „mein Stand iſt's eben, der Euch irre führt, 
Sir. Mein Bater war ein Schentleman, und er gab mir eine fo 
gute Erziehung, wie der König dem Kronpringen. “ 

Mein Wunſch, in Mariens Augen mich gut auszunehmen, ver- 
Iodte mich abermals zu einer albernen Unklugheit. Wie follte ich 
den Umftand erklären, daß der Sohn eines preußischen Gentleman, 
der von feinem Vater eine Erziehung genofjen hatte, wie fie der 
König von Preußen dem Thronfolger ertheilen ließ, in den Stra- 
Ben von Troy mit einem Leierkaften herum 309? Dieß war eine 
Schwierigkeit, welche ich im Augenblid nicht bedachte. Aber die 
Borftellung, von jenem holden Mädchen als ein bloßer ungehobelter 
Bauer betrachtet zu werden, war mit unerträglich, und ich entichlug 


107 


mich ihrer durch dieſe verzweifelte Unwahrheit, — eine Unwahrbeit 
in ihren Beigaben, objchon in der Hauptfache richtig — wie man 
etwa eine Befchimpfung von fi) abweist. Das Glück begünftigte 
mich übrigens weit mehr, als ich zu erwarten berechtigt war. 

Es gehört unter die Eigenthümlichkeiten im Charakter des 
Amerifaners, daß er jeden gebildeten Europäer mindeftens für 
einen Grafen zu halten geneigt ift. Ich will damit nicht fagen, daß 
Diejenigen, welche die Welt gefehen haben, in dieſer Beziehung nicht 
eben fo find, wie andere Leute, aber ein fehr großer Theil der 
Landesbevölkerung hat nie eine andere Welt, als die „Gefchäftswelt‘ 
fennen gelernt. Die Leichtgläubigkeit in diefer Hinficht überfteigt alle 
Begriffe, und wenn ich Thatfachen berichten wollte, die fich fogar 
gerichtlich belegen laſſen, fo würden felbft Die Dabei betheiligten Per- 
fonen fih zu einem Eid erbieten, daß fie Karikaturen jeien. 

Nun an Lebensart fehlte e8 mir hoffentlich nicht, und troß mei- 
nes einfachen Anzugs und meiner Maske konnte weder meine Hal- 
tung, noch meine Tracht abjolut gemein genannt werden. Meine 
Kleider waren neu und mein Aeußeres reinlich, in Lebterem konnte 
man vielleicht eine Ungereimtheit entdeden, die tiefer blidenden Au= 
gen, als die meiner Gefährten waren, wahrfcheinfich nicht entgangen 
fein würde. ch Eonnte bemerken, daß fowohl Vater als Tochter 
ein lebhaftes Intereſſe für mich empfanden, fobald ich ihnen Grund 
zur Annahme gab, ich habe früher in befferen Glücksumſtänden ge> 
lebt. Weber die Berhältniffe und Berwidlungen in Europa herr: 
Ichen unter ung fo unklare Vorftellungen, daß ich über die politifche 
Stellung Preußens das unwahrfcheinlichfte Mährchen hätte vorbrin- 
gen können, ohne dag daran Anftoß genommen worden wäre; denn 
mit der Unwiffenheit der Amerikaner in Betreff des wahren Stande 
der Dinge in Europa läßt fich nicht vergleichen, als die Unwiflen- 
heit, welche in Europa 'hinfichtlich der eigentlichen Verhältniſſe Ame⸗ 
rika's herrſcht. Was Marie betraf, fo ſchienen ihre fanften Augen 
dreifach ihre gewohnte Milde und Theilnahme auszudrüden, als fe 


108 


nach meiner Erklärung in angeborner Befcheidenheit einen Schritt 
zurüdwich und mich anfah. 

„Wenn dieß der Fall ift, mein junger Freund," erwiederte der 
Geiftlihe mit wohlwollendem Mitgefühl, „fo verdientet Ihr wohl 
eine befjere Stellung, als die ift, in der Ihr Euch befindet, und es 
dürfte dafür leicht Nath zu fchaffen fein. Verſteht Ihr Etwas von 

Griechiſchen? 
| „Wohl, man ftudiert viel Griehifh in Tſcharmany!“ „Wer 
A gejagt hat, muß auch B fagen,“ dachte ich. 

„Und die neuern Sprachen — verfteht Shr auch Etwas davon?” 

„Die fünf Hauptiprachen Europa's rede ich mehr oder weniger 
gut; leſen kann ich fie alle mit Leichtigkeit." 

„Die fünf Hauptfprachen?" verfegte der Geiftliche, an feinen 
Fingern zählend; „welche mögen dieß fein, Marie?" 

„Franzöfiſch, fpanifch, deutſch und italienisch, glaube ich, Vater!" 

„Dieß macht nur vier, welche mag die fünfte fein, mein 
liebes Kind?" 

„Die junge Dame vergißt das Englifhe. Die englifche 
Sprache ift die fünfte.” 

„D ja, das Englifche,” rief das hübfche Wefen, die Lippen zu- 
fammenpreffend, um mir nicht in's Geſicht zu lachen. 

„Richtig, ich Hatte das Englische vergeffen, weil ich nicht daran 
gewöhnt bin, es als blos europäifche Sprache zu betrachten. Ich 
jege natürlich voraus, daß Ihr das Englifche weniger geläufig 
Ipreht, als jede andere von Euren fünf Sprachen?” 

„Ja. 

Abermals zuckte ein Lächeln um Mary's Lippen. 

„Ich fühle die lebhafteſte Theilnahme für Euch, obſchon Ihr 
ein Fremder ſeid, und es thut mir nur leid, daß wir uns ſobald 
wieder trennen müſſen, nachdem wir uns kaum gefunden. Wohin 
werdet Ihr sun Eure Schritte lenken, mein junger preußifcher 
Freund?“ 


109 


„Ich will nach einem Platze, Ravensneft genannt — dem 
Bernehmen nad kann man daſelbſt einen guten Abfab für Uhren 
finden.” 

„NRavensneft?” rief der Vater. 

„Ravensneft?" wiederholte die Tochter in Tönen, welche die 
des Leierkaftens zu Schanden machten. 

„Ei, Ravensneft ift der Ort, wo ich lebe, und das Kirch⸗ 
fpiel, deffen Geiftlicher ich hin — der proteftantifche bifchöfliche 
Geiſtliche, meine ich.” u 

Dieß war alfo Mr. Warren, der Geiftliche, welcher in dem⸗ 
felben Sommer, in welchem ich die Heimath verließ, für unfere 
Kirche berufen worden war und feitdem an derfelben feinem Amte 
vorgeftanden hatte! Aus den Briefen meiner Schwefter Martha 
war mir viel über diefe Leute mitgetheilt worden, und e8 kam mir 
jetzt vor, als hätte ich fie fchon feit Jahren gekannt. Mr. Warren 
war ein Mann von guter Familie und einiger Erziehung, obſchon 
ohne Mittel, und hatte fich gegen den Wunfch feiner Freunde dem 
Dienfte der Kirche geweiht, welcher feine Vorfahren angehört 
hatten und in der einer feiner Ahnherren vor einem oder zwei Jahr⸗ 
Hunderten fogar bis zur Würde eines englifchen Bifchofs geftiegen 
war. Um feiner Predigten willen ftand er nicht fonderlich im Rufe; 
Dagegen befaß er das Lob einer treuen Pflichterfüllung und erfreute 
fich deßhalb der größten Achtung. Die Pfründe der Saint-Andrews- 
Kirche zu Ravensneft wäre dürftig genug gewefen, wenn fte allein 
aus Beiträgen der Pfarrfinder beftanden hätte, da diefe zum Unter- 
halt eines Prieſters nur Hundertundfünfzig Dollars jährlich bei- 
feuerten. Ich zahlte, auch während meiner langen Minderjährige 
feit, regelmäßig des Jahrs hundert Dollars, und meine Großmutter 
trug mit meiner Schwefter weitere fünfzig bei. Außerdem gehörten 
noch zur Pfarrei fünfzig Acres trefflichen Landes, ein Stud Wald 
und die Intereffen von zweitaufend Dollars — lauter Begabungen, 
welche mein Großvater während feiner Lebzeiten noch gefiftet hatte. 


110 


Die Pfründe mochte deßhalb jährlid, reine fünfhundert Dollars ab- 
werfen, die gemächliche Wohnung und das Erzeugniß von Heu, 
Holz, Gemüfe, Weiden und fonftige Heine Benefizien nicht mitge- 
rechnet. Wenige Landgeiftliche waren beffer daran, als der Rektor 
von Saint-Andrews in NRavensneft, und dieß nur in Folge der 
feudalen und ariftofratifchen Gewohnheiten der Littlepages, obfchon 
ich vielleicht in Zeiten, wie Die gegenwärtigen, nicht fo fprechen 
ſollte. 

Aus den Briefen meiner Schweſter hatte ich entnommen, daß 
Mr. Warren ein Wittwer und Marie fein einziges Kind war. Sie 
fhilderte ihn als einen wahrhaft frommen Mann, als einen 
Feind der Scheinheiligkeit und als eifrigen Diener des Wortes. 
Sein Sinn war jo einfah und fein Charakter fo rechtlich, daß 
man fich auf fein Wort wie auf ein Evangelium verlaffen konnte. 
Er fprach nie Schlimmes über Andere, und nur felten vernahm man 
eine Klage über die Welt und ihre Mühfale von feinen Lippen. 
Er liebte feinen Nebenmenfchen aus Grundfag jowohl, als weil es 
ihm Bedürfniß feines Herzens war, trauerte über den Zuftand der 
Gemeinde und zog wahre Frömmigkeit fogar dem Hochkirchenthum 
vor. Gleichwohl war er ein eifriger Anhänger der bifchöflichen 
Kirche, ohne daß das Dogma derjelben ihn gehindert hätte, den 
höheren Anforderungen feiner Chriftenpflichten nachzufommen; denn 
er behielt fich flet$ feine eigenen Anfichten in Sachen der Moral vor 
und wußte in der Ausübung zugleich diejenigen Lehren zu achten, 
die er zu vertreten feierlich gelobt hatte. Die Tochter war mir als 
ein liebenswürdiges, fchelmifches, beiiheidenes, verftändiges und ge⸗ 
bildetes Mädchen befchrieben worden. 

In Betreff ihrer Erziehung würden freilich die Mittel ihres 
Vaters nicht weit gereicht haben; aber eine wohlhabende, verwitt- 
wete Schwefter ihrer Mutter nahm fi ihrer liebevoll an und 
ſchickte fie nach derfelben Schule, in welcher fie ihre eigenen Töch- 
ter heranbilden ließ. Mit einem Worte, fie war eine bezaubernde 


111 


Rachbarin, und ihre Anwefenheit in Ravensneſt hatte viel dazu 
deigetragen, um meiner Schweiter ihre jährlichen Befucke in dem 
„alten Haufe” — e8 wurde im Jahr 1785 gebaut — nit mur 
weniger langweilig, jondern auch wirklich angenehm zu machen. 
So lauteten während einer Eorrefpondenz von fünf Jahren unab- 
laͤßlich die Berichte Martha’s über die Warrens und ihre Eigen- 
ſchaften; und ich Fam dadurch fogar auf den Glauben, daß fie dieſe 
Mary Warren mehr liebe, als irgend eine von ihres Onkels Mün- 
deln, natürlich fich jelbft ausgenommen. Alle diefe Mittheilungen - 
durchzudten mir plößlich den Sinn, als der Geiftliche ſich zu er= 
fennen gab. Das Zufammentreffen, daß wir nach dem gleichen 
Landestheil zu reifen im Begriffe ſtanden, fehlen ihn eben fo fehr - 
zu Überrafchen, wie mich — was indeß Marie yon der Sache dachte, 
konnte ich natürlich nicht ermitteln. 

„Diep ift fehr ſeltſam,“ nahm Mr. Warren wieder auf. „Was 
veranlaßt Euch, nad) Ravensneft zu gehen?" 

„Mein Onkel hat fih fagen laffen, daß e8 ein guter Plab fei, 
um feine Uhren an den Mann zu bringen. ” 

„Ihr habt alfo einen Onkel? Ah, ich fehe ihn dort in der 
Straße; er zeigt eben einem Gentleman eine Uhr. Iſt Euer Onfel 
gleichfalls ein Sprachkundiger und hat er eine eben fo gute Erzie= 
hung genoffen, wie e8 bei Euch der Fall zu fein fcheint ?" 

„D ja, er hat weit mehr von einem Schentleman, als jener 
Schentleman dort, dem er eine Uhr verkauft.” 

„Es müffen diefelben Perfonen fein," fügte Mary haftig bei, 
„von denen Mr. Neweome ſprach: die" — das ſüße Mädchen 
mochte nach dem, was fie von meiner Herkunft vernommen hatte, 
nicht Haufirer fagen und fügte deßhalb bei — „die Handelsleute, 
welche unfern Landestheil mit Uhren und Schmudjachen zu be- 
ſuchen gedenken.“ 

„Du haſt Recht, meine Liebe, und die ganze Sache iſt jetzt 
klar. Mr. Neweome ſagte, fie würden ſich ung wahrſcheinlich zu 


.” 


112 


Troy anfchließen, wenn wir gemeinfchaftlich auf der Eifenbahn 
nah Saratoga führen. Doc da kommt Opportunity jelbf, ihr 
Bruder kann alfo nicht weit fein.” 

Und in diefem Augenblid trat richtig meine alte Bekanntfchaft 
Dpportunity Neweome mit einer Miene von Selbftzufriedenheit und 
einer Sorglofigkeit des Wefens, wie man Beides bei den meiften 
ihrer Kafte zu finden pflegt, in das Wirthshanszimmer. Ich zit- 
terte für meine Maske, denn um über einen fehr zarten Punkt mid 
offen auszufprechen, muß ich jagen, Opportunity hatte mir fo gar 
ſcharf zugefeßt, daß mir kaum ein Fünkchen von Hoffnung übrig 
blieb, ihr weiblicher Inftinkt, gefpornt und gefteigert durch den 
Wunſch, Gebieterin des Neftbaufes zu werden, könne möglicherweife 
die taufend Eigenthinmlichkeiten überfehen, die immerhin noch einem 
Menſchen anhaften mußten, deſſen Perfönlichkeit fie zu ihrem bes 
fondern Studium gemacht hatte. 


Sechstes Kapitel. 


„Wie fie ihr Köpfchen dreht und nidt! 
Die Feder wallt — 's iſt eine Freude! 
aft je du ſolche Dirn’ erblidt, 
eund,, auf der grünen Haide?“ 


Alan Eunningham. 


„As, da find einige herrliche franzöftfche Vignettes,“ rief 
DOpportunity, auf den Tiſch zueilend, wo einige mittelmäßige Tolo- 
rirte Kupferftiche lagen, welche die Kardinaltugenden unter der Ge⸗ 

ſtalt flitterhafter weiblicher Schönheiten darftellen follten. Die Bilder 
waren franzöflfche Arbeit und hatten franzöfifche Unterfchriften. 
Nun verfland Opportunity gerade franzöſiſch genug, um lebtere troß 
ihrer Einfachheit fo fhlecht zu überfegen, als e8 nur möglich war. 

„La vertu!” rief Opportunity in hoher, entfchiedener Weife, 
als ob fie fich einer Zuhörerfchaft verfichern wollte, „die Kraft; la 
solitude” — fie ſprach das letztere Wort mit einem verzmeifelt 
englifchen Accent aus, „die Einöde; la charite, die Barmherzig- 
feit. Es ift in der That entzüdend, Mary, wie Sarah Soothings 
fagen würde, ſolchen Lichtfunfen des Gefchmades in unferer Wild- 
niß zu begegnen.” 

Ich wunderte mich, wer zum Henker „Sarah Soothings” fein 
mochte, erfuhr aber fpäter, daß dieß der nom de guerre einer 
weiblichen Zournaliftin war, welche wahrfcheinlich, fo einfältig fle 

Ravensneit. 8 


114 


auch fonft fein mochte, e8 in ihrer Einfalt doch gewiß nie fo weit 
trieb, um fih Phrafen zu Schulden kommen zu laffen, wie ich fie 
eben aus Opportunity's Munde gehört hatte. Was das la charite 
und dag la vertu betraf, fo überrafchte mich dieß nicht im Min- 
deften, denn der Spottwogel Martha hatte fich oft über die Tours 
de force diefer jungen Dame im Franzöftfchen luſtig gemacht. Ich 
erinnere mich, daß fie mir bei einer Gelegenheit ſchrieb, Oppor⸗ 
tunity habe jagen wollen: j'ai ete admise ; flatt übrigens dieß in 
ihrer guten Mutterfprache mit dem Worte „ich bin vorgekommen“, 
auszudrüden, was wohl am beften gemefen wäre, habe fie fich bis 
zu der jchönen Phrafe „je suis venue pour” verftiegen. 
Marylächelte, denn fie begriff vollfommen den Unterfchied, den hier 
Die Ausdrücke la solitude und Eindde u. |. w. hatten, fagte aber nichts. 
Sch muß geftehen, daß ich fo unbefonnen war, gleichfalls zu lächeln, 
obſchon dieß eben nichts zu fagen hatte, da Opportunity's Rüden 
und zugefehrt war. Die wechfelfeitigen Anzeichen des Verfländ- 
niffe8 aber, welche unfern Augen’ entwifchten, Teiteten eine Art von 
Verkehr ein, der, wenigfteng für mich, ungemein angenehm war. - 
Nachdem Opportunity dem Eigenthlimer des fremden Geſichts, 
den fie beim Eintritt kaum eines Blicks gewürdigt, ihre Fertigkeit 
im Franzöfifchen gezeigt hatte, drehte fie fih, um ihn beffer zu 
beaugenfcheinigen. Ich habe Grund zu glauben, daß mein Aeuße⸗ 
res feinen ſehr günftigen Eindrud auf fie machte, denn fie jchüttelte 
den Kopf, holte fih einen Stuhl, nahm in fehr ungierlicher Weife 
darauf Platz und begann ihre Neuigkeiten auszuframen, ohne auch“ 
nur im mindeften auf meine Anwefenheit zu achten oder auf die 
Wünſche und den Gefhmad ihrer Begleiter Rüdficht zu nehmen. 
Ihr Accent, ihr fcharfes, ftoßendes Organ, und der fchrille Ton, in 
welchem fie fich vernehmen lieg — alles Dieß beleidigte in hohem 
Grade mein Ohr, welches in der alten Welt, namentlich bei Srauen- 
zimmern, an etwas ganz Anderes gewöhnt worden war; denn ich 
geſtehe, dag ich zu Denjenigen gehöre, welche bei Frauen in einer 


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ruhigen, anmuthigen Ausfprache einen weit größeren Zauber fin- 
den, als fogar in ihrer Schönheit. Die Wirkung ift nachhaltiger 
und fcheint in unmittelbarer Verbindung mit dem Charakter zu 
ſtehen. Mary Warren ſprach nicht nur wie eine Dame, die an 
gute Geſellſchaft gewöhnt ift, fondern auch die Modulationen ihrer 
Thon von Natur auffallend fchönen Stimme waren gleichförmig 
und angenehm, wie man es gewöhnlich bei gebildeten Frauen trifft; 
von der fehnarrenden, unficheren, bald fchnellen, bald gedehnten 
Redeweiſe Opportunity’3 war hier nicht entfernt etwas zu bemerken. 
Bielleicht bekundet in viefem Zeitalter eines freien, zwanglofen und 
nadhläffigen Benehmens nichts jo nachdrücklich die Bildung beider 
Geſchlechter, als eben die Sprache. 

„Sen kann Sedermanns Geduld erfchöpfen!” rief Opportunity. 
„Bir müffen in einer halben Stunde Troy verlaffen, und ich follte 
noh Miß Jones, Miß White, Miß Blad, Miß Green, Miß 
Brown und drei oder vier Andere beſuchen. Aber ich kann ihn 
nicht dazu bringen, daß er ſich in meiner Nähe blicken läßt.“ 

„Warum geht Ihr nicht allein?“ fragte Mary ruhig. „Nach 
zweien oder dreien dieſer Häuſer habt Ihr nur einen Schritt, und 
Ihr könnt Euch unmöglich verirren. Doch wenn Ihr es wünſcht, 
will ich Euch begleiten.“ 

„Oh, ich mich verirren? Nein, wahrhaftig nicht — da kenne 
ich mich zu gut aus. Ich bin nicht in Troy erzogen worden, 
um ſeine Straßen ſo bald wieder zu vergeſſen. Aber es nimmt 
fi fo ſonderbar aus, wenn man eine junge Lady ohne einen Beau 
in der Straße gehen fiebt. In Gefellfchaften möchte ich nicht 
einmal durch ein Zimmer gehen ohne einen Beau, gefchweige über 
eine Straße. Nein, wenn Sen nicht bald kommt, werde ich Feine 
von meinen Sreundinnen befuchen koͤnnen, und dieß ift eine ver- 
zweifelte Geſchichte für ung Alle. Aber da läßt fih nichts ändern. 
Ohne Beau gehe ich nicht aus, und wenn ich Keine davon je wieder 
zu jehen Eriege." 

8* 


116 


„Wollt Shr vielleicht mit mir vorlieb nehmen, Miß Oppor- 
tunity?” fragte Mr. Warren. „Sch mache mir ein Vergnügen 
daraus, Euch einen Dienft zu erweifen.“ 

„Herr im Himmel, Mr. Warren, Ihr werdet Euch doch nicht 
in Eurer Lebenszeit für einen Beau aufthun wollen? Jedermann 
müßte feben, daß Ihr ein Geiftlicher feid, und ic) könnte eben fo 
gut allein gehen. Nein, wenn Sen fich nicht bald blicken läßt, fo 
fomme ich un meine Bifiten, und ich weiß, die jungen Ladies wer- 
den mir fehr bös darüber werden. Araminta Maria fchrieb mir 
auf die dringlichfte Weife, ich jolle ja nie durch Zory gehen, ohne 
bei ihr einzufehren, und wenn ich auch fonft feine andere ferbliche 
Seele befuche; und Katharine Clotilda hat mir zu verſtehen gege- 
ben, fie werde mir ed nie verzeihen, went ich an ihrer Thüre vorbei 
gehe. Aber Seneka fümmert fi) eben fo wenig um die Sreund- 
haft juriger Ladies, al8 um den jungen Patroon. Wahrhaftig, 
Mr. Warren, ich glaube, Sen wird zuleßt noch verrüdt, wenn Die 
Antirenters nicht bald ihre Sache durchfeßen, denn er denkt und 
fpriht vom Morgen bis in die Nacht hinein von nichts, als von 
‚Renten‘, von ‚Ariftofratie und von „Futteralbräuchen?“.“ 

Mir Alle Tächelten über diefen Heinen Mißgriff der edlen 
Jungfrau; aber die Sache war von feinem großen Belang, denn 
wahrfcheinlich verftund fie fo viel davon, mie die meiften Andern, 
welche fich deſſelben Ausdruds bedienen, obſchon fie ihn richtiger 
buchftabiren. Das Wort „Futteralbräuche‘ ift auf was immer für 
ein Verhältniß in Amerifa eben fo gut anwendbar, als ‚„Feudal- 
Bräuche‘. 

„Euer Bruder befchäftigt ſich alfo mit einer Angelegenheit, 
welche für die Gemeinfchaft, zu der er gehört, von der größten 
Wichtigkeit iſt,“ entgegnete der Geiftliche ernfl. „Yon dem Aus- 
gang dieſer Antirentenfrage hängt meinem Urtheil nad) zum großen 
Theil der künftige Charakter und die künftige Beftimmung New- 
VYorks ad," 


117 


„Ihr ſetzt mich in Erſtaunen! Ich bin ganz überrafcht, Euch 
fo fprechen zu hören, Mr. Warren, denn im Allgemeinen hat man 
von Euch die Unfiht, daß Ihr der Bewegung abgeneigt feiet. 
Sen fagt übrigens, daß Alles gut flehe, und er glaubt, daß durch 
den ganzen Staat die Pächter in ehefter Bälde zu ihren Lände- 
reien kommen werden. Wie er mir mittheilt, werden wir diefen 
Sommer auch in Navensneft Inſchens genug kriegen. Die An- 
kunft der alten Miſtreß Littlepage hat einen Geift geweckt, der fi 
nicht leicht Dämmen laſſen wird, fagte er." 

„Und warum follte der Umftand, dag Miftreß Littlepage das 
Haus ihres Enkel und die Wohnung bejucht, welche von ihrem 
Gatten gebaut wurde, und in dem fie die glüdlichften Tage ihres 
Lebens zubrachte, bei was immer für einem Bewohner diefes Lan- 
destheils einen „Geift* weden, wie Ihr es nennt?” 

D, Ihr ſeid biſchöflich, Mr. Warren, und wir Alle wiffen 
wohl, wie die Bifchöflichen über derartige Sachen denken. Aber 
was mich betrifft, fo halte ich die Littlepage’s für um kein Haar 
beffer, als die Newcome's, obfchon ich fie nicht mit Einigen ver- 
gleichen möchte, die ich zu Ravensneft namhaft machen Fünnte. 
Meiner Anfiht nach find fie Feines Falls beffer, als Ihr, und 
warum geftattet man ihnen, daß fie jo viel mehr von dem Geſetz 
verlangen, als andere Leute?” 

„Ich wüßte nicht, daß fie mehr vom Geſetz verlangen, als 
Andere, und wenn ed der Zall wäre, fo bin ich überzeugt, 
daß fie weniger erhalten. In den Staaten wird das Gefek 
durch Gefchworene verwaltet, welche eifrig Sorge dafür tragen, 
jo weit es in ihrer Macht ſteht, der Gerechtigkeit Abſtufungen 
zu geben, und dabei bedienen fie fih eines Maaßſtabs, der 
durch ihre Meinungen und fehr oft dur ihre Vorurtheile bes 
ſtimmt wird. Namentlich find fie Perfonen aus der Rangklaſſe 
von Miftreß Littlepage nicht günftig, und wenn fich eine Ge- 
legenheit ergibt, ihnen ein Leides anzuthun, fo darf man mit 


118 


Sicherheit darauf zählen, daß man diefe nicht ungenüpt vor⸗ 
übergehen läßt." 

„Sen fagt, er könne eben jo wenig einen Grund einjehen, 
warum er an einen Littlepage Renten zahlen folle, als ein Little 
page an ihn Renten zu entrichten geneigt fein werde." 

„Es thut mir leid, dieß hören zu müflen, denn für Erfteres 
find zureichende Gründe, für Lepteres aber gar keine vorhanden. 
Euer Bruder hat die Nußnießung von dem Lande des Mr. Little- 
page, und dieß erklärt hinreichend, warum er zum Rentenzahlen 
verpflichtet it. Wäre der Fall umgekehrt, jo würde Mr. Littlepage 
von Eurem Bruder auch nichts gefchenkt werden. “ 

„Aber welcher Grund wäre vorhanden, daß Diefe Littlepage's 
von Generation zu Generation, vom Bater auf den Sohn, unfere 
Grundherren fein follen, während wir doch eben fo gut find, wie 
fie? Es ift Zeit, daß in diefer Beziehung ein Wechfel eintritt. 
Außerdem, bedenkt nur, wir find nun wohl an achtzig Jahre auf 
den Mühlen gewefen, und der Großpa hat fich zuerft darauf ange- 
fiedelt. Diefelbigen Mühlen haben fih nun ſchon drei Genera- 
tionen unter ung fortgeerbt." 

„Es ift deßhalb hohe Zeit, Opportunity, daß in diefer Hin- 
ficht ein Wechſel eintrete,“ entgegnete Mary mit einem geſetzten 
Lächeln. 

„O, Ihr ſeid ſo vertraut mit Marthy Littlepage, daß ich 
mich "über nichts wundere, was Ihr denkt oder fagt. Grund bleibt 
aber gleichwohl Grund. Sch habe nicht das Mindefte von der Welt 
gegen den jungen Hugh Littlepage einzuwenden, wenn ihn anders 
die fremden Länder nicht verderbt haben, wie dieß fo verzweifelt 
leicht zu gehen pflegt; denn er ift ein angenehmer junger Gentle- 
man, und ich kann nicht jagen, daß er ſich für beſſer als andere 
Beute zu halten pflegte.” 

Ich möchte behaupten, daß man keinem Mitglied dieſer Fa⸗ 
wilie einen ſolchen Vorwurf machen kann,“ antwortete Mary. 


119 


„Sch bin in. der That erftaunt, Euch fo fprechen zu hören, 
Mary Warren. Für meinen Gefhmad ift Marthy Littlepage fo 
unangenehm, als fie nur fein kann, und wenn die Antirenten- 
Gefchichte Leinen befferen Widerfacher hätte, als fie, fo dürfte der 
endliche Triumph nicht mehr lange ausbleiben.” 

„Darf ich fragen, welchen befonderen Grund Shr für Eure 
Unfiht Habt, Mit Newcome?“ fragte Mr. Warren, welcher die 
junge Dame während ihres ganzen Geſpräch mit einem Intereſſe 
ins Auge gefaßt hatte, das mir etwas übertrieben vorfam, wenn 
ih dabei den Charakter der Sprecherin und den Werth ihrer Ber 
merkungen bedachte. 

„Sch bin dieſer Anficht, weil fie die Anficht von Jedermann 
ik, Mr. Warren,” lautete die Antwort, „Wenn fih Marthy Litt- 
lepage nicht für beffer hielte, al8 andere Leute, warum benimmt 
fie fich nicht, wie Andere? In ihrem Dünkel ift ihr nichts gut 
genug.“ 

Die arme Kleine Patt, welche ein wahres Mufterbild von 
natürlicher Einfachheit war, wie Natur und Einfachheit fih unter 
dem Einfluß der Bildung und guten Erziehung fund geben, wurde 
hier befehuldigt, fie halte fich für beſſer, als dieſe ehrgeizige Dame, 
und zwar aus feinem andern Grunde, als weil die Fleinen unter- 
Icheidenden Eigenthümlichkeiten ihres Benehmens und ihrer Haltung 
troß mehrerer vergeblicher Anftvengungen von Opportunity nicht 
erreicht werden Eonnten. In Diefer einfachen Thatfache liegt das 
Geheimniß vieler taufend Verkehrtheiten und Lafter, die gegenwär- 
tig wie brüllende Löwen Land auf und Land ab gehen, fuchend, wen 
fie verfchlingen. Man forfiht oft in der Gefebgebung und Staats- 
einrichtung nach den Quellen augenfälliger Gebrechen, welche, wenn 
man der Sache auf den Grund geht, ihren Urfprung in einigen 
der niedrigften Leidenfchaften des menfchlichen Lebens haben. Der 
Umstand übrigens, daß in diefem Augenblid Senefa eintrat, gab 
dem Gefpräch eine neue Wendung, obſchon e8 der Hauptfache nad 


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in gleichem Sinne fortdauerte. Ich bemerkte, daß Senefa während 
der ganzen nun folgenden Unterredung den Hut auf dem Kopf be- 
hielt, objchon zwei Damen und ein Geiftlicher anwefend waren. 
Was mich felbft betraf, fo hatte ich mir die Freiheit erlaubt, meine 
Mütze abzunehmen, obſchon mir dieß wahrjcheinlih von Dielen 
dahin gedeutet worden wäre, daß ich mir ein Anfehen geben wolle, 
während Andere geglaubt haben würden, ich befunde gegen menſch⸗ 
liche Wefen einen Grad von Achtung, der eines freien Mannes völ- 
lig unwürdig fei. Das Abnehmen eines Hutes, wenn man in ein 
Haus geht, gilt jetzt für fo befremdlich und ariftofratifch, daß nur 
wenige von den niedriger flehenden Demokraten Amerika’ daran 
denken, fih alfo herabzumürbigen. 

Natürlich wurde nun der fäumige Bruder gefcholten, weil er 
nicht früher erfchienen war, um Miß Opportunity als Beau dienen 
zu koͤnnen, und erft dann erhielt er die Erlaubniß, ſich verant- 
worten zu dürfen. Da Senefa in hoher guter Laune war, Tieß 
fich Teicht genug entdeden, da er im Uebermaaß feines Entzückens 
jogar die Hände rieb. 

„Sen ift etwas Angenehmes zugeftoßen," rief die Schweſter, 
in der Ausſicht, daß auch ihr Etwas davon abfallen werde, den 
Mund zu einem breiten Grinſen verziehend. „Sch wollte, Ihr 
brächtet ihn dazu, uns zu fagen, um was e8 fi handelt, Mary, 
denn vor Euch hält er nichts zurück.“ 

Ich Tann kaum befchreiben, wie verleßend dieje Bemerkung 
auf meine Nerven wirkte, denn der Gedanke, dag Mary Warren 
einwilligen könnte, über einen Menfchen, wie Senefa Newcome, 
auch nur den entfernteften Einfluß zu üben, war mir im höchften 
Grade unangenehm, und ich hätte gewünjcht, daß fie das Anfinnen 
offen und mit Entrüftung zurüdwiele. Sie benahm fich übrigens, 
wie dieß von einer Perjon, die an dergleichen gewöhnt ift, zu 
erwarten war. Ich muß jagen, daß fie weder Wohlgefallen noch 

n an den Tag legte, da fih in ihrem ganzen Weſen 





121 


nur alte Gleichguͤltigkeit ausſprach. Vielleicht hätte ich damit 
zufrieden fein follen; indeß muß ich doch geftehen, daß mir dieß 
ſchwer wurde. Seneka wartete übrigens nicht, bis Miß Warren 
ihren Einfluß üben wollte, fondern war augenfcheinlich vollkommen 
geneigt, aus eigenem Antrieb zu fprechen. 

„Sch muß allerdings einräumen, daß ich etwas Angenehmes in 
Erfahrung gebracht habe,” entgegnete er, „und ich brauche gegen 
Mr. Warren Feine Rüdhaltung zu beobachten. Unter und Anti» 
renters geht ed herrlich vorwärts, und ed wird nicht mehr lange 
anſtehen, bis wir alle unfere Punkte durchgeſetzt haben.“ 

„sch wünfchte, mich der Ueberzeugung erfreuen zu dürfen, daß 
nur diejenigen Punkte durchgefebt werden, welche ein Recht für. 
fih haben, Mr. Newcome," lautete die Antwort. „Doch was hat 
fih in der legten Zeit zugetragen, um det Angelegenheit eine neue 
Wendung zu geben?" 

„Bir gewinnen Macht unter den Politikern. Beide Seiten 
fangen an, uns den Hof zu machen, und der „Geift der Inſtitu⸗ 
tionen“ wird fih bald Achtung verfchaffen.” 

„sch freue mich, dieß zu hören! Es Liegt in der Abſicht der 
Inftitutionen, Habgier, Lieblofigkeit, Betrug und alles Unrecht zu 
unterdrüden,,” bemerkte Mr. Warren. 

„Ha, da kömmt mein Freund, der reifende Juwelier!" fagte 
Seneka, den Geiftlichen unterbrechend, um meinen Onkel zu grüßen, 
der fich diefen Augenblid, die Mütze in der Hand, unter der Thüre 
des Zimmers zeigte. „Herein, Mr. Davidfon, wenn Ihr fo heißt. 
Seine Ehrwürden, Mr. Warren, — Miß Mary Warren, — Miß 
DOpportunity Newcome, meine Schwefter, die fich freuen wird, Eure 
Waaren anzufehen. Der Eifenbahnzug ift wegen eines bejondern 
Geſchäfts aufgehalten, und wir haben noch reichlich Zeit vor ung.” 

Senefa fagte dieß mit einer Ruhe und Gleichgültigkeit, welche 
zeigen follten, daß er nirgends Anftand nahm, wenn es ſich darum 
handelte, Jemand vorzuſtellen. 


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Da mein Onfel an diefes freie und feichte Wefen gewöhnt und 
wahrfcheinlich fich nicht bewußt war, welche Figur er in feiner 
Verkleidung machte, fo verbeugte er fich mit einem Anftande, der 
nur ſchlecht zu feinem gegenwärtigen Berufe paßte, obfchon meine 
vorläufige Erflärung, daß wir ung früher in beſſern Umftänden be- 
funden hätten, fein Benehmen nicht allzu auffallend erfcheinen ließ. 

„Nur herein, Mr. Davidfon, und öffnet Euren Kaften. Wahr⸗ 
icheinlich gefällt meiner Schwefler Einiges von Euren Schmuck⸗ 
jachen, denn ich habe noch nie ein Frauenzimmer gekannt, bei 
welcher dieß nicht der Fall gewefen wäre." 

Der vermeintliche Haufirer trat ein, ftellte feine Kifte auf den 
Tiſch, in deffen Nähe ich mich befand, und alle Anwefenden fam- 
melten fih darum. Weder Senefa noch feine Schwefter hatten 
fonderlih auf mich geachtet, da das Zimmer ein öffentliches und 
meine Berwandtfchaft mit dem Handelsmann befannt war. Senefa 
war aber feines Gegenſtandes zu voll, um die gute Neuigkeit, die 
er gebracht hatte, ganz fallen zu laffen, weßhalb er jih auch durch 
die Mufterung, welche die Uhren, Ringe, Ketten, Borftednadeln, 
Armbänder u. ſ. w. erlitten, nicht flören ließ. 

„Sa, Mr. Warren, ich hoffe, der Geift unferer Inftitutionen 
wird jeßt zu feiner völligen Entwidlung kommen, jo daß wir fünf- 
tighin im Staate New-Nork wenigftend Feine priviligirte Klaffe 
mehr haben.” 

„Lebteres wäre ficherlich ein großer Gewinn, Sir, verfepte 
der Geiftliche gelaſſen; „denn bisher haben Die, welche die 
Wahrheit am meiften unterdrüdten, und die gröbften, lügneri— 
Then Schmeicheleien in Umlauf ſetzten, in Amerika ungebühr- 
liche Vortheile beſeſſen.“ 

Es war augenfällig genug, daß Seneka dieſe Anſicht nicht 
behagte; indeß glaubte ich aus ſeinem Benehmen wahrnehmen zu 
fönnen, daß er fo ziemlich an dergleichen Zurechtweifungen von 
Seiten des Geiftlichen gewöhnt war. 


123 


„Ich fehe wohl, Ihr räumt ein, Mr. Warren, daß e8 gegen» 
wärtig privilegirte Klaſſen unter ung gibt?" 

„Gewiß, Sir, denn die Thatfache ift zu augenfällig, um fich 
in Abrede ziehen zu laſſen.“ 

„Gut; aber e8 wäre mir lieb, wenn Ihr diefelben namhaft 
machtet, damit ich fehen Tann, ob wir in unferen Gefinnungen 
einig find.” 

„Die Demagogen bilden eine hochprivilegirte Klaſſe, und ein 
Gleiches läßt ſich von den Zeitungsſchreibern behaupten, denn ſie 
thun täglich und ſtündlich Dinge, welche aller Gerechtigkeit und 
allem Geſetz Troß bieten; ja e8 geht ihnen vollfommen ungeftraft 
hin, wenn fie die Eoftbarften Rechte ihrer Mitbürger antaften. 
Beide befiben eine ungeheure Gewalt, von der fie, wie es fletd bei 
mangelnder Berantmwortlichkeit der Fall ift, den ſchlimmſten Miß⸗ 
brauch machen.“ 

„Rein, dieß iſt durchaus nicht die Art, wie ich denke. Meinem 
Urtheil nach beftehen die privilegirten Klaſſen dieſes Landes aus 
den PBatroonen und Grundherren — aus Reuten, die fich nicht mit 
einem angemellenen Theil Landes begnügen , jondern mehr zu be⸗ 
figen wünfchen, als ihre übrigen Nebenmenſchen.“ 

Ich wüßte fein einziges Privilegium, welches die Patroone, 
die, beiläufig bemerkt, nur noch dem Namen nach beftehen, oder die 
Grundbefiger vor was immer für einem Mitbürger voraus hätten.” 

„Nennt Ihr e8 Tein Privilegium, wenn ein einziger Menſch 
alles Land einer Stadtmarfung befißt? Deiner Anficht nad) we- 
nigftens ift e8 ein fehr großes, und in einem freien Lande follte e8 
Niemand befiken. Andere Leute wollen eben fo gut Boden haben, 
wie die Nenffelaers und Littlepage’s, und fie werden es auch durdh- 
zufeßen wiffen.” 

„Diefem Grundfag nach wäre Jeder, Der mehr von einer 
Sache befißt, als jein Nachbar, privilegirt, und ſogar ich, jo arm 
ih auch bin, hätte ein Vorrecht vor Euch, Mr. Newceome. Ich 


124 


befite einen Stirchenrod und voch zwei andere Amtskleidungen, eine 
alte und eine neue — dazu noch unterfchiedliche, ähnliche Dinge, von 
denen Ihr auch nicht ein einziges habt. Sa, was noch mehr ift, ich 
din auch noch in einem andern Sinn privilegirt, da ich die Kleidung 
meines geiftlichen Amtes tragen kann und fogar oft trage, während 
dieß bei Euch nicht anginge, ohne daß Ihr Euch lächerlich machtet!" 

„Dh, dieß find Keine Privilegien, um die ich mich kümmere, 
und wenn ich die Gefchichten anlegen wollte, fo würde mid) Fein 
Geſetz hindern.” 

„Ich bitte um Verzeihung, Mr. Neweome, das Gejeß hindert 
Euch doch, meine Amtskleidung zu tragen, wenn ich e8 mir nicht 
gefallen Laffen will.“ 

„Dh! ſchon gut, Mr. Warren, hierüber kriegen wir feine Hän- 
del. Es gelüftet mich durchaus nicht, Euren Kirchenrock zu tragen.” 

„Dh, ich verſtehe; nur dann befige ich alfo ein Privilegium, 
wenn mir das Gefeb Dinge läßt, nad) denen es Euch gelüftet." 

„Sch fürdte, wir werden in dieſer Antirenten- Sache nie einig 
werden, Mr. Warren, und dieß thut mir wahrhaft leid, da ich fo 
gar gerne mit Euch gleicher Anficht fein möchte." Bei diejen Wor- 
ten warf er Mary einen höchft profanen Blid zu. „Sch bin übri— 
gens für das Prinzip der Bewegung, und Ihr haltet allzu feit an 
der Doktrin des Stillſtands.“ 

„Allerdings halte ich es Lieber mit dem Beftehenden, Mr. 
Newcome, wenn unter Fortjchritt verflanden wird, daß alten und 
im Lande lang anjäffigen Familien ihr Eigenthum genommen wer- 
den joll, um e8 Solchen zu geben, deren Namen fich nicht in un- 
jerer Gefchichte finden. Ja, man kann e8 überhaupt Niemand geben, 
als dem rechtmäßigen Eigenthümer.” 

„Wir werden nie einig werden, theurer Sir, wir werden 
nie einig werden.” — Dann wandte er fich mit einer Miene von 
Ueberlegenheit, wie fie der gemeine Sinn fo leicht anzunehmen ge- 
zeigt it, an meinen Onkel und fügte bei: „Was fagt Ihr zu 


125 


alle dem, Freund Davidfon, lautet Eure Lofung: „es lebe die 
Rente“ — oder: ‚nieder mit der Rente?‘" 

„3a, Myn Herr," lautete feine ruhige Antwort, „ich zähle 
gewiffenhaft die Rente nieder, wenn ich ein Haus oder einen Gars 
ten miethe. Es ift ſtets gut — fehr gut — feine Schulden zu 
bezahlen.” 

Diefe Antwort entlodte dem Geiftlichen und feiner Tochter ein 
Lächeln, während Oyportunity laut hinaus lachte.” 

„Du wirft aus deinem deutfchen Freund nicht viel machen 
önnen, Sen," rief diefe Iebhafte junge Dame. „Er fagt, du 
ſollſt es Lieber mit dem Zahlen der Rente halten.” 

„Ich fürchte, Mr. Davidfon verfieht die Sache nicht ganz 
recht,” antwortete Senefa in großer Berblüffung, die ihn übrigens 
nicht hinderte, an feiner Behauptung feſt zu halten. „Wenn ich 
Eure Erklärung gehörig aufgefaßt habe, fo ſeid Ihr ein Mann von 
liberalen Gefinnungen, Mr. Davidfon, und in der Abficht nad 
Amerika gekommen, Euch des Lichte8 der Intelligenz und der 
Wohlthaten einer freien Regierung zu erfreuen." 

„3a; als ich nad) Amerika zu ziehen befchloß, fagte ich zu 
mir felbft: ‚dieß ift ein gutes Land, wo ein ehrlicher Mann Friegt, 
was er verdient, und e8 auch behalten darf.“ Ja, ja — das iſt's, 
was ich immer fage und denke.” 

„Ich verftehe Euch, Sir. Ihr kommt von einem Theil der 
Welt, wo der Adel das Fett des Landes aufzehrt und des armen 
Mannes Antheil jo gut an fich reißt, wie feinen eigenen. Jene 
Zuftände find Euch entleidet, und Ihr wünfcht nun in einem Lande 
zu leben, wo das Gefeh jo gleich ift, oder doch bald fo gleich fein 
wird, daß fortan fein Bürger es foll wagen dürfen, von feinen 
Ländereien zu fprechen und durch folhen Hochmuth die Ge- 
fühle Derjenigen zu verlegen, welche fein großes Grundeigenthum 
befißen. “ 

Mein Ontel erfünftelte bei dem Schluß diefer Erklärung ein 


126 


fo töftlich unfchuldiges Verlegenheitsgeſicht, daß ich mich — troß 
meiner Bemühungen, e8 zu unterdrüden — eines Lächelns nicht 
erwehren konnte. Mary Warren bemerkte es, und abermals wur- 
den zwifchen ung Blicke des Verfländniffes gemechfelt, obgleich die 
junge Dame unmittelbar darauf die Augen niederſchlug und ein 
verrätherifches Roth leicht ihr Antlitz überflog. 

„Ih kann mir denken,” fuhr Seneka mitNachdrud fort, „daß 
Ihr ein Freund ſeid von der Gleichheit der Geſetze und Rechte; 
denn gewiß habt Ihr in der alten Welt über die Mipflände, welche 
im Gefolg des Adelsweſens und des Feudaldruds find, genugfame 
Erfahrungen gemacht, fo daß Ihr nicht wünjchen Eönnt, in der neuen 
ähnlichen Verhältniffen begegnen zu müſſen.“ 

„Das Adelsweſen und die Feudalprivilegien find nicht gut;“ 
erwiederte der Haufirer, indem er mit der Miene großer Age: 
neigtheit den Kopf ſchüttelte. 

„Ih wußte dieß ja. Ihr feht, Mr. Warren, Niemand Tann 
einer andern Oefinnung Raum geben, fobald die betreffenden Erfahrun- 
gen über die Befchwerniffe des Lehensſyſtems vorausgegangen find. ” 

„Aber was haben wir mit Lehensſyſtemen zu fchaffen, Mr. 
Newcome?“ entgegnete der Geiftliche,; „und welche Achnlichkeit 
findet ftatt zwifchen den Grundfäßen New-Norks und dem Adel 
Europa's — zwifchen dem Recht, fein Eigenthum nach beſtimmten 
Stipulationen verpachten zu Können, und der Feudalherrlichkeit 
eines privilegirten Standes?" 

„Welche Aehnlichkeit ſtattfindet? O, eine ſehr große, Sir — 
dieß dürft Ihre mir auf's Wort glauben. Sind nicht ſogar unſere 
Gouverneure, felbft wenn fie erbarmungslos den Bürger zum Mord 
des Andern auffordern — —“ 

„Nicht doch, Mr. Neweome," unterbrach ihn Mary Warren 
lachend; „die Gouverneure fordern im Gegentheil die Bürger auf, 
einander nicht zu morden.“ 

„Ich verfiehe Euch, Miß Warren; aber ihr Beide ſollt mir zu 


127 


Antirentere werden, noch ehe wir mit der Sache fertig find. 
Wahrhaftig, Sir, die Nehnlichkeit zwiichen unfern Grundbefigern 
und dem europäifchen Adel ift nur allzu groß, wenn die ehren- 
haften, freigeborenen Pächter den Erfteren eine Steuer zahlen für 
die Erlaubniß, auf dem Boden zu leben, den fle bebauen und durch 
ihren Fleiß werthvoll machen." 

„Aber auch Leute, die nicht adelich find, vervachten in Europa 
ihre Grundfüde, und ich habe fogar gehört und gelefen, daß in 
einigen Thetlen der alten Welt felbft leibeigene Perſonen, fobald 
fie frei werden und zu Reichthum gelangen, Ländereien anfaufen 
und fie durch Pächter bewirthfchaften Laffen.” 

„Alles feudal, Sir. Das ganze Syſtem ift verderblich und 
nur ein trauriger Auswuchs des Adelsweſens, mögen nun Leib- 
eigene oder Nichtleibeigene dabei in Frage kommen.” 

„Aber, Mr. Neweome," entgegnete Mary Warren gelaflen, 
obſchon mit einer Art gefehter Ironie, welche befundete, daß fie 
doch einige Schalkhaftigkeit in fi barg und recht wußte, was fie 
fagen wollte — „auch Ihr verpachtet Euer Land — Land, das 
Ihr ſelbſt gepachtet habt und das Euch nicht gehört, fintemal Ihr 
nur durch ein mit Mr. Littlepage eingegangenes Bertragsverhält- 
miß einen Anfpruch darauf habt.” 

Seneka räufperte fih und gerieth augenfcheinfich in große 
Berlegenheit; er hatte jedoch bei dem Fortgang, der Bewegung, 
die — felbft wenn Alles zum Teufel ging — doch zu einem Wechſel 
führte, zu viel auf dem Spiele, als daß er der Sache hätte ent⸗ 
fiehen können. Er wiederholte fein „Hem!“ — mehr um fein 
Gehirn, als um feine Kehle zu Eären — und rüdte dann mit der 
glücklich gefundenen Antwort heraus, die er mit einer Art von 
Triumph vortrug. 

„Dieß ift eben eines von den Uebeln des gegenwärtigen Sy- 
ſtems, Miß Mary," fagte er. „Wenn Die zwei oder drei Felder, 
von denen Ihr fprecht, und die ich aus Mangel an Zeit nicht felbft 


128 


bewirthſchaften kann, mein Eigenthum wären, ſo befände ich mich 
in der Lage, fle zu v erkauf en; fo aber ift dieß unmöglich, weil 
ich nicht urkundlich ein freies Eigenthumsrecht übertragen fann. 
Sobald mein armer Onkel ſtirbt — und Ihr wißt ja felbft, er ift 
fo weit draußen, daß er’s kaum noch eine Woche treiben wird — 
jo fällt das ganze Anwefen, Mühlen, Wirthshaus, Wald und Alles 
an den jungen Hugh Littlepage zurüd, der — wie ich mir denken 
fann, und wie fidh’8 zuleßt herausftellen wird — in Europa fein 
Geld verjubtlirt, ohne dag für ihn felbft oder für Andere etwas 
Gutes dabei heraus käme. Dieß ift wieder ein weiterer Mipftand 
des Feudalſyſtems, indem Einzelne dadurch in die Lage verfebt 
werden, ſich müffig im Ausland umzutreiben und dafelbft ihr Geld 
zu verthun, während Andere zu Haufe bleiben müflen, um den Pflug 
und den Karft zu handhaben." 

„Und warum glaubt Ihr, Mr. Littlepage verfchwende in der 
Fremde feine Habe, ohne dadurch für fich felbft oder für fein Va— 
terland einen Vortheil zu erzielen, Mr. Newcome? Bon feinem 
Charakter habe ich wenigflens ganz andere Dinge vernommen, und 
die Früchte feiner Reifen dürften aller vernünftigen Erwartung 
nah Eure Annahme Lügen ſtrafen. A 

„Mit dem Gelde, das er in Europa verbraucht, Könnte er in 
Ravensneft unendlich viel Gutes wirken, Sir.” 

„Ich für meinen Theil, lieber Vater, finde es jehr merkwür⸗ 
Dig," flocht Mary wieder in ihrer ruhigen, aber fchneidenden Weife 
ein, „daß es Feiner unferer legten Gouverneure für paffend gehalten 
hat, unter den Thatjachen, welche mit dem Geift unferer Inftitu= 
tionen im Widerfpruch ftehen follen, auch diejenigen aufzuzählen, 
die und eben von Mr. Neweome zum beften gegeben wurden. Es 
ift freilich eine fchlimme Bedrückung, daß Mr. Seneka Neweome 
das Eigenthum des Mr. Hugh Littlepage nicht verkaufen kann.” 

„Es ift weniger dieß, worüber ich mich beklage,“ verſetzte Se- 
neka etwas haflig, „fondern vielmehr der Umftand, daß alle meine 


129 


Anrechte an die Liegenfchaften mit dem Tode meines Onkels erlö- 
Ihen. Dieß wenigftens werdet fogar Ihr, Miß Mary, als eine 
große Befchwerniß anerkennen müſſen.“ 

„Wenn aber unverhoffter Weife Euer Onkel dennod feine 
Krankheit überftünde, „und noch ein paar Dutzend Jährchen lebte, 
Mr. Neweome — — 

„Nein, nein, Miß Mary," antwortete Senefa mit einem mes 
lancholiſchen Kopfſchütteln, „dieß ift abfolut unmöglich. Es follte 
mich nicht wundern, wenn ic) ihn fchon nach unferer Rückkehr todt 
und begraben fände.“ . 

„Aber nehmen wir an, Ihr hättet Euch in Eurer Vermuthung 
wirklich getäufcht und Euer Pachtverhältnig daure fort — Ihr 
hättet noch immer eine Rente zu zahlen?” 

„Ueber diefe würde ich mich am wenigften befchweren. Wenn 
‚mir Mr. Dunning, Littlepage's Agent, nur in Eurzen Worten ver- 
jpricht, daß wir den Pacht unter den alten Bedingungen erneuern 
können, fo ſage ich Feine Sylbe darüber." 

„Nun, da haben wir den Beweis, daß das Syſtem feine Bor- 
theile hat!’ rief Mr. Warren heiter. „Sch freue mich, Euch fo 
fprechen zu hören; denn es ift gewiß fehr hoch anzufchlagen, daß 
wir eine Klaffe von Menfchen unter uns haben, auf deren ein- 
faches BVerfprechen in Geldangelegenheiten ein jo großer Werth 
gefeßt wird. Hoffentlich wird ihr Beiſpiel nicht ganz verloren 
eben.” 

: „Mr. Neweome hat hier ein Zugefländnig gemacht, das ich 
gleichfalls gerne vernehme," fügte Mary bei, fobald ihr Vater aug- 
gefprochen hatte, „Seine Bereitwilligfeit, ſich den Pachtvertrag un⸗ 
ter den alten Bedingungen erneuern zu laffen, iſt ein Beleg, daß 
er fich unter den bisherigen Verhältniffen gut geftanden hat, folg- 
lich auch feinerjeits eine Anerkennung dafür zu erwarten wäre." 

Diefe einfachen Worte jebten Senefa in die größte Berwir- 
rung. Was mich betrifft, fo war ich entzückt über diefelben, umd 

Ravenoneſt. F 


130 


ich hätte den fügen fchalkhaften Mund Eüffen mögen, der fie aus« 
geſprochen hatte, obſchon ich geftehen muß, daß mich ein folcher 
Schritt auch keine Weberwindung gefoftet haben würde, wenn fich 
ihre Lippen nicht zu Bertheidigung meiner Sache geöffnet hätten. 
Um übrigens wieder auf Senefa zu fommen — er benahm fid, 
wie Leute fich zu benehmen pflegen, wenn fie fühlen, daß fie, von - 
einem gewiffen Standpunkt aus betrachtet — nicht im beften Lichte 
erfcheinen; er gab fich nämlih Mühe in den Augen feiner Zuhörer 
eine andere Stellung zu gewinnen. 

„Immerhin ift ein Punkt vorhanden, Mr. Warren, und ich 
hoffe, Ihr werdet hierin mit mir einverftanden fein, was auch 
Miß Mary davon halten mag,“ rief er triumphirend. „Sch meine 
den Kirchenſtuhl der Littlepage, den wir ein für allemal forthaben 
miüſſen.“ 

„So weit möchte ich nicht gehen, Mr. Newcome, obſchon ich 
glaube, daß meine Tochter i in Betreff dieſes Punktes Eure Anſicht 
theilt. Nicht wahr, mein Kind, der bedachte Kirchenſtuhl und die alten 
Wappenbilder gefallen dir eben ſo wenig, als dem Mr. Newcome?“ 

„Ich wünfchte, fie wären nicht in der Kirche, antwortete Mary 
mit gedämpfter Stimme, 

Bon diefem Augenblid an war ich feft entfchloffen, beides ab- 
zufchaffen, fobald ich in die Lage käme, in diefer Angelegenheit ein 
Wort mitzufprechen. 

„Ich bin vollkommen mit dir einverflanden, mein Kind," nahm 
der Geiftliche wieder auf, „und wenn Diefe Antirentenbewegung und 
die falſchen Grundfäße, welche man in den Iehten Jahren zu ver— 
breiten bemüht war, nicht dazwifchen getreten wären, fo würde ich 
als Rector Die Wappenbilder aus eigener Machtvollkommenheit ent- 
fernt haben, da dieß den Geſetzen gemäß, welche über dergleichen 
Dinge beftehen, fehon vor ein paar Generationen hätte gefchehen 
jollen. Der Kirchenftuhl hat weniger auf fich, denn er ift Privat- 
eigentfum und wurde mit der Kicche gebaut, welche unter dem 


131 


Segen der heiligen Dreieinigkeit durch die Breigebigfeit der Kittle- 
pages zu Stande Fam; ed währe daher ein Akt des gröbften Un- 
danks, wenn man unter foldhen Umftänden und noch obendrein in 
Abweſenheit des Eigenthümers den Stuhl fortfchaffen wollte." 

„Ihr ſeid alfo doch der Anficht, daß er nicht vaftehen ſollte?“ 
entgegnete Senefa frohlodend. 

„Ja, von ganzem Herzen; denn ich bin fein Breund von welt- 
lichen Auszeichnungen im Haufe Gottes. Namentlich fcheinen mir 
heraldifche Abzeichen fehr am unrechten Orte zu fein, wo einzig das 
Kreuz eine paſſende Stelle finden Kann.” 

„Ei, Mr. Warren, ih kann nicht fagen, daß ich jonderliche 
Stüde auf Kirchenkreuze halte. Was hilft es auch, eitle Aus- 
zeihnungsmerfmale irgend einer Art aufzurichten? Eine Kirche ift 
im Grund doch nur ein Haus und muß als ein ſolches betrachtet 
werden.” 

„Allerdings ift e8 ein Haus," entgegnete Mary mit Feftigkeit, 
„und zwar das Haus Gottes." 

„Ja, ja, Miß Mary, wir alle wiffen, daß ihr Bifchöflichen 
weit mehr an Außendingen haftet, und denfelben größere Achtung 
zollt, al8 die meiften anderen Glaubensbekenntniſſe des Landes." 

„Nennt Ihr die Pachtverträge Außendinge, Mr. Newcome?“ 
fragte Mary ſchalkhaft; „und gehören Hebereinkünfte, Berfprechuns 
gen, Eigenthumsrechte und das Gebot, Anderen zu thun, wie man 
ſelbſt behandelt zu werden wünfcht, gleichfalls in diefe Klaſſe?“ 

„Pah, ihr guten Leute,” rief jeßt Opportunity, die ſich mitt» 
lerweile ausjchließlich mit Mufterung der Galanteriewaaren abge- 
geben hatte, „ich wünfchte von ganzem Herzen, daß es mit diefen 
Renten für immer vorbei wäre, damit ich nur Fein weiteres Wort 
mehr darüber hören müßte. Hier, Mary, ift eine der fchönften Blei- 
federn, die ich je gefehen habe, und fie koſtet nur vier Dollars. Ich 
wollte, Senefa, du ließeſt mich mit deinen Renten ungefihoren und 
machte mir mit diefer Bleifeder ein Gefchent, ” 

9* 


132 


Da dieß ein Akt war, deffen fih Seneka nicht im geringften 
Ihuldig zu machen beabſichtigte, fo rüdte er nur den Hut von der 
einen Seite des Kopfes nach der andern, begann zu pfeifen und 
verließ dann ruhig das Zimmer. Mein Onkel benüpte diefe Gele- 
genheit, um Miß Opportunity zu bitten, fie möchte ihm die Ehre 
erweifen, die Bleifeder aus feiner Hand als Geſchenk anzunehmen. 

„Dieß wird Euch doch nicht Ernft fein?" rief Opportunity, in 
freudiger Ueberrafchung erröthend. „Ei, Ihr habt mir eben erft 
gefagt, Die Feder koſte vier Dollars, und auch dieß feheint mir noch 
verzweifelt wenig zu fein.” 

„Dieß ift der Preis für andere,” verfeßte der galante Haufirer, 
„aber nicht für Euch, Miß Opportunity. Wir machen die Reife 
mit einander, und wann wir in Eure Gegend kommen, habt Ihr Die 
Güte, mir die Häufer nahmhaft zu machen, wo ich meine Uhren und 
Galanteriewaaren am beften verkaufen Kann.” 

„sa, dieß will ih — und ich will Euch obendrein in's Neft- 
haus bringen,” erwiederte Opportunity, indem fle ohne weitere Um⸗ 
fände die Bleifeder in die Tafche ſtedte. | 

Mittlerweile hatte mein Onkel ein ſehr hübfches Petichaft — 
das fchönfte, welches er befaß, denn es war von reinem Metall 
und hatte einen Achten Zopas zur Siegelplatte — ausgelefen und 
bot e8 mit feiner beften Berbeugung Miß Mary Warren an. Ich 
beobachtete auf's angelegentlichfte das Geficht der Pfarrerstochter, 
und die. Art, wie fle diefe Galanterie aufnahm, zwiſchen Zweifel 
und Hoffen jeden Wechfel ihrer fhönen, geiſtvollen Züge verfol- 
gend. Mary erröthete, lächelte und ſchien in Berlegenheit zu ge= 
rathen. Einen Augenbli beforgte ich, dag fie nicht recht wiffe, 
was fie thun folle; aber ich mußte mich wohl getäufcht haben, 
denn fie trat zurück und lehnte in der holdfeligften Weife von der 
Welt das Gefchent ab. Sch bemerkte wohl, daß der Borgang 
‚Opportunity’s, welche ſich jo ganz anders benommen hatte, fie in 
große Berwirrung febte, da fle ſonſt vielleicht etwas gefagt haben 


133 


würde, was geeignet gewejen wäre, das feheinbar Verletzende in 
ihrer Weigerung zu mildern. Glüdlicherweife hatte ſie's übrigens 
mit einem Dann von Bildung zu thun, den ſie freilisy Hinter der 
angenommenen Maske meines Onkels nicht vermuthen konnte. Ich 
muß hier bemerken, daß Onkel Ro .zur Zeit, als er das erwähnte 
Anerbieten machte, weder den Charakter des Geiftlichen, noch den 
feiner Tochter kannte, fondern im Gegentheil nicht einmal wußte, 
er habe den Rektor von Saint-Andrew’s zu Ravensneft vor fi. 
Die Art übrigens, wie ihn Mary mit einem Male von dem Irr⸗ 
thume heilte, in den er durch den Umftand verleitet worden war, 
daß fie Opportunity zur Gefellfchafterin hatte — bewog ihn, ſich 
mit vollendetem Takt zurüdzuziehen, und fih auf eine Weile zu 
entfchuldigen, daß ich fürchtete, e8 möchte dadurch feine Verkleidung 
verrathen werden. Meine Beforgniß war übrigens vergeblich ge= 
weien, und Mr. Warren gab jebt der Sache eine andere Wendung. 
Mit unverwüftlicher Einfachheit und einem Lächeln, welches in 
gleicher Weife feine Zufriedenheit über das Benehmen feiner Toch⸗ 
ter wie eine dankbare Anerkennung der beabfichtigten Freigebigfeit 
an den Zag legte, kehrte er fich gegen mich und bat mich, ein 
Stüdchen zu blafen; denn ich hatte meine Flöte aus der Taſche ge= 
zogen, und hielt fie jeßt in der Hand, als erwarte ich eine derartige 
Einladung. 

Wenn ich mir einige Geichielichkeit nachrühmen kann, fo dürfte 
Diefe in einer gewiffen mufifalifchen Fertigkeit liegen, und nament⸗ 
lich verftehe ich mich gut auf die Behandlung der Flöte. Bei ge- 
dDachter Aufforderung that ich keineswegs fpröde, fondern fpielte 
einige Gompofttionen trefflicher Meifter mit jo viel Sorgfalt, als 
ob ich mich in einem der erften Parijer Salond hören ließe. Es 
entging mir nicht, daß Mary und ihr Vater über mein Spiel 
böchlich überrafcht waren, während fich noch außerdem in den Zü- 
gen der erfteren ein Ausdrud gefühlvolken Entzückens erkennen ließ. 
So unterhielten wir ung ein Biertelftündchen auf's angenehuftte — 


134 


eine Frift, die wohl länger gewährt haben würde, wenn nicht jebt 
Miß Opportunity *) — die ihren Namen gewiß nicht mit Unrecht 
führte, da fle bei jeder Gelegenheit zur Hand war — aus freien 
Stüden zu fingen begonnen hätte, nachdem zuvor von ihrer Seite 
die Einladung an Miß Mary ergangen war, fie zu accompagniren. 
Letztere lehnte übrigens das Anfinnen einer derartigen, öffentlichen 
Schauſtellung mit demfelben Takte ab, den fie bei Ablehnung des 
Geſchenks meines Onkels an den Tag gelegt hatte, und Seneka's 
Schwefter mußte deßhalb allein ihre Gefchillichkeit entfalten, was 
fie denn auch mit großem Eifer that, indem fie unaufgefordert 
und in rafcher Reihenfolge drei Arien nach einander fang. Ich 
will mich nicht mit einer Kritik ihres mufifalifchen Talents oder 
der vorgetragenen Poefien aufhalten, fondern hier nur bemerken, 
daß letztere insgeſammt mehr oder weniger der Schule Jim Crows 
angehörten und der Vortrag mit ihrem dichterifchen Werthe in 
fchönfter Harmonie ftand. 

Da wir alle mit dem nämlichen Eiſenbahnzug abzureiſen gedach⸗ 
ten, fo blieben wir beiſammen, bis das Aufbruchfignal ertönte, ob⸗ 
Thon auch diefes unferem gejelligen Verkehr nicht ganz ein Ende 
machte. Mary und Opportunity nahmen ihre Pläße neben einander, 
Mr. Warren aber forderte mich auf, feinen Sig zu theilen, ohne 
an meinem Leierfaften Anftoß zu nehmen; denn meine Kleidung 
war, obſchon meiner Rolle gemäß gewählt, neu, fauber und Teines- 
wegs von der Art, wie man fie gewöhnlich bei herumziehenden 
Straßenmuflfanten findet. Wenn nicht etwa das Snftrument Zeug- 
niß gegen mich ablegte, jo Eonnte ich meinem Aeußern nach wohl 
als ein nicht ganz unpaffender Reifegefellfchafter des Geiftlichen be- 
trachtet werden. In diefer Weife machten wir unfere Reife nach 
Saratoga. Onkel Ro hatte neben Senefa Plab gefunden und be— 
nüßte diefe Gelegenheit, um unterwegs in vertraulichem Gefpräch 








”) Gelegenheit. 


135 


feinen Nachbar über alles, was mit der Nentenbewegung in Ver⸗ 
bindung ftand, auszuholen. 

Der Geiftliche und ich, wir beide unterhielten ung gleichfalls 
in anziehender Weiſe miteinander. Seine Fragen betrafen Europa 
im Allgemeinen und Deutfchland insbefondere,; auch glaube ich 
Grund für die Annahme zu haben, dag ihn meine Antworten in 
eben jo hohem Grade überrafchten, als befriedigten. Es wurde mir 
. zwar fchwer, die Härten meines angenommenen Dialektes beizube- 
halten; indeß nahm ich mich nach Kräften zufammen, und die Furcht 
vor einer Entdefung und ihren muthmaßlichen Folgen Fam den 
Unftande, daß ich in diefer Mundart ziemliche Uebung gewonnen 
hatte, trefflich zu fatten. Natürlich fehlte es nicht an Verftößen ; 
aber meine Zuhörer waren nicht die Leute, welche diefelben hätten 
entdeden können. Sch ſage „meine Zuhörer,” denn ich gewann 
bald die Ueberzeugung, daß Mary Warren, welche unmittelbar vor 
ung faß, mit größter Aufmerkfamfeit auf alles achtete, was zwifchen 
ung vorging. Diefer Umfland trug nicht dazu bei, mich weniger 
mittheilfam zu machen, fondern erhöhte im Gegentheil den Wunfch, 
meine Reden in einer Weife zu halten, daß fie einer folchen Zu- 
hörerin würdig waren. Was Opportunity betraf, fo las fie eine 
Weile in einer Zeitung, verſchlang auf's haftigfte einen Apfel, und 
fchlief den übrigen Theil des Wegs, den wir bald zurüdgelegt hat- 
ten, da die Strede vom modernen Troja bis nach Saratoga Feine 
ſehr lange genannt werden Tann. 


— — — — 


Siebentes Kapitel. 


So hört mid) denn; 
& bitte nur um eine kurze Krift 
eduld — von der Ihr freilich wenig habt — 
Dann fdllt des Magend Antwort Ihr vernehmen. 


Menenius Agrippa. 


Di den Quellen trennten wir ung, da Mr. Warren und feine 
Freunde hier ein Fuhrwerk mit eigenen Pferden trafen, das fie an 
den Ort ihrer Beftimmung bringen jollte. Sch war mit meinem 
Onkel einig geworden, daß wir in beftmöglichfter Weife weiter zu 
fommen fuchen wollten, und fo konnten wir denn die Erklärung 
abgeben, daß wir wahrfcheinlicy am andern oder zweiten Tage in 
Ravensneft eintreffen würden. Im Einklang mit unferem angebli- 
hen Berufe hätten wir allerdings zu Zuß reifen ſollen; wir waren 
übrigens mit einigem Erſparten verfehen und Eonnten ung damit 
ſchon die Unterflügung irgend eines gemächlichen Weiterförderungs- 
mittels fichern. 

„Eines muß ich jagen, Hugh," begann mein Onfel, fobald 
wir und aus der Hörweite unferer neuen Bekannten befanden — 
„diefer Mr. Seneky, wie er fi) jelbft nennt, oder Sen, wie ihn 
feine holdfelige Schwefter titulirt, kömmt mir als einer der größten 
Schurken vor, die durch den ganzen Staat New-NYork zu finden find.” 

„Ihr zeichnet feinen Charakter nicht gerade en beau,” ent- 


I Aw Ara 


137 


gegnete ich lachend. „Aber warum kommt Ihr gerade in dieſem 
Augenblick zu einer ſo entſchiedenen Erklärung?“ 

„Weil dieſer Augenblick zufälliger Weiſe der erſte iſt, in wel- 
chem ich Gelegenheit habe, mich über die Perſon, die ich ſo kürzlich 
erſt in ihrer ganzen Schuftigkeit kennen lernte, auszuſprechen. Du 
mußt bemerkt haben, daß der Kerl ſich von Troy an bis zu dem 
Moment, in welchem ich mich von ihm verabſchiedete, unabläffig 
mit mir unterhielt. 

„Allerdings. Sch hörte feine Zunge ohne Unterlaß plappern, 
kann mir aber nicht denken, wag er alles Euch zu vertrauen hatte.“ 

„Er fprach genug, um feinen ganzen Charakter mir zu enthül« 
len. Der Gegenftand betraf die Rentenhändel, die er mir als 
einem vermeintlichen Auslä änger nach feinen Sinne zu erklären be= 
müht war, und ich wußte ihn Schritt für Schritt fo gefchickt zu 
faffen, daß er allmählig mit allen feinen Plänen und Ausfichten, 
die er fih von der Sache verfpricht, gegen mich herausrüdte. 
Denke dir nur, Hugh, der Schandbube entblödete fich nicht, mir 
den Borfchlag zu machen, ich und du, wir beide follten ung dem 
Dienft des Antirenterpöbels weihen und ung unter die ſpitzbübiſchen 
verfappten Rothhäute einreihen laſſen!“ - 

„Wie, fo find aljo diefe Banden noch immer organifirt, dem 
Geb zum Trop, das kürzlich gegen fie erlaffen wurde ?" 

‚Rede mir auch von Geſetz! Was kümmern fi) in einem 
Lame, wie das unfrige, zmeis oder dreitaufend Wähler um die 
Gaetzgebung und ihre angedrohten Strafen! Wer jol fie in Boll- 
zug feßen? Selbſt wenn fie Mordthaten begehen und zum Tode 
verurtheilt werden — die Aufregung über derartige Berbrechen 
tönnte vielleicht doch das letztere herbeiführen — fo wiflen fie 
nur zu gut, daß man Feinem von ihnen in gutem Ernft das hänfene 
Halsband anlegt. Die ehrenhaften Leute verhalten fich leider nur 
zu theilnahmlog, ſobald ſich's um Dinge handelt, die nicht auf ihre 
unmittelbaren Intereſſen Bezug haben. Allerdings ift es für jeden 






138 


Biedermann unferes Staates ſchon um feiner felbft willen eine 
ernfte Pflicht, gegen die Antirentenbewegung den Kampf zu eröff- 
nen und fein Stimmrecht fowohl als auch feinen ganzen Einfluß 
zu benüßen, um das Unwefen in den Koth zu treten, dem es feine 
Entftehung verdankt, aber unter Hunderten — felbft ſolchen, welche 
diefes heillofe Treiben au8 dem Grund ihrer Herzen verdammen 
— befindet fich nicht einer, der auch nur einen fußbreit von feiner 
gewohnten Weife abginge, um dem Umfichgreifen des Mißftandes 
Einhalt zu thun. Alles hängt daher nur von Denen ab, welche im 
Beſitz der Gewalt find, und diefen ift weit mehr daran gelegen, 
fih bei dem großen Haufen ränkefüchtiger Schurken in Gunft zu 
ſetzen, ald den einzelnen ehrlichen Mann zu ſchützen. Du erinnerft 
dich, hier zu Lande kommen die Geſetza nach dem Grundſatz in Voll- 
zug: was Jedermanns Sache ift, ift Ktemands Sache." 

„Ihr werdet übrigens doch nicht glauben, daß die Obrigkeiten 
bei einer offenen Verhöhnung der Geſetze flillfchweigend zufehen 
fönnten ?" 

„Dieß wird ganz und gar von dem Charakter der einzelnen 
Gewalthaber abhängen, denen ich nur theilweife traue. Du darfit 
Darauf zählen, daß man in einem fraglichen Kalle mit div und mir 
wenig Umftände machen würde, während fich bei Dem großen Haufen 
die Sache ganz anders verhält. O, was habe ich in meiner Eiſen⸗ 
bahnwagenede für föftliche Entdedungen gemacht! Die zweiggder 
drei Männer, welche fih Mr. Newcome anfchloßen, find aus den @iln- 
tirenterdiftriften, und da fie in mir einen Freund zu haben glaufen, 
fo ließen fie alle Zurückhaltung fallen. Einer davon fpielt ufter 
den Antirenters die Rolle des Vorleſers oder Reiſeredners, und da 
er einen gewiflen didaktiſchen Schwung beſitzt, fo hatte er die Gewo- 
genheit, mir allmälig einige feiner Beweisntethoden beizubringen. ” 

„Wie, e8 werden gar regelmäßige Vorträge im Sinne der Be- 
wegungspartei gehalten? Ich hätte gedacht, die Zeitungen reichten 
zu, um dergleichen Ideen in Umlauf zu bringen.” 


.. 
n 


139 


„OD die Zeitungen haben fi, wie die allzufrei ſchwimmenden 
Schweine, ſelbſt umgebracht; außerdem ſcheint es im gegenwärti» 
gen Augenblit Mode zu fein, ihnen Eeinen Glauben zu ſchenken. 
Deffentlihe Vorträge find nunmehr die großen moralifchen Hebel 
der Nation.“ 

„Kann man aber in einem öffentlichen Vortrag nicht ebenfogut 
Lügen ausframen, wie in einer Zeitung?” 

Ohne alle Frage — und wenn viele von diefen Volksrednern 
zu der Schule meines neuen Bekannten Holmes —“ ‚Bolsrebner 
Holmes‘, wie ihn Seneka nannte — gehören, fo muß ich befagtem 
löblichen Orden zur Steuer der Wahrheit nachrühmen, daß er fih 
gegen dieſe ſchoͤne Tugend fehr bedeutende FrehPeliän erlaubte." 

Ihr habt ihn aligegggeinigen Verftögen gegen die Wahrheit 
ertappt, Lieber Onkel?“ 

„Rede mir nicht von einigen, fondern vielmehr von hunderten. 
Zür einen Mann in meiner Stellung war nichts leichter, als dieß, 
da ich ja die ganze Gefchichte der Landeigenthumsrechte im Staat 


von & einer Beweisgründe faßt die ſchwache 
eite uf, daß ich ihn dir mittheilen muß. 
& ſp Charakter der Unruhen — von der 
oben den und für Die Ehre des Staates, 
“ihnen nahen, und ging dann — du wirft 
den F en — auf den von ihm entworfenen 
Borfd r Befigtitel eine andere Verleihung 
vorzu k aufriedengeflellt werde !" 
" rürlich die Pächter verſtanden, denn 
die G hte Eommen nie in Betracht." 


„Dieß iR der eine ſchöne Zug in diefer Moral — das Auge 
oder die Wange — wie du willft; nun aber kömmt die Nafe, und 
man muß fagen, daß fie ächt römiſch if. Ein gewiffer Theil der 
Staatsgemeinflb wünffeht fich feiner vertragsmäßigen Obliegen- 

beiten zu entledigen, "und weil er finden muß, daß dieß guf geiehe 
* 


. 


W 


"nie 


140 


lichem Wege nicht gefchehen kann, fo greift er,. um feine Abfichten 
dDurchzufeßen, zu Mitteln, welche allen Geſetzen Hohn fpreden. 
Störer des Öffentlichen Friedens machen ihre eigenen Gefehwidrig- 
feiten zu einer Grundlage weiterer Hebertretungen und fußen darauf, 
wie auf einem rechtlichen Boden, weil fie diefen nirgends anders 
finden können. Ich habe einige Zeitungsblätter durchlefen und aus 
den darin enthaltenen Proclamationen u. |. w. die Entdedung ge- 
macht, daß in Betreff diefer Eöftlichen Politik die Gefeßgeber ſowohl 
als die Gefephbertreter unter dem gleichen Hütchen fpielen. Nicht 
eine Seele tritt mannhaft auf gegen die beabfichtigten Rechtsſtö— 
rungen, und die bereits ftattgehabten Verbrechen werden ald Gründe 
vorangeftellt, warım man Zugeftändniffe machen und ihnen auf diefe 
Weife Vorſchub leiften müſſe. Unſere wre geben die Mit- 
tel an die Hand, allen ungerechten uM®ungefelichen Zujammen- 
rottungen mit Nachdrud zu begegnen; aber flatt diejelben in An- 
wendung zu bringen, erflärt man eben diefe Umtriebe für einen hins 
reichenden Grund zu Abänderung der Gefepe felbft, und man begeht 
gegen einzelne Bürger das fchreiendfte Unrecht, nur damit Die Herren 
der Gewalt bei dem großen Haufen ihre Pqlarität und dami 
bei Wahlen die Stimmenmehrheit nicht ve “ 

„Dieß ift ein Verfahren, welches nuı 
begründeter Befchwerdemomente in Anwen 
hievon ift Doch in dem Falle der Pächter nirg 
aufzufinden. Dan gedankenlojen Pöbel Ta 
des Pachtſyſtems durch die Abzugsbürgfchafte 
die Holzlaften und die Arbeitstage irre führen; mine Verträge 
find insgefammt auf drei Lebensdauern feſtgeſetzt ſtipuliren Die 
Rente in baarem Geld, ohne daß eine Klauſel angefügt wäre, welche 
im Gebrauche des Feudalismus ſteht, obfchon ich nicht einfehen kann, 
warum eine Mebereinkunft auf Naturalleiftungen mehr von dem 
Charakter des Feudalweſens an fid) tragen joMfhis jede audere. 
Könnte man doch ebenfogut von einem Bafallen- und Lehenherräich- 










fetten Hühner, 









y 


ER WE ze 


141 


feitsverhältnig reden, wenn einer mit einem hter für eine 
beftimmte Reihe von Jahren über Schweinefleiſchlie cxiengen einen 
Akkord ſchlöße! Laſſen wir Übrigens die Frage, was unter Feuda⸗ 
lismus zu verſtehen iſt, beruhen. Deine Pachwerträge und die ver 
meiſten großen Grundbefiter lauten auf Lebensdauern, und doch 
muß ich hören, daß die Unzufriedenheit allgemein ift, und daß Die- 
jenigen, welche feierlich in ſolcher Weiſe ihre Verträge abgefchloffen 
haben, folglich nach Ablauf der bedungenen Zeit alles Anrecht ver- 
lieren, eben fo Iaut in ihrem Gefthrei über Rentenaufhebung und 
Eigenerwerbung find, wie die ewigen Erbpächter. Allgemein heißt's 
jebt, jede Leiftung, mit Ausnahme der Erlegung eines Kauffchil- 
ling$, ſei ein Schimpf für den freien Bürger.” 

„Du haft ganz recht ‚and wir fehen hier nur eine von den . 
Betrügereien, die an der Welt im Großen geübt werden. In den 
öffentlichen Urkunden ift blos von den Manorleafes, von dem ewigen 
Erbpacht und feiner feudaliftiihen Begründung die Rede, während 
die Agitation alle Pachtgüter — oder wenn nicht gerade alle, 
fo doc) diejenigen insgefammt, welche um ihrer Ausgedehntheit 
willen einer folhen Mühe lohnen — in's Auge fgpt. Sicherlich 
gibt es, fogar auf den Ländereien der Nenfjelaerd, noch hunderte 
von Pächtern, die ehklich genug find, den Verpflichtungen, zu wel- 
chen fte fich Taut ing Derträge anheiſchig gemacht haben, nachzu⸗ 
fonımen, wenn ed DIE Aufwiegler nur geflatteten; aber der Geift 
der Habgier beherrfcht die Bewirthichafter fremden Grunde und Bo- 
dens fo gut wie die, welche in ihrem Eigenthum figen, und Die 
Regierung betrachtet diefen traurigen Sachbeftand für einen maß— 
gebenden Grund zu Verwilligung von Zugefländniffen. Die Unzu⸗ 
friedenen ſollen befehmichtigt werden, geſchehe dieß nun auf dem 
Wege Rechtens oder nicht.” 

„Hat Senefa bei diefer Gelegenheit nicht auch feine eigene 
Interefen zur Sprache gebracht?” 

* wohl, aber nicht gerade in Der Unterhaltung mit mir, 

PR . 


.* . 


ra 


142 


fondern in feinem Gefpräch mit dem ‚Volfsredner Holmes.‘ Ich 
börte aufmerffam zu und verlor fein Wort, da ich zufälligerweife 
aus den Weberlieferungen ſowohl, ald vermöge meiner perjönlichen 
Sachkenntniß volltommen über alle Hauptpunkte des Falls unter- 
richtet war. Da es dir bald zufommen wird, in Diefer Angelegen- 
heit für dich felbft zu handeln, fo mag es am Platze fein, die letz⸗ 
teren dir gleichfalls auseinanderzufegen, da fie dir noch obendrein 
für die moralifhe Würdigung der Verhältniffe, unter denen du Die 
Hälfte deiner Farmen vergeben haft, als Wegwetfer dienen können. 
Ohnehin würdeft du dergleichen Dinge nie aus öffentlichen Berich- 


ten grfabren, da man über die Verträge, in welchen der Grundherr 
fer zu kurz kömmt, pfiffigerweife ſchweigt, während da- 
* 


über diejenigen, in welchen ſich ein Pächter nur ein klein⸗ 
ig benachtheiligt glaubt, nah und fern ein Gefchret erhoben wird. 


Ich gebe die Möglichkeit zu, daß unter den vielen tauſend Farmen, 


die im Staat New⸗-NPork Eigenthum der Grundherren find, hin und 
wieder eine fich befinden mag, mit welcher der Pächter ein fchlechtes 
Geſchäft gemacht hat; aber wie ſind wir in einem ſolchen Falle 
mit unſerer Regierung daran, wenn ſie um Abhilfe derartiger Uebel 
angegangen wird? Wage es einmal einer der Renſſelaers oder mei- 
netwegen auch ein gewiſſer Hugh Littlepage dem geſetzgebenden 
Körper eine Eingabe vorzulegen und darin die Benachtheiligungen 
auseinanderzufeßen, die für den Grundheiil® zum Beifpiel aus 
deinem Mühlpacht hervorgehen — ich kann dir noch obendrein fagen, 
Huph, daß dieſe jehr bedeutend find, obſchon fie im eigentlichen 


Sinne des Worts nicht Anlaß zur Beichwerde geben können — fo 


wird's ein allgemeines Gefchrei abfeben, und das Refultat if, daß 
man dich und deine Eingabe verdientermaßen dem Spott und Ge- 
lächter preisgibt. Der Einzelne hat nie Recht, wenn ihm ein Dutzend 
gegenüber fteht.” 

„So groß ift der Unterfchied zwifchen ‚de La Rochefoucauld 
ei de La Rochefoucauld.‘” 


143 


„Ja wohl der größte von der Welt. Aber laß dir die That- 
jachen mittheilen, denn ſie können dir zum Nichtfcheit dienen, nad 
denen du viele andere zu beurtheilen in die Lage kömmſt. Mein 
Großvater Mordaunt, welchen man den Patentifirten nannte, ver» 
(ieh zuerft jenes Mühlanwefen an Seneka's Großvater, als dieſer 
noch ein ganz junger Menſch war. Um nun Bebauer des Bodens 
zu gewinnen, war es in jenen frühen Zeiten nöthig, den Farmern 
große Vortheile einzuräumen, denn eine endlofe Ausdehnung Lan- 
des lag herrenlos da, und es fehlte jehr an arbeitsfähigen Händen. 
Der erfte Bertrag lautete alfo volltommen zu Gunften jenes Jaſon 


Newcome, deffen ich mich kaum noch entfinnen kann. Man fchildert 


diefen Menfchen verfchieven, und die richtige Zeichnung dürfte ihn 
wohl als einen heuchlerifchen Schelm darftellen müſſen, deſſen 
Hauptcharakterzüge in Neid, Habjucht und bäurifcher Engherzig- 
feit beftanden. Der Sage nad) ertappte man ihn einmal über Bret- 
terdiebftal, und der Auf legt ihm noch unterfchiedliche andere 
Betrügereien bei. Oeffentlich aber galt er als einer jener tugend⸗ 
haften, unermüdlich thätigen Anfledler, welche ihren Nachkommen 
alle ihre Anfprüche, die vermeintlich moralifchen fowohl, als die 
bekanntlich Iegalen übermachten. Dieſes Gefalbdder mag etwa 
noh für alte Damen, welche Thee und Schnupftabat Lieben, 
und für Männer von ähnlich albernem Geifte einigen Klang 
haben; indeß kann es kein Verhältniß fchaffen, welches auf Ge⸗ 
febgeber und Berwaltungsbeamte in der wahren, würdigen Be- 
deutung diejer Ausdrüde Einfluß üben darf. inige Zeit vor 
der Berehelihung meined Vaters lief der urjprüngliche Vertrag 
mit jenem Safon, der noch am Leben und im Beſitz war, ab, 
und wurde ihm auf einundzwanzig Jahre feft oder nn drei 
Lebensdauern erneuert. Don lepteren ift die dritte 
abgelaufeng. Auch bei Erneuerung des Bachtvert het ji 
Pächter ſehr vortheilhafte Bedingungen, die feit ſechtzig Jahren 
der Familie zu gut kommen, weil der alte Newcome zum Glück 


..E 


144. 


für feine Nachkommenſchaft eine der verwilligten Lebensdauern 
einem Sohne übertrug, weldher ein hohes Alter erreichte. Nun 
zieht unſer Senefy — Gott fegne den Ehrenmann — befannter- 
maßen von einigen der Grundflüde, die ihm als Erbtheil zufielen, 
mehr Pachtzins, ald zu Tilgung der Rente für das ganze Anwefen 
erforderlich wäre, und gleich guten Ertrag liefert die Mühle ſchon 
fett dreißig und mehr Jahren ber. Der Umftand aber, daß die 
Familie fih diefe lange Zeit über der Früchte eines fo vortheilhaften 
Bertrags erfreut hat, wird jebt als ein Grund geltend gemacht, 
daß die Newcome’8 Anfprüche haben, das Gut für eine Kleinigkeit 
erb und eigen zu machen; ja, wenn es nach ihren Wünfchen ginge, 
würden fie wohl gar nichts dafür geben.” 

„Ich, fürchte, eine derartige Verkehrung aller Grundfäße Liegt 
nur zu fehr in der gebrechlichen Menfchennatur. Es fcheint mir, 
die Hälfte unferes Gefchlechts treibe es mit den meiften ihrer An- 
fichten sens dessus dessous." 

„Die Hälfte ift noch viel zu gering angefchlagen, mein Zunge, 
und du wirft felbft zu diefer Erfahrung gelangt fein, wenn du ein- 
mal älter bift. Aber war es nicht eine heillofe Unverfchämtheit von 
Diefem Seneka, daß er uns den Vorſchlag zu machen ſich erdreiſtete, 
wir ſollen und dem Corps der Inſchens anſchließen.“ 

„Und was habt Ihr darauf geantwortet? Ich glaube kaum, 
daß es für ung gerathen wäre, uns bewaffnet und verkleidet betre⸗ 
ten zu laſſen; denn nachdem das Geſetz einen derartigen Aft für 
ein Kapitalverbrechen erklärt hat, dürfte er gefährlich ausfallen, 
felbft wenn man feinen andern Beweggrund dabei hätte, als Die 
Unterflüßung des Geſetzes.“ | 

„DaB uns ein folder Narrenftreich einfallen könnte! Glaube 
mir, Hugh, wenn man einem von und oder was immer für einem 
Glied der alten grundherrlichen Familien ein folches Werbrechen 

u könnte, jo würde der: Betretene ficherlich ein Opfer 
in Gouverneur es wagen dürfte, uns zu begnabdigen. 









MY, 


145 


Nein, nein — Milde und Schonung find nur Worte, die bei. offen- 
Fundigen, abgefeimten Schurken in Anwendung kommen.“ 

„Doch könnte ung der Umftand einigermaßen nüßlich werden, 
daß wir in vorliegenden Falle zu einem fehr mächtigen Haufen 
von Gefegübertretern gehören würden." 

„Du haft Recht; dieg ift mir für einen Augenblid außer Acht 
gekommen. Se zahlreicher die Unthaten und Verbrechen find, mit 
defto größerer Wahrfcheinlichkeit kann man darauf zählen, der Strafe 
zu entgehen. Es handelt fich obendrein hiebei nicht um den all» 
gemeinen Grundfaß, daß die Macht dem Widerſtand Trotz bietet, 
fintemal bier ein ganz anderes eigenthümliches Princip um ſich 
greift — dieſes nämlich, daß taufend oder zweitaufend Stimmen 
von einer ’unendlichen Wichtigkeit werden, wenn bei einer Wahl die 
Entfcheidung von dreitaufend Votanten abhängt. Gott allein 
weiß, auf was dieß alles noch hinauslaufen wird." 

Wir näherten ung jebt einem der befcheideneren Wirthshäufer 
des Platzes, weil wir bei unferer Außenfeite füglicher Weife nicht 
auf die beffern Rüdficht nehmen Eonnten, und unfer Gefpräch wurde 
abgebrochen. Für den Befuch der Quellen war die Jahreszeit noch 
einige Wochen zu früh, und wir fanden nur wenige an Ort umd 
Stelle, welche fih aus wirklichem Bedarf des Waffers bedienten. 
Da mein Onkel feiner Zeit ein Stammgaft von Saratoga gewejen 
war und — wie er fich lachend ausdrüdte — dafelbft den beau 
von reinftem Waffer gefpielt hatte, jo konnte er mir alle Dent- 
würdigfeiten des Platzes genugjam erklären. in amerikanifcher 
Kurort ſteht jedoch fo weit unter den meiften europäiſchen Brun- 
nenanftalten, daß er felbft in der vollen Höhe der Saifon faſt durch 
nichts als durch den Zufammenfluß vieler Menfchen die Aufmerk⸗ 
ſamkeit des Reifenden auf fich zieht. 

Im Laufe des Nachmittags fanden wir Gelegenheit, ein heimkeh⸗ 
rendes Fuhrwerk zu benützen, welches ung bis zum nächſten Nacht- 
quartier Sandy Hill brachte. Der andere Morgen war ſchön und 

Ravensneſt | 40 


2* 


446 


heiter? Wir mietheten uns einen Wagen und fuhren den ganzen 
Zag landeinwärts. Abends lohnten wir unfern Kutfcher ab, fandten 
ihn mit feinem Fuhrwerk zurüd und fuchten num eine Herberge auf, 
in welcher wir übernachteten. Hier wurde viel von den „Inſchens“ 
gefprochen, die fich anf den Rändereien der Littlepages gezeigt hätten, 
und alles trug fih mit Muthmaßungen über das wahrfcheinliche 
Refultat ihrer Bewegungen. Wir befanden und in einem Zownfhip 
oder vielmehr auf einer Herrfchaftsländerei, welche den Namen 
Mooferidge führte und vordem ein Eigentum unferer Familie 
gewefen, nachher aber verkauft und von den nunmehrigen Inſaſſen 
großentheils bezahlt worden war, da in jener Zeit Niemand daran 
gedacht hatte, an feinen vertragsmäßigen Verpflichtungen mäkeln 
u wollen. Schon dem gewöhnlichften Beobachter muß es bald auf- 
—* daß ein durch Verträge gebundener Bürger nur dann feinen 
Accord zu brechen wünfcht, wenn ihm ein Gewinn in Ausficht fteht. 
So habe ich nie aus dem Munde der Pächter auch nur eine Sylbe 
gegen die Bedingungen, unter denen fie ihre Farmen bewirthfchaften 
durften, laut werden hören, wie fehr fie. auch über diejenigen, ver- 
möge derer fie fih zu einem baldigen Abzug genöthigt fahen, ein 
Hfchrei erheben mochten. Hätte ich über die Thatſache Befchwerde 
führen wollen — und folcher Thatfachen ift die Fülle vorhanden — 
daß meine Vorfahren unvorfichtiger Weife ihre Ländereien für all- 
zuniedrige Pachtzinfe vergeben hätten, fintemalen die Pächter im 
Stande feien, ihre Rente für ein halbes Jahrhundert durch After- 
verpachtung Eleiner Theile ihrer Farmen zu tilgen, jo würde man 
mich, wie mein Onkel fehr richtig angedeutet hatte, für einen Nar- 
ren ausgefchrieen haben. „Bleib' bei Deiner Verſchreibung,“ wäre 
die allgemeine Loſung geweſen, und an Shylod hätte fein Menſch 
mehr gedacht. Allerdings findet zwiſchen den Mitteln, welche einem 
wohlhabenden Grundbefiger die Erwerbung von Einfiht, Bildung 
und gejehfchaftlicher Stellung erleichtern, an die ſich allerdings auch 
gelellfipaftliche Bilichten Enlipfen, und denen, weldge einen Kitanı, 


147 


ehrlichen, wohlgefinnten Landwirth, feinem Pächter, zu Gebot ſtehen, 
ein himmelmweiter Unterfchied flat. Eben deßhalb darf auch ein’ 
humaner, gebildeter Mann die Vortheile nicht außer Acht Laffen, 
die er vieleicht ererbt oder überhaupt ohne fein eigenes Zuthun ge= 
wonnen hat — ein Sachverhalten, das ihn beſtimmen follte, bis 
zu einem gewiſſen Grade auch für das Intereſſe derjenigen beforgt 
zu fein, welche auf feinen Ländereien ihren Unterhalt fuchen. Wenn 
ich aber auch alles dieß zugebe und zugleich noch beifüge, daß ein 
Staatöverband zu beklagen ift, dem eine folche Klaſſe von Menſchen 
fehlt, weil ihm darin eines der ficherften Mittel abgeht, die Geiftes- 
. bildung zu erweitern und die Givilifation zu erhöhen, fo fällt es 
mir doch nicht entfernt ein, zu glauben, derartige Männer feien 
verpflichtet, ſich's gefallen zu laffen, daß man ihnen ihre wirkliche 
Bedeutſamkeit mit ihren Folgen vorhält, fobald man von ihnen er= 
wartet, fie follen geben, bei allen andern Gelegenheiten aber fie mit 
ingrimmigem Neide mißachtet. Nichts kann einen fo förderlichen 
Einfluß üben auf die Lebensweife, auf den Geift und auf das 
wahre Wohl einer aderbauenden Bevölkerung, ald wenn fie geleitet 
wird durch die Intelligenz und die gemeinfamen Intereſſen, welche 
das Berhältnig zwiſchen Grundherren und Pächtern bezeichnen -oll= 
ten. Mögen immerhin gewiſſe Nationalöfonomen von einem Zu« 
ftand der Dinge fajeln, welcher bei jedem Landwirth einen freien 
Grundbefitz vorausfeßt und ihn mit einem Reichthum befchentt, der 
ihn befähigt, unter den übrigen Landeigenthümern des Staats eine 
gleiche Stellung einzunehmen — ich Taffe ihre Träumereien gerne 
gewähren; indeß weiß alle Welt, daß es in Betreff der äußeren 
Mittel die gleichen Eleinen Abftufungen geben muß und wirklich gibt, 
welche man in der geiftigen Organifation des menfchlichen Ge— 
fchlechtes findet. Der Natur der Sache nad wird die Mehrzahl 
bald unter dem Niveau des freien Grundbefigers ftehen, und hebt 
man das Berhältniß zwiſchen Grundherrn und Bähıtern anf, W 
dadurch nur zwei große Uebel gewonnen. Nathx ôẽ V Kunst 
0“ 


148 


fein Bapital ohne Sicherheit und ohne Ertrag verwenden; der 
Reiche ift folglich gehindert, fein Eapital in Ländereien anzu— 
legen, und diefer Mißftand verfümmert nicht nur dem Gapitaliften 
die Vortheile einer freien Verfügung über feine Mittel, fondern 
wirft auch nachtheilig auf den Werth des Bodens, welcher durch 
bemittelte Kaufsliebhaber gefteigert würde. Andererfeits aber ift 
jedem unmöglich gemacht, der Landwirthſchaft feine Kräfte zu wid- 
men, wenn er nicht das nöthige Geld bejigt, eine Farm zu kaufen. 
Sp weit find übrigens diejenigen, welche jebt Farmen haben möch— 
ten, und Diejenigen, welchen es für den nächften November um 
Stimmen zu thun ift, in der Einficht noch nicht gekommen, und 
ihr kurzer Blick läßt fie die Wahrheit nicht entdeden, daß fie in 
MWirklichkeit mit ihrem Gefchrei von „gleichen Rechten” dem armen 
Aderbauer bloß ein Hinderniß in den Weg legen, welches ihn nie 
in eine befjere Stellung, als in die eines gewöhnlichen Zaglöhners 
gelangen läßt. 

Wir erhielten in unferem Wirthshaufe ein Leidliches Unterfom- 
men — ich rede indeß hier nur beziehungsweife, denn felbft der 
eifrigfte amerifanifche Patriot dürfte in den Schlafeinrichtungen 
einer gewöhnlichen Herberge nicht viel zu Toben finden, wenn er an⸗ 
ders etwas von fremden Ländern erfahren oder Die Bequemlichkeit 
der beften Hotel8 in den Vereinigten Staaten Fennen gelernt hat. 
Mit dem gleichen Aufwand von Geld und Mühe Tieße fich ein 
Haus, welches jetzt ein Inbegriff von aller Ungemächlichkeit ift, 
nicht nur erträglich, fondern in vielen Fällen fogar gut einrichten. 
Aber wer fol eine folhe Umwandlung zum Beffern veranlaffen? 
Nah den Anfichten, die unter und im Schwunge find, befindet fich 
das Ärmlichfte Dorf bereit auf der höchften Stufe der Civilifation, 
und was das Volk felbft betrifft, To gilt e8 als eine unum- 
ſtößliche Wahrheit, daß ihm, ohne Unterfchied der Klaffen, kein an⸗ 

deres der Ehriftenheit in Erziehung, Scharffinn und Verftand das 
Baffer reichen darf. Doc) nein — ich mug mid weriefeen, weine 


149 


vorige Bemerkung paßt nur für den Fall, daß man keine Pachtun- 
gen ablöſen will, denn dann erfcheinen mit einemmale die Landbe- 
bauer als unfchuldige, aller Erziehung und Bildung baare Men- 
fen, welche in ihrer Harmlofigkeit ein Opfer der fchändlichen, 
hinterliftigen Grundheren werden *)'! 

Nachdem wir unfer Abendeffen eingenommen hatten, verbrad- 
ten wir eine Stunde auf der Piazza, wo die Einwohner des Dor- 
fes in Haufen verfanmelt waren. Dieß gab uns Gelegenheit, mit 
den Leuten einen Verkehr anzufnüpfen. Mein Onkel verkaufte eine 
Uhr, und um-mich populär zu machen, fehte ich meinen Leierkaften 
in Thätigfeit. Nach diefer Einleitung kamen wir auf das große 
Thema des Tages, den Antirentismug, zu fprehen. Der Haupt- 
redner war ein junger Mann von ungefähr fechsundzwanzig, von 


*) Mr. Hugh Littlepage fpricht allerdings etwas fcharf, aber ed wäre fruchtfoa, 
wenn man läugnen wollte, daß allen feinen Aeußerungen eine ernfte Wahrheit zu 
Grund liegt. Der gereizte Ton, in welchem er NR läßt ſich aus dem Umſtande 
erklären, daß man jo nachdrücklich mit dem Berfuche umgeht, ihn der Ländereien zu 
berauben, die ald väterliches Erbtheil auf ihn gekommen find — ein Verjudy, der 
fich fogar von Seiten der Behörben allen Vorſchubs erfreut. Wir müſſen ferner in 
Betracht ziehen, daß — mie fi im Laufe der Geſchichte zeigen wird — in Betreff 
der Littlepages auch die Zunge der Verläumdung nicht unthätig gewejen war und 
Allem aufgeboten hatte, nach ihrer Art die Plane der Antirenterd unterftügen zu 
helfen; denn in jedem Gemeindeverband, in welchem ed nöthig ift, zu Erreichung 
ähnlicher Zwede die öffentliche Stimmung zu gewinnen, wird man ein beabfichtigtee 
Unrecht ftet3 mit Verläſterung der anöblgen Verjon begleiten. Was die Wirthe- 
häufer anbelangt, jo muß ich ala alter Reiſender ber ahrheit jo weit die Ehre 
geben, daß Mr. Littlepage für feine Bemerkungen gute Gründe hat. Selbſt in Kal: 
len, in welden mich die Roth zwang, Zu den Shechteften franzöfiichen Herbergen 
meine Zuflucht zu nehmen — ja, einmal fogar, ald ich in einem Haufe übernachten 
mußte, das blos Kärrner und Fuhrleute zu Kunden hatte, wurde ich mit befferen 
Betten bedient, als die find, welche man in den berufenften amerifanijchen Yand« 
gafthäufern findet. Was dagegen die Reinlichkeit betrifft, jo ift man faft in jeder 
Doriherberge des Staated New-Mork beffer daran, als jogar in den anfehnlichften 
Hoteld von Parid. Der Seitenhieb auf den Geift des Volkes ift wohlverdient, denn 
id habe mit eigenen Ohren zugehört, weldye feine Unterfcheidungälinien gezogen 
wurden, um den Beweis zu führen, daß das „Volk einer friiheren Generation nicht 
fo verftändig geweſen jei, wie dad „Bolf“ der gegenwärtigen — ein Umſtand, wel 
chem man dad Eingehen der früheren Pachtverträge zufchrieb, ftatt fie auf Rechnung 
ber wahren Urjache — der damald herrjchenden Anlichten und Braudie — UFER. 
ia Zeräbige ee Gejabrung eined halben Jahrhundertd u \et SITER, 
ap DaB 5 “ gemwißlich nic fonberli ö im . 

jaften ‚Gaubel abfufchließen, fonderlidy blöde war, wenn ed galt, € IT 


160 


Zeitungsichreiber zu Grunde richten, aber in unferer Zeit ver- 
ſchluckt man fie zu taufenden. Laß Div fagen, Hugh, unfer 
Baterland jchleppt fich unter zwei Syflemen fort, die einander 
jo entgegengefet find, ald man fih nur etwas denken kann — 
unter dem Chriftenthbum und unter den Zeitungen. Das erftere 
hänmert täglich auf den Menfchen los, um ihm die Ueberzeugung 
beizubringen, daß er ein elendes, gebrechliches, taugenichtfiges 
Weſen fei, während leterd immer und ewig von der Vollkom— 
menheit der Menfchen und von den hohen Vorzügen der Bolfs- 
herrſchaft fchreien. ” 

„Bielleicht follte weder auf das eine, noch auf die andern ein 
allzu großes Gewicht gelegt werben.” | 

„Die Prediger des Evangeliums haben unter gewiflen Be- 
Ihränkungen, über die wir alle im Klaren find, wohl recht; aber 
was die Zeitungen betrifft, fo muß ich geftehen, daß für mich bef- 
jere Zeugniffe, als die ihrigen erforderlich find, wenn ich ihnen 
Glauben ſchenken Toll.” | 

Onfel Ro verftieg fich zuweilen und gerieth dadurch auf Ab= 
wege, obſchon ich ehrlich geftehen muß, daß er oft vollfommen 
Recht hatte. 


Achtes Kapitel. 


Noch ſeh' ich dich! 
Das geift'ge Auge ruft hervor 
» Dich aud dem Staub im ſchönſten Flor; 
S ı Du bift bei mir in dunkler Nacht, 
Bift nah’ mir, wenn der Morgen ladıt; 
Durch meine Träume ſtrahlt dein Bild, 
Das um mich fchlingt die Arme mild, 
Und ſtets vernehm’ ich den Belang, 
Der jonft jo füß der Seele Flang. 
Noch jeh’ ich dich! 


Spragne. 


Es war eben Zehn am andern Morgen, als Onkel Ro und 
ich des alten Hauſes bei dem Neſt anfichtig wurden. Ich nenne es 
alt, denn eine Wohnung, über die fchon über ein halbes Jahr- 
hundert hingegangen ift, Kann in einem Lande, wie Amerika, wohl 
Anſpruch auf die Bezeichnung „ehrwürdig" erheben. „Für mich war 
es in Wahrheit alt, denn das Gebäude hatte an der Stelle, wo 
ih es damals fah, ſchon zweimal fo lang, ale ih mich im Das 
fein befand, geftanden und rief mir alle theuern Erinnerungen der 
Jugend in’s Gedächtniß zurück. Bon Kindheit an war ich gewöhnt, 
dieſen Platz als meine künftige Heimath zu betrachten, wie er die 
Heimath meiner Eltern, meiner Großeltern und in einem gewiſſen 
Sinne auch Derjenigen gewefen war, welche in zwei Generationen 
vor ihnen ihren Staub mit jenem Boden vermengt Hatten, DIL 

Ravendneft. AA 


152 


wenn nicht etwa, wie in dem gegenwärtigen alle, das Haus den 
architeftonifchen Charakter des vorigen Sahrhunderts befaß, wel- 
cher die Säule nicht zum Stützpunkt des Architravs, jondein den 
Arhitrav zum Träger der Säule machte. Die fragliche Säule 
beftand, wie dieß gewöhnlich der Fall ift — obſchon man in leßter 
Zeit auch zu Badfleingemäuer und Stud feine Zuflucht genommen 
hat — aus einem Weißtannenftamm, der übrigens in einer für Die 
Schnitzler bequemen Höhe buchftäblich zu zwei Drittheilen durch— 
Ihnitten war. Ih muß der Wunde zur Ehre nachrühmen, daß 
die zierliche Ausführung viel Gefchidlichkeit und Sorgfalt ver- 
rieth, denn die Ränder waren in einer Weife geglättet, daß 
man wohl fehen konnte, wie viel Mühe fich die Künftler gegeben 
hatten, Durch ihre Arbeit auch auf das Auge einen angenehmen 
Eindrud zu machen. 

„Wer hat dieß gethan?“ fragte ich den Wirth, indem ich auf 
den Haffenden Schaden an der Hauptfäule feiner Piazza hin- 
deutete. 

„Dieß? O, es rührt nur von den Schnißlern her,” ent- 
gegnete der Wirth mit einem gutmüthigen Lächeln. 

Ohne Frage find die Amerifaner die gutmüthigften Menfchen 
auf Erden! Hier war ein Mann, dem fein Haus beinahe über den 
Ohren zufammenftürgte — natürlich ſtets das Princip der vor: 
erwähnten Architektur ausgenommen — und er konnte dazu lächeln, 
wie etwa Nero gelächelt haben mochte, al8 er zum Brand von 
Rom fein Saitenfpiel erklingen ließ. 

„Aber was haben denn die Schnißler davon, daß fie Eud) 
Euer Haus ruiniren?” verfeßte ich. Ä 

„O, Shr wißt, dieß ift ein freies Land, und die Leute thun fo 
ziemlich, was ihnen beliebt," erwiederte der noch immer lächelnde 
Wirth. „Ich Ließ fie drauf Losfchneiden, fo lang ich e8 wagen 
durfte; indeß glaube ich doch, und Ihr werdet mir's zugeftehen — 
es war hohe Zeit, daß ich mit meinen Schnikelfteden herausrüdte, 


153 


denn 's ift doch immer gut, wenn man ein Dach über dem Kopfe 
hat, namentlich bei ſchlechtem Wetter. Hätte ich noch eine Woche 
zugewartet, jo wäre die Säule entzwei geweſen.“ 

„Run, ich muß fagen, daß ich mir dieß nicht gefallen laſſen 
würde. Mein Haus ift mein Haus, und daran jollte mir Niemand 
etwas verderben. Laßt Ihr die Leute bier fihnigeln, jo treiben 
fie’s in der Küche ebenfo, und wenn's auch gut ift, hin und wieder 
einen neuen Unterftod zu Eriegen, jo müßt’ cd mir, jeht Ihr, doch 
lieber durch die rechte Art von Leuten geſchehen.“ 

„Wie man an Eurer Sprache bemerkt, ſeid Ihr ein Fremder 
in dieſen Tandestheilen, mein Sreund,” ergriff nun Hubbard felbft- 
gefällig das Wort, denn er hatte mittlerweile feinen Schnigelfteden 
in eine Form gebracht und konnte nun nach einem Schnitzelgeſetz, 
mit dem ich nicht bekannt bin, in der Verkleinerung fortfahren, 
ohne dem Gefchäft weiter ein bejonderes Augenmerk zu fchenfen. 
„Wir nehmen’s hier mit dergleichen Dingen nicht fo genau, wie 
dieß in. einigen Ländern der alten Welt der Fall iſt.“ 

„Sa —— das kann ich jehen. Aber wie ſteht's denn — Eoften 
in Amerika Tannenftänıme und Säulen Fein Geld?" 

„Ei gewiß, Es ift fein Mann in dem Lande, der es über— 
nehmen würde, dieſe Säule ſammt Anftrich und allem unter zehn 
Dollars mit einer neuen zu erfeken.“ 

Dieß war die Einleitung zu einer Verhandlung über den muth- 
maßlichen Aufwand, welchen eine Vertaufchung der befchädigten alten 
Säule mit einer neuen zur Folge haben mußte. Die Meinungen 
lauteten verjchieden, und c8 ſprach fich ein ganzes Dutzend über den 
Gegenftand aus. Einige ſchätzten die Koften auf fünfzehn Dol- 
lars, andere aber fliegen in ihrem Anfchlag bis auf fünf herunter. 
Ich war eben fo betroffen fiber die Ruhe und Entfchiedenheit, wo= 
mit jeder feine Anficht Fund gab, als über die Sprache, deren fie 
fih dabei bedienten. Der Accent trug zwar bei allen, felbft Hub: 
bard nicht ausgefchloffen, den Charakter der Provinz und hatte 


154 


einen flarken, nicht jehr angenehmen Beigeſchmack von dem Dialekte 
Neu-Englands, während einige der Ausdrüde Die gefhraubte Rede— 
weife der Zeitungen nachahmten; aber im⸗Ganzen war die Sprache 
für Leute aus dieſer Lebensklaffe überrafchend richtig und gut. 
Die einzelnen Aeußerungen verriethen großen Scharfblid und 
eine genaue Bekanntſchaft mit praftiihen Dingen; auch wurden 
fie mitunter in einer Weife vorgetragen, daß man auf die Be- 
fefenheit des Sprechers fchließen konnte. Hall übrigens jebte 
mich wirklich in Erftaunen. Er ließ fih mit einer Beftimmt- 
heit und Sachkenntniß vernehmen, die einem gut gefchulten Mann 
Ehre gemacht haben würden, während zugleich in feinen Worten 
eine Einfachheit Tag, welche nicht wenig Dazu beitrug, den Ein« 
druck derfelben zu erhöhen. Eine gelegentliche Bemerkung be— 
wog mich zu der Ermwiederung: 

„Sch wollte mir's gefallen Taffen, wenn ein Inſchen eine folche 
Säule zujammenfchnitte, aber von einem weißen Mann hätte ich 
es nicht erwartet.“ 

Diefer mein Einwurf lenkte das Gefpräcd auf den Antirentis- 
mus, und fchon nach wenigen Minuten fahen Onkel Ro und id) 
unfere Aufmerkfamfeit völlig in Anjprucdh genommen. 

„Sm Grunde geht's doch mit der Sache vorwärts," fagte 
Hubbard ausweichend,. nachdem die übrigen ihr Sprüchlein ange- 
bracht hatten. 

„Leider,“ verſetzte Hal. „Man hätte von vornherein der gan— 
zen Gefchichte in einem Monat ein Ende machen Können, und von 
einem civilifirten Land wäre dieß auch zu erwarten geweſen.“ 

„Sleihwohl werdet Ihr zugeftehen müflen, Nachbar Hall, 
daß es eine große Verbefferung in dem Zuflande der durch den 
ganzen Staat zerftreuten Pächter wäre, wenn fie ihre Bachtgüter 
erb= und eigen machen Könnten." 

„Dieß unterliegt Teinem Zweifel, wie es denn aud) eine we— 
/entliche Berbefjerung in der Lage meiner Werfftattgefellen wäre, 


155 


wenn fie fich felbit als Meifter aufthun Könnten. Doch hierum 
handelt ſich's nicht, fondern vielmehr um die Brage, ob der Staat 
das Recht habe, an was immer für einen Mann das Anfinnen zu 
ftellen, „daß er gegen feinen Willen fein Eigenthum verkaufe. Es 
wäre mir eine faubere Art von Freiheit, wenn wir ung gefallen 
laffen müßten, daß das Gejeß in folder Weife über unfere Häufer 
und Güter verfüge." 

„Und fiehen wir mit unſern Häufern, Gärten und armen 
nicht wirklich unter einem ſolchen Geſetz?“ verfebte der Attorney, 
der augenfcheinlich vor feinem Gegner Refpekt hatte und deßhalb 
nur vorfihtig und unter Winfelzügen mit feinen eigenen Anfichten 
herausrüdte. „Wenn das Volk Land braucht, fo muß es ihm 
gegen Bezahlung abgetreten werden.“ 

„Ja, aber zwifchen brauchen und brauchen iſt ein Unterfchied. 
Sch habe jenen alten Bericht des Nepräfentanten-Gomite’s auch 
gelefen und möchte feine Grundfäße durchaus nicht unterfchreiben. 
Was die öffentliche Politik im gegenwärtigen Falle verlangt, ift 
etwas ganz Verſchiedenes von dem Bedürfniß für öffentliche Zwede. 
Braucht man Land zu Anlegung einer Straße, einer Feftung oder 
eines Canals, jo muß es allerdings ein Gefeß geben, welches ge- 
gen billige Abſchätzung den Verkauf gebietet, da der erforderliche 
Grund anders nicht zu erzielen ift; aber ich ſehe gar jchlechte Un— 
terftügung des Rechtes darin, wenn in einem Kalle, wo ein Gon= 
trahent einfeitig von feinem Vertrag abgehen will, die Staatd- 
regierung einzugreifen fih anmaßt, ohne einen andern Grund 
dafür zu haben, als daß man auf diefe Weife den Anzufriedenen, 
fatt ihn durch die Gejehe zum Gehorfam zu zwingen, leicht und 
wohlfeil zufrieden ftellen Kann. Wollte man diefen Grundfaß 
weiter ausführen, jo wäre es auch leichter, fich mit dem nächften 
beten Taſchendieb durch einen Vergleich, ſtatt durch die geſetzliche 
Beſtrafung abzufinden, und eben fo gut wären in diefer Weife alle 
Arten von DBerträgen zu umgehen,” 


156 


„ber alle Regierungen bedienen ſich diefer Gewalt, fobald 
ed nöthig wird, Nachbar Hall.” 

„Das Wörtlein „nöthig" Hat ein gar weites Feld, Squire 
Hubbard, und die einzige Nothwendigfeit, von welcher hier die 
Rede fein Fann, befteht darin, daß auf dieſem Wege gewifle Perſo— 
nen leichter und wohlfeiler ihre Zwede erreichen können. Durch 
den ganzen Staat New: Mork bezweifelt es fein Menſch, daß Die 
Negierung leicht mit den Antirenters fertig zu werden im Stande 
ift, und ich hoffe, fie wird auch diefem Treiben ein Ziel fleden, 
jofern Gewalt gegen Gewalt in Frage fümmt. Der al bietet 
alſo keine andere Nothwendigkeit, al8 vornweg die, welche alle De— 
magogen fühlen, wenn es ihnen darum zu thun ift, möglichft vicle 
Stimmen für fich zu gewinnen. 

„Sedenfalls-find in einer Volksregierung diefe Stimmen eine 
gewaltige Waffe, Nachbar Hall." 

„Dieß will ich nicht in Abrede ziehen; und da man eben jeht 
davon jpricht, in der Gonftitution Beränderungen vorzunehmen, fo 
dürfte wohl der günftige Augenblid gefommen fein, um die Ränke— 
ſchmiede zu Ichren, daß fle das Recht der Stimmgebung nicht in 
folcher Weiſe mißbrauchen dürfen. “ 

„Wie wäre dieß zu hindern? Sch Fenne Euch Doch als einen 
Menfchen, ver das allgemeine Stimmrecht nicht verkürzt fehen 
möchte." 

„Ich bin für das allgemeine Stimmrecht unter ehrlichen Leuten, 
wuünſche aber nicht, daß meine Obrigkeit von Leuten gewählt wird, 
die fih nie zumgeden geben, wenn fie ihre Hände nicht in die Taſche 
ihres Nebenmenſchen fteden dürfen. Man fol der Gonftitution eine 
Glaufel einverleiben, welche jede Stadt, jedes Dorf und jede Graf- 
Ihaft, wenn fie einer gerichtlichen Hülfsvollſtreckung öffentlichen 
Widerſtand entgegenjebt, für eine gewiſſe Zeit ihres Stimmrechts 
beraubt. Eine ſolche Maßregel müßte in Bälde bergleichen Ge⸗ 
jegesübertreter zur Befinnung bringen.“ 


157 


Es war augenfcheinlich, dag den Zuhörern diefe Idee neu war, 
und mehrere gaben ihre beifällige Zuftimmung laut zu erkennen. 
Auch Hubbard räumte die Originalität dieſes Gedankens ein, war 
aber nicht geneigt, an feine Ausführbarkeit zu glauben, auch fchmed- 
ten feine Einwürfe, wie es von einem Winkeladvokaten zu erwar⸗ 
ten ftand, eher nach der Nabuliftit einer befchränkten Praris als 
nach der Auffafjung eines Staatsmanns. 

„Wie wolltet Ihr zum Beifpiel die Ausdehnung des Diftrikts 
beftimmen, welcher in Diefer Weife feiner Wahlrechte beraubt wer- 
den ſoll?“ lautete feine Frage. 

„Man nimmt die gefeblichen Gränzen, wie fie daſtehen. Iſt 
eine Kombination ſtark genug, um in einer Stadt die VBollftreder 
des Geſetzes geringichäßend zu behandeln und ihnen offenen Wider- 
ftand zu leiften, fo züchtige man befagte Stadt durch eine jeweilige 
Stimmrechtsentziehung; machen fih mehrere Städte dieſes Ber- 
gehens jchuldig, fo follen fie in die gleiche Strafe verfallen, und 
erſtreckt fih die Unbotmäßigfeit über eine ganze. County, jo fol 
auch diefe daſſelbe Gefchie erleiden.“ 

„Auf diefe Weife würden aber die Unfchuldigen mit den Schul- 
digen in Strafe genommen.” | 

„Die Maßregel hätte das Wohl der Gefammtheit im Nuge; 
und überdieß ftraft man ja ohnehin die Unfchuldigen flatt der Schul- 
digen oder vielmehr mit den Schuldigen auf taufenderlei Arten. 
Ihr und ich, wir beide müfjen Steuer zahlen, damit die Trunfen- 
bolde nicht verhungern; denn es tft gerathener und der Humanität 
weit angemeffener, daß man ein derartiges Opfer bringe, als daß 
man zufehe, wie unfere Nebenmenfchen Hunger fterben oder durch 
die Noth zum Diebftahl verleitet werden. Durch die Erklärung des 
Kriegsgefehes wird in einem Sinne der Unfchuldige mit dem Schul» 
digen in Strafe genommen, und fo ergeht e8 in hundert Fällen. 
Hier aber handelt e8 fi) nur um die Frage: iſt e8 weifer und befler, 
die Demagogen und jene Störer des Öffentlichen Friedens, welche 


f 


158 


ihr Stimmrecht zu ſchlechten Zwecken zu gebrauchen wünfchen, durch 
eine jo einfache Mafregel ihrer Waffen zu berauben, oder ihnen zu 
gefatten, daß fie durch den fchreiendften Mißbrauch ihrer politi- 
Ihen Privilegien ihre Anfchläge durchſetzen?“ 

„And was würde Euch beftimmen, eine Stadt ihres Stimme 
rechts für verluftig zu erklären?" 

„Die durch Zeugenfchaftsbeweis erhärtete Anklage vor einem 
öffentlichen Gerichtshof. Die Richter find unter ſolchen Umftänden 
die paſſende Entfcheidungsbehörde und würden ohne Zweifel in 
zwanzig Fällen neunzehnmal recht urtheilen. Es liegt im Snter- 
eſſe eines jeden Bürgers, der das Stimmrecht nach reinen Grund- 
ſätzen geübt zu fehen wünfcht, dag ihm ein derartiger Schuß ver— 
liehen werde gegen folche, die mit ihrer Stimmberechtigung ganz 
andere Zwede zu verfolgen wünfchen. Allervings kann zuvor ein. 
Triedensbeamter fein posse comitatus oder auch das Volk zum 
Beiftand aufbieten. Erſcheint leßteres in zureichender Anzahl, um 
die Rebellen zur Ordnung zu verweifen — wohl und gut; andern- 
falls aber ift der Beweis geliefert, vaß die Bewohner des Diftrikts 
nicht würdig find, als freie Männer cin Stimmrecht zu üben. Die- 
jenigen, welche eines unferer fchönften Privilegien mißbrauchen, 
haben fein Anrecht an unfere Sympathieen, und was die Art der 
Ausführung einer folchen Maßregel betrifft, fo dürfte fie wohl leicht 
erledigt werden können, wenn man nur erft über den Grundſatz 
zu Stande gekommen if“ 

Das Geſpräch währte wohl noch eine Stunde fort und Nach⸗ 
bar Hall entwidelte feine Anfichten noch ausführlicher. Ich hörte 
ihm mit freudiger Weberrafchung zu. 

„Solche Leute find in der That das Mark und die eigentliche 
Kraft des Landes,” fagte ich zu mir ſelbſt. „Männer von diefem 
Schläge findet man zu taufend und aber taufenden im Staate, und 
warum follten fie fich" beherrſchen laſſen durch Intriguanten, die 

u. jchlechteften Theil der Semeinfchaft entnommen find — warum 





159 


fih beugen vor einer Negierung, deren Triebfedern fo oft auf der 
Ihnödeften Grundjaplofigkeit beruhen? Wird der Rechtliche ewig 
nun theilnahmlos zujehen, während die Schlechten und Verderbten 
alle Minen fpringen laſſen?“ 

Als ich dieſem Erguß auch gegen meinen Onkel Luft machte, 
erwiederte er: 

„Lieber Hugh, e8 ift immer fo gewefen und wird, wie ich 
fürchte, auch ftetö fo bleiben. Hier liegt der Fluch unferes Lan- 
des" — er deutete dabei auf einen mit Zeitungen bedeckten Tiſch, 
das unerläßlihe Möbel eines jeden nur einigermaßen befuchten 
amerikanifchen Wirthehaufes. „So lange die Leute glauben, 
was ihnen eine fchlechte Preſſe vorſchwatzt, wird es fletd nur Be⸗ 
thörte oder Schurken unter ihnen geben.” 

„Die Zeitungen haben übrigens doch auch ihr Gutes.“ 

„Dieß erhöht eben den Krebsichaden. Entbielten fie nichts ale 
Lügen, jo würde man bald nichts mehr von ihnen wollen, aber 
wie wenige find im Stande, das Falfche von dem Wahren zu fich- 
ten? Faffen wir zunächft die Antirentenfrage in’! Auge — zeige 
mir die Zeitungen, welche in diefer Sache der Wahrheit das Wort 
reden? Hin und wieder wagt es zwar ein ehrlicher Mann aus 
der Journaliſtenzunft, von der Bruft weg zu fprechen, aber wo 
einer dieß thut, tragen zehn andere Grundfäge zur Schau, an die 
fie felbft nicht glauben — und alles dieß nur, um fih Stimmen 
zu fihern: Stimmen, Stimmen und ewig Stimmen! In diefem 
einzigen Wort liegt der Schlüffel zu dem ganzen Unweſen.“ 

„Sefferfon fagte, wenn man ihm die Wahl ließe zwiſchen 
einer Regierung ohne Zeitungen oder Zeitungen ohne Regierung, 
fo würde er fich für das Lebtere entfcheiden. “ 

„Sa, aber Zefferfon Fannte die Zeitungen, wie wir fie jet 
baden, noch nicht. Ich bin alt genug, um aus eigener Wahrneh- 
mung ermeffen zu können, welcher Wechfel hierin ftattgefunden hat. 
In feinen Tagen Tonnten drei oder vier erwiefene Lügen einen 


160 


Zeitungsfchreiber zu Grunde richten, aber in unjerer Zeit ver- 
fhludt man fie zu taufenden. Laß Dir fagen, Hugh, unfer 
Baterland fchleppt fich unter zwei Syftemen fort, die einander 
jo entgegengejegt find, ald man fih nur etwas denfen kann — 
unter dem Chriftentbum und unter den Zeitungen. Das erftere 
hämmert täglich auf den Menfchen los, um ihm die Ueberzeugung 
beizubringen, daß er ein elendes, gebrechliches, taugenichtfiges 
Weſen fei, während leßtere immer und ewig von der Bollfom- 
menheit der Menfchen und von den hohen Vorzügen der Volks— 
herrfchaft ſchreien.“ 

„Bielleicht follte weder auf das eine, noch auf die andern ein 
allzu großes Gewicht gelegt werben.” | 

„Die Prediger des Evangeliums haben unter gewiflen Be- 
ſchränkungen, über die wir alle im Klaren find, wohl recht; aber 
was die Zeitungen betrifft, fo muß ich geftehen, daß für mich bef- 
jere Zeugniffe, als die ihrigen erforderlich find, wenn ich ihnen 
Glauben ſchenken fol." 

Onfel Ro verftieg fich zuweilen und gerieth dadurch auf Ab- 
wege, obfchon ich ehrlich geftehen muß, daß er oft vollfommen 
Recht hatte, 





Achtes Kapitel. 


Noch jeh' * bi 
Dasd geift’ e Ku e ruft 
. Zich aus taub ie —2 Flor; 
DDu biſt bei mir in dunkler Nach 
Biſt nah’ mir, wenn ber Worgen Be 
Durch meine Träume ſtrahlt dein Bild 
Das um mich chlingt die Arme mild, 
Und ſtets vernehm' ich den Geſang, 
Der ſonſt PR füß der Seele Hang. 
Noch ſeh' ich Dich! 
Spragne. 


Es war eben Zehn am andern Morgen, als Onkel Ro und 
ich des alten Hauſes bei dem Neſt anſichtig wurden. Ich nenne es 
alt, denn eine Wohnung, über die ſchon über ein halbes Jahr⸗ 
hundert hingegangen ift, kann in einem Lande, wie Amerika, wohl 
Anfpruch auf die Bezeichnung „ehrwürdig" erheben. „Für mich war 
es in Wahrheit alt, denn das Gebäude hatte an der Stelle, wo 
ih es damals fah, fchon zweimal fo lang, als ih mich im Da⸗ 
fein befand, geftanden und rief mir alle theuern Erinnerungen der 
Jugend in’s Gedächtniß zurück. Bon Kindheit an war ich gewöhnt, 
diefen Platz als meine fünftige Heimath zu betrachten, wie er die 
Heimath meiner Eltern, meiner Großeltern und in einem gewiflen 
Sinne auch Derjenigen gewefen war, welche in zwei Generationen 
vor ihnen ihren Staub mit jenem Boden vermengt hatten, Dos 

Rovensnef. AA 


162 


ganze vor mir liegende Land, die reichen, von wallendem Gras 
üppig ftroßenden Bottoms, die Abhänge, die Wälder, das ferne 
Gebirg — die Obftgärten, die Wohnhäufer, die Scheunen und der 
ganze Zubehör landwirthfchaftlichen Gewerbfleißes — alles Die war 
mein Eigentum — mein Eigenthbum, ohne daß’ meines Wiffens 
auch nur die mindefte Ungerechtigkeit gegen irgend ein menjchliches 
Weſen daran haftete. Sogar die Rothhäute hatten von Herman 
Mordaunt, dem Patentifirten, ihre redliche Zahlung erhalten, wie 
von Susquefus, der Rothhaut von Ravensneft, wie wir unfern 
alten Onondago zu nennen pflegten, mir ſtets verfichert wurde. Es 
war deßhalb nur ein natürlicher Zug, wenn ich ein fo erworbenes 
und fo gelegenes Befigthum liebte. Kein civilifirter Mann 
— ja, Niemand, nicht einmalder Wilde, war je außer 
den Angehörigen meines Blutes Eigenthümer jener 
weiten Felder gewefen. Die ift ein Umftand, deſſen fi 
außer Amerika wenige rühmen können, und wenn man in Landes- 
theilen, wo die Künfte bereits belebend eingewirkt und den Segen 
der Givilifation verbreitet haben, eine derartige Thatfache mit 
Wahrheit von fich behaupten Tann, fo entfpringt daraus eine folche 
Tiefe des Gefühle, daß es mich nicht wundert, wenn die unfteten 
Glüdsritter, welche auf der ganzen Erde umher irren und ihre 
Hände in Jedermanns Schüffel tauchen, nicht im Stande geweſen 
find, ihren anderen oberflächlichen Entdedungen auch diefe einzu= 
verleiben. Nichts kann der gewöhnlichen Gier der Habfucht weniger 
zufagen als eine Innigfeit, welche in folden Momenten ihren Grund 
hat, und ich bin überzeugt, daß ein derartiger Einfluß nicht verfeh- 
ien kann, die Gefühle deſſen, der ihn empfindet, zu veredeln. 

Und da gab es nun Männer unter uns in hoher politifcher 
Stellung, — fo hoch als es derartige Männer nur bringen kön— 
nen; — denn wenn die Macht in ſolche Hände kommt, fo wird es 
eine nothwendige Folge, daß felbft die Würde dem natürlichen Ni- 

veau ihrer Zräger wieder nahe rüdt — es gab Männer unter ung, 


163 


fage ich, welche die ihnen verlichene Macht zu national-öfonomifchen 
Borfchlägen mißbrauchten, deren Ausführung mich zwingen mußte, 
dieſes ganze Befikthum zu verkaufen, fo daß mir vielleicht für den 
eigenen Gebrauch nur eine einzige Farm übrig blieb. Das erlöste 
Geld Fonnte ich dann in einer Weile anlegen, daß die Interefjen 
daraus meinem gegenwärtigen Einkommen gleich famen. Allerdings 
war es mit diefer Theorie nicht unmittelbar auf mich abgefehen, 
da meine Barmen nach Ablauf ihrer Pachtzeit wieder an mich zu= 
rüdfielen. Der Schlag follte zunörderft Stephen und William van 
Renfjelaer treffen, faßte aber natürlich auch noch andere in fich, 
und zunächft Eonnte dann die Reihe an mich kommen. Welches 
Recht Hatten die Renffelaers, die Livingftons, die Hunters, Die 
Littlepage’8, die Verplancks, die Morgans, die Wadsworths oder 
ein halb taufend Anderer in ähnlicher Stellung, „Gefühle" zu hegen, 
welche das „Gefchäftsleben” hemmten oder die Wünfche irgend eines 
unftäten Yankee's vereitelten, der fich aus Neu-England zu ung ver- 
Ioren hatte und durchaus eine beftimmte Farm auf feine eigenen 
Bedingungen hin haben wollte? Es if ariftofratifch, Durch Ge— 
fühle den Verkehr beeinträchtigen zu wollen, und der Verkehr 
felbft hört auf, Berkehr zu fein, wenn der Gewinn nicht 
dem großen Haufen zu Gute kömmt. Ja, felbft die heiligen 
Grundfähe des Verkehrs müſſen ſich durch Majoritäten beherrichen 
laſſen! 

Selbft Onkel Ro konnte die ſchoͤne Landſchaft nicht ohne Er- 
regung betrachten, obfchon ihm nie ein Fußbreit davon gehört hatte. 
Aber auch er war hier geboren worden — hatte hier feine Kind- 
heit verbracht, und Tiebte den Ort, ohne daß fih auch nur eine 
Spur von niedriger Habſucht in diefes Gefühl gemifcht hätte. Er 
gefiel fich in der Erinnerung, daß unfer Gefchlecht der einzige Eigen- 
thümer des Bodens gewefen war, auf welchem er fland, und feine 
Seele hob fich in jenem edlen Stolz, welcher von einer bleibenden 
achtbaren Stellung in der Geſellſchaft unzertrennlich it. 


ar” 


164 


„Da find wir jegt, Hugh," rief er, nachdem wir Beide eine 
Weile ſtumm dageftanden hatten, um die grauen Mauern des guten 
und ſolid gebauten, aber gewiß nicht fonderlich ſchönen Wohnhaufes, 

zu betrachten; „da find wir nun, und es dürfte jeßt Zeit fein, über 
unfere nächften Schritte einen Entfchluß zu faſſen. Du erinnerft 
dich, das Dorf ift feine zwei Stunden entlegen; wollen wir dahin 
gehen und ung ein Frühftüd holen? Verſuchen wir’ etma mit 
einem unferer Pächter — oder fürzen wir und mit einem Male in 
medias res, um ung die Gaftfreundfchaft meiner Mutter und dei- 
ner Schwefter zu erbitten?” | 

„Ich fürchte, Sir, das letztere Fönnte Argwohn erregen, und 
wenn wir in die Hände: der Infchens fallen, jo haben wir zum 
mindeften Theer und Federn zu gewärtigen." 

„Du fprichft von den Inſchens? Ei, warum gehen wir nicht 
geradenwegs nach dem Wigwam unfered alten Susquefus und laffen 
ung von ihm und von op über den Stand der Dinge unterrid)- 
ten? Geftern Abend habe ih in unferem Wirthshaus von dem 
Onondago fprechen hören, und die Leute waren der Anficht, er ehe 
noch immer wie ein Mann von Achtzigen aus, obſchon man all- 
gemein glaube, daß er mehr als ein Jahrhundert auf dem Rüden 
babe. Der Indianer hat eine fcharfe Beobachtungsgabe, und dürfte 
wohl im Stande fein, und in einige von den Geheimniflen feiner 
verfappten Brüder einzuweihen. 

„Wenigſtens können wir dort Auskunft über die Familie erhal: 
ten, e8 Tiegt ebenfo wenig Auffallendes darin, wenn wir in dem 
Wigwam einfprechen, als man es wohl bei Hauflrern für natürlich 
halten wird, wenn fie dem Nefthaus einen Beſuch abftatten.” 

Diefe Erwägung gab der Sache den Ausſchlag, und wir ver- 
fügten uns nach dem Engthal, an deffen Seite die unter Dem Na— 
men Wigwam befannte Hütte in ihrer alterthümlichen Form fland. 
Sie war aus Holzflämmen zufammengefeßt, Hein, reinlich, — und 

warm ober Fühl, je nachdem es die Jahreszeit verlangte; auch 


165 


nahm fie. fich, obſchon fie nie den einladend Ländlichen Charakter 
eines FarmersHaufes hatte, ſtets anfprechend genug aus, da der 
Grundherr, diefes verhaßte Gefchöpf, welches in der ganzen Ge- 
gend fo vieles Aehnliche zu beftreiten hatte, für ihre Unterhaltung 
jorgte, fie gelegentlich übertünchen ließ und bisweilen auch neues 
Möbelwerk beifchaffte. Auch ein Garten gränzte daran, der für 
die Jahreszeit ſchon recht anfländig beftellt war; denn der Neger 
machte fi im Laufe des Sommers mit den Gemüfen und Früd- 
ten einigermaßen zu fchaffen, obfchon ich wohl wußte, daß die re- 
gelmäßige Beforgung des Bodenftüds von einem Arbeiter im Neft 
ausging, welchem die Obliegenheit zufam, hin und wieder einen 
halben Tag nach dem Gärtchen zu fehen. Auf der einen Seite 
der Hütte befanden fich ein paar Ställe, der eine für die Schweine 
und der andere für eine Kuh; auf der andern aber fchloßen fich 
die Bäume des jungfräulichen Urwaldes an, welche in diefem Eng- 
thale noch nie geftört worden waren und das Dach mit ihren Zwei⸗ 
gen überfchatteten. Diefe etwas poetifche Anordnung war die Folge 
eines Vergleichs zwifchen den Infaffen, denn der Neger beftand auf 
den Zugaben feiner rohen Civilifation, während der Indianer Die 
Schatten des Waldes verlangte, um fich in feine Lage finden zu 
fönnen. Hier aljo hatten diefe beiden, in feltfamer Weife zuſam— 
mengeführten Wefen — denn der Eine leitete feinen Urfprung von 
den entarteten Rafjen Afrifa’s, der Andere von dem ungeftünten aber 
hochfinnigen Ureinwohnern diefes Kontinents ab — faſt die ganze 
Periode eines gewöhnlichen Menfchenlebeng neben einander gewohnt. 
Die Hütte jelbft fing an, in Wirklichkeit alt auszufehen, während 
ihre Snfaflen fich feit Menfchengedenken nur wenig verändert hatten! 
Derartige Beijpiele einer langen Lebensdauer find, was auch die 
Theoretifer über diefen Gegenftand jagen mögen, weder unter den 
Schwarzen noch unter den Rothhäuten fehr jelten, objchon viel- 
leicht die erfteren vor lebteren den Vorzug haben mögen, wenn fie 
nicht gerade nach den nördlichen Theilen der Republik verpflanzt 


166 


find. Allerdings behauptet man gewöhnlich, daß diefe beiden Raſſen 
nicht länger lebten, ald die Weißen, und ihr angebliches hohes Al⸗ 
ter rühre mehr von dem Umftande her, daß fie die Zeit ihrer Ge- 
burt nicht anzugeben wüßten. Dieß mag in der Hauptfache feine 
Richtigkeit haben, denn wir wiffen, daß im Laufe der lebten fünf- 
undzwanzig Jahre in nicht großer Entfernung von Ravensneft ein 
Weißer ftarb, der mehr als hundert und zwanzig Lebensjahre zu- 
rüdgelegt hatte; aber im Verhältniß zu der geringen Anzahl find 
doch hochbetagte Neger und Indianer eine fo gewöhnliche Erfchei- 
nung, daß diefer Umftand Jedem, welcher ihn zu beobachten Ge- 
legenheit findet ‚auffallen muß. 

In der Nähe des Wigwams — denn fo nannte man die Hütte 
gewöhnlich, obfchon fie im eigentlihen Sinne des Worts Fein 
Wigwam war — befand fich feine Landftraße, Das Eleine Gebäude 
ftand auf den Gründen des Nefthaufes, die mit Einfchluß eines 
Urwaldftreifens und ohne die Felder, welche zu der anliegenden 
Farm gehörten, zweihundert Acres umfaßten. Der Zugang wurde 
nur durch Fußpfade, deren mehrere hin und her führten, und einen 
einzigen, ſchmalen Fahrweg vermittelt, der in feinen Windungen 
über die Güter in der Nähe der Hütte vorbeigeführt worden war, 
um meiner Großmutter und Schwefter — vermuthlich auch meiner 
theuren Mutter, fo lange fie noch am Leben war — Gelegenheit zu 
geben, während ihrer häufigen Spazierfahrten dem alten Baar einen 
Beſuch abzuftatten. Auf dem Iebterwähnten Wege näherten wir 
uns nun dem Wohnplatze der farbigen Greife. 

„Da find Die zwei alten Knaben; fie benüßen den fchönen Tag, 
um fi) in der Sonne zu wärmen!” rief mein Onfel mit einem 
etwas bebenden Zone-in feiner Stimme, als wir nahe genug her— 
angekommen waren, um die Gegenftände zu unterfcheiden. „Hugh, 
id) habe diefe Männer nie ohne ein Gefühl von Ehrfurdt und 
Liebe anfehen können. Beide waren die Freunde und Einer davon 
der SHave meines Großvaters; und fo lange ich mich ihrer erin- 


167 


nern Tann, find fie flets alte Leute geweien! Sie fcheinen als 
Denkmäler der Bergangenheit hieher gefebt worden zu fein, um 
Die entjchwundenen Gefchlechter mit den künftigen in Verbindung 
zu bringen." 

„Wenn dieß der Fall ift, Sir, werden fie bald die Einzigen 
ihrer Art fein. Geht es noch länger fo fort, wie bisher, fo kommt 
es mir wahrhaftig vor, als fingen die Menfchen an, jogar auf die 
Geſchichte eiferfüchtig zu werden, weil ihre handelnden Perfonen 
Abfümmlinge zurüdgelaffen haben, welche fich in das bischen Ehre, 
das zu erholen ift, theilen möchten." 

„Sch widerfpreche Dir nicht, Zunge, denn hinfichtlich dieſes 
Punktes herrſcht unter ung eine feltfame Verfehrung der alten, na- 
türlichen Gefühle. Indeſſen darfft du nicht vergeffen, daß unter 
den dritthalb Millionen, welche der Staat birgt, fih vielleicht Eeine 
halbe Million befindet, der ächtes Yorker Blut in den Adern fließt; 
die Anderen können natürlich feinen Sinn haben für die Geburts 
flätten und die älteren Ueberlieferungen der Geſellſchaft, in welcher 
fie leben. Biel kommt hiebei auf Rechnung unferer Zuftände, ob- 
Ihon ich zugebe, daß dieſe es nicht auf den Umfturz von Grund- 
ſätzen abjehen follten, fintemal e8 ohnehin nicht einmal nöthig ift. 
Aber fieh’ einmal diefe beiden alten Käuze an! Selbft nachdem fie 
ſo lange Zeit gemeinfchaftlic in diefer Hütte verlebt hatten, find 

fie den Gefühlen und Gewohnheiten ihrer Raſſen treu geblieben. 
Dort kauert fih, müſſig und arbeitsfchen, Susquefus auf einem 
Stein und hat feine Büchfe an den Apfelbaum gelehnt, während 
Jaaf oder Yop, wie ich ihn vielleicht beffer nennen follte, fich im 
Garten zu Schaffen macht, als glaubte er, noch immer als Sklave 
arbeiten zu müſſen.“ 

„Und welcher ift wohl der Glüdlichere, Sir — der emfige alte 
Dann, oder der Müffiggänger?" 

„Wahrfcheinlich ift e8 Jedem am wohlflen, wenn er feinen 
früheren Angewöhnungen nahhängen kann. Der Onondago bat 


168 


übrigens nie arbeiten mögen, und wie ich von meinem Vater hörte, 
ſchätzte er fih überglüdlih, als er vernahm, er könne den Reft 
jeiner Zage in otio cum dignitate verbringen, ohne daß er nöthig 
babe, ſich mit Korbflechten abzumühen.” 

„Nop fieht nach uns her. Es iſt vieleicht am beften, wenn 
‚wir ohne Weiteres auf fie zugehen und fie anreden.“ 

„Dop reißt vielleicht am weiteften die Mugen auf, aber ich 
jeße mein Leben daran, daß der Indianer zweimal fo viel fieht. 
Seine Sinne find jedenfalls die befferen, und überhaupt ift er ein 
Mann von einer merkwürdigen und außerordentlichen Beobachtungs- 
gabe. In früheren Tagen iſt ihm nie etwas entgangen. Doch wie 
du fagft, wir wollen auf fie zugehen.” 

Ich berieth mich nun mit meinem Onfel, ob e8 wohl zwed- 
mäßig fei, unfer gebrochenes Englifch auch gegen dieſe beiden Greife 
in Anwendung zu bringen. Anfangs erfhien und dieß unnöthig; 
al8 wir aber bedachten, daß auch Andere Dazu kommen könnten 
und unfer Verkehr mit den Zweien im Lauf der nächſten paar 
Tage ſich öfter wiederholen dürfte, fo änderten wir unfern Sinn, 
und befchloßen, ftreng auf unferem Incognito zu beharren. 

Als wir ung der Thüre der Hütte näherten, kam Jaaf lang- 
fam aus feinem Garten, und fchloß fih dem Indianer an, der 
ruhig und unbeweglich auf feinem Steine figen blieb. So viel 
wir bemerken konnten, hatten fich die Greife während unferer fünf- 
jährigen Abwefenheit nur wenig verändert, dein fie boten in ihrer 
Art vollkommene Bilder eines zwar fehr hohen, aber nicht hinfäl- 
ligen Alters. Der Schwarze — wenn man ihn fo nennen Fonnte, 
denn feine Farbe beftand eher aus einem ſchmutzigen Grau — 
mochte wohl den größten Wechfel erlitten haben, objchon ich dieß, 
als ich ihn zum lebten Mat fah, kaum für möglich gehalten hätte, 
Was den Fährtelofen oder Susqueſus, wie er gemeiniglich genannt 
wurde, betraf, fo hatte ihm die Mäßigkeit eines langen Lebens 
treffliche Dienfte geleiftet, und feine halb nadten Glieder, wie auch 


169 


der gerippartige Körper, der fich dem Auge unverhüllt darbot, weil. 
er im Sommer den Anzug feines Volkes trug, fchienen von Leder 
überzogen zu fein, das Tange in eine Lohbrühe von reinfter Qualie 
tät eingeweicht gewefen war. Seine Sehnen erjchienen noch 
immer, troß ihrer Steifheit, wie Beitfchenfchnüre, und fein gans 
zer Leib erinnerte an eine vertrodnete Mumie, die noch Lebens⸗ 
Eraft in fih birgt. Die Farbe feiner Haut war weniger roth, als 
ehedem, und näherte fich mehr der des Negers, wie fie fich jetzt 
dem Auge darbot, obſchon der Unterjchted noch immer ſehr bemerk⸗ 
lih war. 

„Sage — Sago,” rief mein Onkel, als wir ganz nahe her- 
angekommen waren, denn wir fahen nicht ein, welche Gefahr darin 
liegen Eönnte, ung diefes vertraulichen halb indianifchen Grußes zu 
bedienen *). „Sago, Sago, diefen ſchönen Morgen — in meiner 
Sprache heißt dieß: „guten Tag.” 

„Sago,“ entgegnete der Fährtelofe in tiefem Kehltone. 

Pop dagegen fagte nichts, ſondern warf nur ein paar Lippen 
auf, welche dien Stüden verbrannten Beefſteaks glichen, mufterte 
abwechjelnd ung Beide mit feinen rothen Triefaugen, und verzog 
wiederholt feinen Mund, wohin fich feine Kinnbaden abarbeiteten, 
als feien fie ftolz auf die trefflichen Zähne, welche fie noch immer 
aufzumweijen hatten. Als ein Sklave der Littlepage's hielt er Hau 
firer für weit unter ſich ſtehende Weſen; denn die alten Neger 


*) Der Herauögeber hat ſchon oft Gelegenheit gehabt, die Bedeutung derartiger 
Ausdrücke zu erklären. Die Koloniften lernten viele Worte von den Indianern, die 
fie zuerft Tennen lernten, und bedienten fich derfelben gegen alle Uebrigen, wenn 
dieſe auch einer andern Zunge angehörten. Da ſich nun die Letteren folcher Aus⸗ 
drüde ald engliicher Worte bedienten, fo bildete fich im Lande eine Art lingua franca, 
die überall verftanden wird. So gehören aller Wahrfcheinlichkeit nach die Worte 
„Moccasin“‘ , ,„‚Squaw‘‘, ‚‚Papoose‘‘, ‚‚Sago‘‘, „Tomahawk‘“, „Wigwam“ u. ſ. w. 
indgefammt zu derfelben Klaſſe. Es kann kaum einem Zweifel unterliegen, daß bie 
—A— „Lankees““ von ‚„Yengeese‘‘ herrührt — die Art, wie die Stämme, 
welche Neu-England am nächiten liegen, dad Wort „English“ ausſprachen. In 
jener Gegend ift ed bis auf dieſe Stunde noch üblich, daB Wort English, lied Inge 
liſch, wie „Englifh" auszufprechen. Die Umänderung des „Englijch" in „Yengeese‘ 
macht fich leicht. . Der Hetaudgeber. 


170 


New=Morks identificirten fi ftetd mehr oder weniger mit den Fa⸗ 
milien, zu denen fie gehörten und unter denen fie jo oft geboren 
worden waren. 

„Sago,“ wiederholte der Indianer langfam, höflich und mit 
Nachdruck, nachdem er meinen Onkel eine Weile betrachtet hatte ; 
es fchien, als habe er etwas an ihm bemerkt, was ihm Achtung 
einflößte. 

„Wir haben heute einen wunderfchönen Tag," fuhr Onkel Ro 
in feinem gebrochenen Englifch fort, indem er feine Stirne abwifchte _ 
und ruhig auf einem Holzblod Platz nahm, der als Heizmaterial 
für den Ofen beigefchafft worden war. „Was ift dieß für eine 
Gegend?" 

„Dieß hier?” entgegnete Dop nicht ohne einige Verachtung. 
„Dieß ift Dort Colony. Wo komm’ denn Ihr her, daß Ihr folche 
Frag’ thu'?“ 

„Aus Ziharmany. Das ift weit weg, aber ein gutes Land. 
Zwar, diefe Gegend gefällt mir auch." 

„Darum hr darin fortzieh’, wenn es gut Land fein — he?” 
verfegte der Schwarze. 

„Könnt Ihr mir fagen, warum Shr aus Afrika fortgezogen 
ſeid?“ erwiederte Onkel Ro in kaltem Tone. 

„Sch nie da geweſen,“ brummte der alte Yop, feine Zähne in 
der Art des Ebers fletfchend, wenn er feinen Zorn Eund gibt und 
Dadurd anzeigt, daß es gut fein möchte, ihm aus dem Wege zu 
gehen. „Ich ein.geboren Morknigger, und hab’ nie gejehn Kein 
Afrika — und will aud nit fehen, in meinem Leben nit." 

Es ift kaum nöthig, zu fagen, daß Jaaf einer Klaſſe angehörte, 
bei welcher der Ausdrud „farbiger Gentleman” nie in Brauch ge- 
fommen war. Die Männer aus feiner Zeit und von feinem Korn 
nannten ſich „Niggers‘. Die Ladies und Gentlemen aus derfelben 
Periode aber nahmen fie beim Wort und legten ihnen diefelbe Be- 


—T A bei, obwohl heutzutage kein Schwarzer mehr ſich anders, 


171 


als im Zone des Vorwurfs, dieſes Ausdrucks bedient. Der „Nigger“ 
it alfo nunmehr zum Schimpfwort geworden, und es iſt ein eigen- 
thümlich feltfamer Zug in der Menfchennatur, daß es Niemand 
lieber, al$ gerade der Schwarze, wenn er feinem Unmuth Luft ma- 
chen will, in Anwendung bringt." 

Mein Onkel hielt einen Augenblid inne, um zuvor zu über- 
legen, ob er eine Unterhaltung fortführen follte, die dem Anfcheine 
nach nicht unter den fchmeichelhafteften Aufpicten begonnen hatte. 

„Wer mag wohl in jenem großen fleinernen Haufe wohnen?" 
nahm er wieder auf, jobald er glaubte, daß der Neger Zeit gehabt 
babe, wieder ruhiger zu werden. 

„Sedermann kann ſeh', daß Ihr Fein New-Morker, fchon an 
Eurer Sprach',“ verfeßte Hop, den diefe Frage nichts weniger als 
milder geftimmt hatte. „Wer anders follt dort wohnen, als 
Schin'ral Littlepage?" 

„So? Ich hätte geglaubt, er fei längſt geſtorben.“ 

„Und wenn auh! Es ift fein Haus und er leb' darin, und fo 
auch leb' dort die alt jung Miffus.” 

Nun hatte ed, vom Vater auf den Sohn gezählt, unter den 
Littlepage’d Durch drei Generationen hindurch Generale gegeben. 
Der erfte war der Brigadiergeneral Evans Littlepage aus der Mi— 
liz, welcher während der Revolution im Dienfte feinen Tod fand, 
der zweite Cornelius Littlepage, der, nachdem er ald Obrift der 
New-Morker Linie den Feldzug mitgemacht hatte, am Schluffe des 
. gedachten Kriegs als Brigadiergeneral feinen Abjchied nahm, und 
als dritten und legten muß ich meinen Großvater, den General- 
major Mordaunt Littlepage aufzählen, der gegen das Ende des 
gleichen Feldzugs hin im Regiment feines Vaters als Kapitän ges 
dient hatte, fpäter zum Major befördert wurde und endlich zum 
General in der Miliz avancirte — ein Poſten, den er viele Jahre 
lang bis zu feinem Tode behauptete. Sobald aber der gemeine 
Soldat das Recht erhielt, feine Offiziere felbft zu wählen, hörte 


172 


die Stellung eines Generalmajors bei der Miliz auf, eine achtbare 
zu fein, und nur wenige Männer von Bildung ließen fih fortan 
zum Eintritt in den Dienft bewegen. Wie vorauszujehen war, 
gerieth nach und nach das Militär in allgemeine Verachtung, und 
wird wohl in derfelben beharren müſſen, bis bei Beſetzung der Of- 
fiziersftellen ein anderes Syſtem befolgt wird. Das Bolt kann 
zwar viel ausrichten; aber nimmermehr wird es im Stande fein, 
„aus einem Schweinsohr eine feidene Börfe zu machen". Erſt 
wenn die Offizierpoften auf's Neue nach der alten Weife ausgefüllt 
werden, kann fich der Militärftand wieder heben, denn in feinem 
andern Lebensverhältniß erfordert die Handhabung der Gewalt in 
fo hohem Grade Männer von Bildung, Erziehung und Eharatter- 
feftigkeit, wie im militärifchen Dienfte. Wohl hört man viele 
ſchöne Reden und ergeht fih in breiten patriotifchen Lobſprüchen 
über den innern Werth und die Einficht des Volkes; auch hat man 
fich mit allerlei Entwürfen getragen, fogenannte „Bürgerfoldaten” 
zu, fchaffen, aber der Bürger kann und wird nie ein Soldat — 
weder ein guter noch ein fchlechter — werden, wenn er nicht un- 
ter der Leitung tüchtiger Offiziere fteht. Doc um wieder auf Dop 
zurüdzufommen: 

„Darf ich fragen, wie alt die Lady ift, welche Ihr die alte 
junge Miffus nennt?" fragte mein Ontel, 

„Boß taufend — fle ift noch ein leibhaftig Mädel — juft eine 
Meile geboren nach der alt franzöflfch Krieg. Kenn’ fie noch gut, 
wie fie Miß Dus Malbone fein. Jung Maffer Mordaunt hatt! fie 
gern und nehmen fie zu fein Weib.” 

„Hoffentlich hattet Ihr gegen diefe Verbindung nichts einzus 
wenden?" 

„Ich nit, fie damals eine fhön junge Lady, und fie auch jeßt 
eine fehre fchön jung Lady." 

Dieß von meiner ehrwürdigen Großmutter, die bereits ihr acht⸗ 
aigſtes Lebensjahr zurücgelegt hatte! 


173 


„Wer mag jebt der Befiber jenes großen Haufes fein?” 
fragte mein Onfel abermals, 

„Hab' ich's nit ſchon gefagt? Schin’ral Littlepage. Maffer 
Mordaunt heißt er — mein junger Meifter. Sus da ift nur ein 
Infhen; er nie fo glüdlich fein, zu hab gut Meifter. Ich hör’, 
mit Niggers e8 werden knapp heutzutag in der Welt." 

„Ich denke, auch mit den Infchens. Die Rotbhäute werden 
nicht mehr fehr häufig fein.“ 

Der Dnondago richtete fich jebt auf und heftete einen ernten 
Blick auf meinen Onkel. Die Art, wie er Beides that, war edel 
und eindrudsvol. Bis jebt hatte er außer feinem Gruße Keine 
Sylbe verlauten Taffen, aber nunmehr bemerkte man, daß er zu 
fprechen beabfichtigte. 

„Neuer Stamm,” fagte er, nachdem er uns eine Minute lang 
angelegentlich gemuftert hatte. „Wie nennen Shr ihn — woher 
er kommen?“ 

„Sa, ja — Ihr meint die Antirentenrothhäute. Habt Ihr 
etwas von ihnen geſehen, Fährtelofer?" 

„sa wohl; fie fommen, mich zu befuchen. Geficht im Sad 
— benehmen fih wie Squaw. Arme Infhen — arme Krieger!" 

„Sn der That, ich glaube, dag dieß wahr genug if. Solche 
Inſchens kann ich nicht leiden — möchte um Feine Welt ein folcher 
Inſchen fein. Was fagt Ihr dazu, he?" 

Susqueſus jehüttelte langfam und mit Würde den Kopf, wo 
rauf er angelegentlich meinen Onkel mufterte und dann feine Blide 
in gleicher Weiſe auf mich heftete. So wandte er abwechſelnd 
feine Augen von dem Einen zum Andern und ſchlug fie endlich in 
fummer Ruhe zu Boden. Ich nahm den Leierfaften heraus, und 
begann eine lebhafte Weife zu jptelen, die früher unter den ame- 
ritanifchen Schwarzen fehr beliebt gewejen war, fpäter aber, wie 
ich Teider jagen muß, auch bei den Weißen fehr in Aufnahme ge— 
kommen if. Meine Mufit übte Keinen befondern Eindrud auf 


174 


Susquefus, obſchon ein leichter Schatten der Verachtung über 
feine Dunkeln Züge flog. Bei Jaaf dagegen verhielt ich die Sache 
ganz anders. So alt er auch war, Eonnte ich doch ein gewifles 
nervöfes Zuden feiner untern Gliedmaßen bemerfen — ein deut 
liches Kennzeichen, dag der alte Knabe wirkliche Luft zum Tanzen 
fühlte. Dieß verging jedoch bald wieder; aber aus feinem grimmi- 
gen, harten, runzlichten, grauen Gefichte fchien noch eine Weile 
ein Strahl des inneren Wohlbehagens aufzubligen. Hierin lag 
nichts Ueberrafchendes, denn die Gletchgültigfeit der Indianer ge= 
gen Muſik ift faſt eben fo harakteriftiich, wie die Empfänglichkeit 
der Neger dafür. 

Wir konnten nicht erwarten, daß jo alte Leute geneigt fein 
würden, viel zu fprechen. Der Dnondago war von jeher ein 
Ihweigfamer Mann gewefen, und der Grund dazu war ebenjo fehr 
in dem Ernft und der Würde feines Charakters, als in feiner ge- 
wöhnten Klugheit zu fuchen. Jaaf aber neigte fih von Natur aus 
zur Plauderhaftigkeit, obſchon die Laft der Jahre nothmwendiger- 
weije dieſen feinen Hang fehr vermindert hatte. Auch mein Onkel 
verfiel jet in ein gedanfenvolles, fchmwermüthiges Schweigen, und 
nachdem ich mit meinem Spiele aufgehört hatte, beharrten wir 
alle vier etliche Minuten lang in ſtummer Betrachtung. Nun aber 
ließ fich das gebämpfte Rollen eines Wagens vernehmen, und bald 
nachher Fam eine leichte Sommerfalefche, die ich von Alter ber 
wohl Fannte, um den Stall herum; fie machte zehn Fuß von der 
Stelle, wo wir faßen, Halt. 

Bei diefer unerwarteten Unterbrechung vermochte ich mich kaum 
mehr zu halten, und ich konnte bemerken, daß mein Onkel kaum 
weniger ergriffen war. Inmitten einer zierlichen Draperie von wal- 
lenden Sommerſhawls und andern Ziermitteln der weiblichen Zoi- 
lette bemerkten wir vier jonnige, jugendliche Geftchter und ein Ant- 
lig, ehrwürdig in der Reife der Jahre. Mit einem Worte, meine 
Broßmutter, meine Schwefter, die beiden übrigen Mündel meines 


175 


Onkels und Mary Warren befanden fich in dem Wagen. Sa, die 
hübſche, fanfte, fchüchterne, aber geiftreiche und einſichtsvolle Toch- 
ter des Rektors war mit von der Partie, und fchien fich, wie unter 
Freundinnen, ganz heimifch und wohl zu fühlen. Sie war aud 
die Erfte, welche zu fprechen anhub, obgleich dieß nur in gedämpf- 
ter, ruhiger Stimme gefchah. Ihre Worte galten meiner Schwe- 
fler und fchienen ihr durch die Heberrafchung abgerungen worden 
zu fein. 

„Da fehe ich eben die "beiden Hauſirer, von welchen ih Euch 
erzählt habe, Martha," fagte fie. „Seht könnt Ihr felbft einmal 
die Flöte gut fpielen hören." ' 

„sch zweifle, ob er fich beffer darauf verftehen wird, als Hugh,” 

lautete die Antwort meingr lieben Schwefter. „Indeß möchte ich 
doch fein Spiel hören, wäre e8 auch nur, um dadurch an den fer- 
nen Bruder erinnert zu werden.“ 
Run, die Mufik fönnen wir ja haben, und wir wollen die 
Gelegenheit benügen, mein Kind,” rief meine Großmutter heiter, 
„obgleich wir derjelben nicht bedürfen, um an den lieben abwefen- 
den Jungen erinnert zu werden. Guten Morgen, Susquefus; ich 
hoffe, diefer fchöne Tag kommt Euch zu Statten.” 

„Sago,“ entgegnete der Indianer, indem er auf eine 
würdevolle, ja fogar anmuthige Weife den einen Arm vors 
wärts bewegte, ohne fich übrigens von feinem Plate zu erheben. 
„Wetter gut — großer Geift gut, dieß der Grund. Wie es ge- 
hen, Squaws?“ 

„Danke ſchön, wir find Alle wohl, Fährtelofer. Guten Tag, 
Jaaf. Wie geht es Euch an diefem fchönen Morgen?" 

Yop, Jaap oder Jaaf erhob fih wanfend, machte eine tiefe 
Berbeugung und antwortete in der halb achtungsvollen, halb ver- 
traulichen Weife eines alten Familiendieners, wie fte feit unferer 
Bäter Zeiten nicht wieder beftehen. 

„Schön Dank, Miß Dus, von ganze Herz. Ziemlich gut 


176 


heut; aber bei der alte Sus geht's Nachlaß; wird verzweifelt ſchnell 
älter und älter.” 

Nun war von den Beiden jedenfalls der Indianer bei weiten 
der fchönere Ueberreft männlicher Kraft, obſchon er fich viel gefeß- 
ter und weniger unruhig, als der Schwarze, benahm. Indeß war 
bei Saaf der Hang, den Splitter im Auge feines Freundes zu 
fehen und den eigenen darüber zu vergefien, eine langjährige und 
wohlbefannte Schwäche, fo daß feine gegenwärtige Kundgebung nur 
ein allgemeines Lächeln hervorrief. Ich war namentlich entzüct 
über den leuchtenden lachenden Strahl aus Mary Warrend Augen, 
obſchon ihre Lippen fih ſtumm verhielten. 

„Ih kann nicht fagen, daß ich mit Euch einverflanden bin, 
Jaaf,“ entgegnete meine Großmutter lächelnd. „Der Fährtelofe 
trägt jeine Jahre überrafchend gut, und ich glaube nicht, Daß er 
in langer Zeit beffer ausgefehen hat, als eben an diefem Morgen. 
Wir find nicht mehr jo jung, wie in den Jahren unferer erften Be- 
kanntſchaft, Jaaf, denn diefe ffammt, wenn auch nicht ganz, fo 
Doch nahezu von fechzig Jahren her.” 

„O, Ihr nichts anders fein als ein Mädchen noch,” brummte 
der Neger; „aber der alt Sus ift der wirklih alte Kerl. Miß 
Dus und Maffer Mordaunt hab’ ja erft Fürzlich geheirath' — 
nit lang nach der Rivyluſchen.“ 

„Ja wohl," verfeßte die ehrwürdige Srau mit einem melan- 
holifchen Anflug in dem Ton ihrer Stimme; „aber jeit der Re- 
volution find ſchon viele, viele lange Jahre verfloffen!“ | 

„Was das? Ich fein erflaunt, Miß Dus! Wie könn’ Ihr 
dieß nenn’ jo lang, wenn's doch erft vor kurze Zeit fein?" erwie- 
derte Der ftarrföpfige Neger, der nun widerhaarig zu werden, und 
in kurzer, verächtlicher Weife zu fprechen begann, als fei es ihm 
gar nicht recht, Dinge hören zu müffen, denen er nicht beipflichten 
konnte. „Mafjer Eorny wäre vieleicht ein biffel alt, wenn er noch 
Jebt’; aber all’ die Uebrig' von Euch fein nig als Kinder. Sag’ 


477 


mir nur Eins, Miß Dus — ob's wahr, dag fie zu Satandtoe 
eine Stadt krieg'.“ 

„Man hat vor einigen Jahren den Verfuch gemacht, in der 
ganzen Gegend Städte anzulegen, und unter anderen Pläßen ift 
auch der Ned dazu auserfehen worden; indeß glaube ich nicht, daß 
diefer je mehr, als eine gute Farm abgeben wird." 

„Am fo beffer. Dort fein gut’ Land, ſag' ih Eu! Ein 
Here dort Drunten bring mehr ein, als zwanzig Acres hier oben.” 

„Mein Enkel würde nicht jehr erfreut fein, wenn er dieß aus 
Eurem Munde vernehmen müßte, Jaaf.“ 

„Ber, Euer Enfel, Miß Dus? Ich wohl wiflen, Ihr hab’ 
vor eine Weile Klein’ Baby; aber Baby kann nit wieder hab’ Baby." 

„Ah, Zaaf, mein alter Freund, .jene Babies find feitdem 
Männer und Frauen geworden, die bereits hoch im Alter ftehen. 
Einer davon, und diefer war mein Erfigeborener, ift vor ung ein⸗ 
gegangen in eine beffere Welt, und fein Sohn ift jebt Euer 
junger Meifter. Die junge Dame, die mir gegenüber fiht, ift 
feine Schwefter, und e8 würde ihr fehr jchmerzlich fallen, wenn 
fie glauben müßte, daß Ihr fie vergeffen hättet.“ 

Saaf litt an einer Schwäche, die dem hohen Alter jo gewöhn- 
lich eigen ift: er vergaß die Erlebniffe der neueren Zeit, während 
er ſich auf Alles, was vor einem Jahrhundert vorgefallen war, 
noch vecht gut entfinnen konnte. Das Gedächtnig iſt eine Tafel, 
welche an den Eigenthümlichkeiten aller unferer Anfichten und Ge= 
wohnheiten Theil nimmt. In der Jugend hat fie die größte Bild- 
famfeit; die Eindrüde greifen tief und behalten ihre Beftimmt- 
heit bei, während die zahlreichen fpäter folgenden auf dem bereits 
überfüllten Grunde’ weniger Wurzel faffen können. In dem gegen- 
wärtigen Falle handelte fih’8 um ein fo hohes Alter, daß der 
MWechfel wirklich erftaunlich war, denn die Erinnerungen des greifen 
Negers wirkten auf den Zuhörer nicht jelten wie eine Stimme aus 
dem Grabe. Was den Indianer betraf, fo hatte er fh, wie ih 

Ravensnen. 42 


178 


fpäter erfahren mußte, in jeder Hinficht weit beffer erhalten, als 
der Schwarze. Bon Jugend auf hatte er fehr mäßig gelebt, nie 
etwas von Arbeit willen wollen, feinen Körper ſtets in freier Luft 
geübt, und wenn man hiezu noch die Gemächlichfeit eines dem 
Mangel nicht preisgegebenen halbeivilifirten Lebens rechnet, fo läßt 
fich wohl denten, daß unter joldben Umftänden, troß der langen 
Reihe von Zahren, Körper und Geift gleich Fräftig bleiben Fonn- 
fen. Als ich ihn fo anfah, Fam mir Alles wieder in Erinnerung, 
was ich als Knabe je von feiner Gefchichte gehört hatte. 

Das frühere Leben des Onondago war ſtets in einen geheim- 
nißvollen Schleier gehüllt gewefen, und wenn je ein Glied unferer 
Familie Kunde davon gehabt hatte, fo mußte dieß Andries Eoeje- 
mans, ein Halbonkel meiner lieben Großmutter, der in Der Gegend 
unter dent Beinamen „Kettenträger” befannt war, gewefen fein. 
Meine Großmutter hatte mir gefagt, fie wilfe aus dem Munde des 
„Onkel Kettenträger,” denn fo wurde der alte Verwandte von ung 
Allen genannt, daß er in die ganze Gefchichte des. Susquefus ein- 
geweiht gewejen fei: warum derjelbe feinen Stamm verlaffen, wie 
er ein Jäger geworden, und wie er als Krieger und als Läufer 
unter den Blaßgefichtern fich nüßlich gemacht habe; feinen Aeuße— 
rungen zufolge gereichten feinem rothen Freunde die Einzelnheiten 
jeines Lebens fehr zur Ehre, obfchon er auf eine Enthüllung der- 
jelben nicht eingehen wollte. Wie dem übrigens fein mochte, Onfel 
Kettenträger ftand in fo hohem Auf der Rechtlichkeit, daß dieſe 
feine Angaben vollfommen zureichten, um dem Onondago das uns 
bedingte Vertrauen der ganzen Familie zu gewinnen, und die Er— 
fahrung von neunzig Jahren hatte bewiefen, daß daffelbe am rech- 
ten Orte angebracht war. Ueber den Grund, warum der alte 
Mann fo lange in diefer Art von Verbannung gelebt hatte, waren 
die Anfichten fehr verfchieden, und Einige fuchten ihn in der Liebe, 
Andere im Krieg, wieder Andere in den Folgen jener wilden per- 

JÖntichen Febden, die bekanntlich unter den Wilden fo häufig vor- 


179 


fommen. Dieß waren jedoch nur Muthmaßungen, die das Ge— 
heimniß nicht aufklären konnten. Wie wäre dieß auch möglich ge= 
wejen, nun wir und der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts nä-= 
bern, während es ſchon unferen Vätern, die doch zu Anfang der 
zweiten Hälfte des achtzehnten Iebten, nicht gelungen war, den 
Schleier zu lüften» Kehren wir übrigens zu dem Neger zurüd. 

Obgleich Jaaf für einen Augenblid mich und meine Eltern 
ganz und gar vergeflen hatte, fo erinnerte er fich doch meiner 
Schweſter, da ihn dieſelbe oft zu bejuchen pflegte. In welcher 
Weiſe er fie mit der Familie in Verbindung brachte, weiß ich nicht 
anzugeben; jo viel ift übrigens gewiß, daß er fie nicht nur von 
Anfehen, fondern auch dem Namen und — wie man fagen möchte 
— dem Blut nach Fannte. 

„Sa, ja," rief der alte Burfche etwas haftig, indem er feine 
Diden Lippen zufammen fehnalzte, etwa wie ein Alligator feine 
Kinnladen aufeinander Elappt; „ja, natürlich kenn' ih Miß Patty. 
Miß Patty ift ſehre ſchön, und wird fchöner und ſchoͤner jedesmal, 
fo oft ich ihr feh’ — ha, ha, ha!" 

Das Lachen des alten Negers tönte auffallend und unnatür- 
lich, obſchon es im Grunde, wie das eines jeden Neger, etwas 
frobherziges in fich barg. 

„Ha, ba, ha! ja, Miß Patty wunnervoll ſchön und fehre wie 
Miß Dus. Ich glaub’ jetzt, Miß Patty jein geboren um die Zeit, 
da Schin'ral Wafhington ſterb'. 

Dieß hieß das Alter meiner Schwefter um ein Anfehnliches 
mehr als verdoppeln, weßhalb die leichtherzigen Mädchen, die noch 
immer im Wagen jagen, in ein gemeinfames Gelächter ausbrachen. 
Ein Strahl des Berftändniffes, welcher fich faft zu einem Lächeln 
fleigerte, glitt gleichfalls über Die Züge des Onondago; aber ob- 
gleich die Muskeln feines Gefichts in Thätigkeit waren, verblieb er 
doch ſtumm. Es wurde mir jpäter Die Weberzeugung an Ver HA 


Rt 


180 


gegeben, daß die Zafel feines Gedächtniffes die Eindrüde befjer 
aufbewahrt Hatte. 

„Bas für Freunde habt Ihr heut bei Euch, Jaaf?“ fragte 
meine Großmutter, indem fie zu gleicher Zeit das Haupt anmuthig 
gegen ung wanderndes Volk verneigte — ein Gruß, zu deffen Er- 
wiederung wir beide und ungejäumt erhoben. 

Hätte ich dem Drange meines Herzens Folge geben dürfen, jo 
wäre ich, ich geftehe es ehrlich, ohne Weiteres in den Wagen ge- 
fprungen, um die noch immer gut ausfehenden aber farblofen 
Wangen meiner Großmutter zu küſſen und Patty — vielleicht 
auch Einige von den Andern — an meine Bruft zu drüden. Onfel 
Ro dagegen bewahrte feine Faſſung befler, obfchon ich bemerfen 
fonnte, daß die Worte feiner ehrwürdigen Mutter, in deren Ton 
fih ein kaum bemerkliches Beben mifchte, ihn beinahe überwältigten. 

„Diefe fein Haufirer, Ma'am, dene’ ich wohl,” antwortete 
der Schwarze. „Sie hab’ eine Truch' mit etwas drinn und hab’ 
auch eine neue Art von Fidel. Wie, junge Mann, gib Miß Dus 
ein Stüd — aber ein Iebhaft, fo daß es ein alter Nigger in Die 
zug ſpür'.“ 

Ich warf den Leierfaften um und fing an, drauf loszuſpielen, 
als mich yplöglich eine holde, füße Stimme mit einer Haft unter- 
brach, welche den Zon etwas lauter als gewöhnlich erklingen ließ. 

„Ob, nicht dieß, nicht dieß — die Flöte, die Flöte!" rief 
Mary Warren, über ihre eigene Dreiftigkeit bis zu den Augen er- 
röthend, jobald fie bemerkte, daß fie gehört worden und ich im 
Begriffe war, ihrer Aufforderung zu willfahren. 

Es it kaum nöthig, zu fagen, daß ich mich achtungsvoll ver- 
beugte, den Leierfaften wieder ablegte, die Flöte aus meiner Tafche 
hervorholte und nach einigen Schnörfeln eine der neueften Arien 
oder Melodieen aus einer beliebten Oper vorzutragen begann. So— 
bald ich ein paar Takte durchgemacht hatte, bemerkte ich, Daß 

meiner GSchweſter Martha das Blut nach den Wangen flieg und 


181 


ihre Erregtheit gab mir die Meberzeugung, daß das liebe Mädchen 
fih der Flöte ihres Bruders erinnerte. Bon meinem fechzehnten 
Jahre an hatte ich diefes Inftrument ſtets gefpielt, während meines 
fünfjährigen Aufenthalts in Europa aber jehr große Fortſchritte in 
der Muſik gemacht. Der Unterricht trefflicher Lehrer zu Neapel, 
Paris, Wien und London war nicht an mir verloren gegangen, 
und ich hoffe, nicht für eitel gehalten zu werden, wenn ich beifüge, 
daß meine natürliche Anlage die Fortfchritte begünftigt hatte. 
Meine treffliche Großmutter hörte in größter Aufmerkjamkeit zu, 
und alle vier Mädchen geriethen in Entzüden. 

„Diefe Mufit verdient wohl, in einem Zimmer gehört zu 
werden," bemerkte die Erftere, fobald ich mit meiner Arie zum 
Schluß gekommen war. „Wenn Jhr anders in unferer Nähe 
bleibt, fo hoffen wir, Ihr werdet und diefen Abend im Nefthaufe 
mit Euern Leiflungen erfreuen. Inzwiſchen müffen wir unfere 
Spazierfahrt: fortfegen.” 

Während meine Großmutter fo jprach, Tehnte fie ſich vorwärts 
und bot mir mit einem wohlwollenden Lächeln ihre Hand hin. Sch 
trat näher und nahm den Dollar, welchen fie mir beftimmt hatte, 
in Empfang; aber unfähig, meine Gefühle zu beherrichen, erhob 
ich die Hand achtungsvoll zu meinen Lippen und küßte fie mit 
Wärme. Hätte fih Martha’s Geficht in meiner Nähe befunden, 
jo würde es ihm gleichfalls übel ergangen fein. In diefer ehrer- 
bietigen Begrüßung Eonnte, fofern Ausländer auch ausländifche 
Sitten mit ſich bringen, nichts fonderlich Auffallendes liegen; ich 
bemerkte übrigendg noch vor dem Abfahren Des Wagens, daß bie 
Wangen meiner Großmutter erglühten. Ihr wenigftend war Die 
Glut meines Handkuffes nicht entgangen. Mein Onkel hatte fid 
abgewandt, wahrfcheinlich um die Thränen zu verbergen, welche 
ihm in die Augen getreten waren, und Saaf folgte ihm nad) der 
Thüre der Hütte, um die Honneurs-des Plabes zu machen. So 
war ich denn allein mit dem Indianer. 


„Warum nicht Füffen Geficht. von Großmutter?" fragte der 
Dnondago mit ruhiger Kälte. 

Wenn fi ein Blißftrahl über meinem Haupte entladen haben 
würde, fo hätte ich nicht beflürzter fein Eönnen. Die Maske hatte 
meine nächften Verwandten — hatte Seneka Neweome und fogar 
feine Schwefter Opportunity getäufcht; und doch mußte fie an dem 
Indianer fehlfchlagen, von dem man hätte vorausſetzen follen, daß 
feine Sinne durch das hohe Alter gefchwächt waren. 

„Iſt's möglih, daß Ihr mich Fennt, Susquefus?" rief ich, 
indem ich, um ihn zur Vorficht aufzufordern, nach dem Neger hin= 
deutete — „daß Ihr Euch meiner überhaupt nur noch erinnert? 
Ich hätte geglaubt, daß mich Diefe Perücke und diefe Kleider zu- 
reichend verhüllten.“ 

„sa wohl,” antwortete der greife Indianer gelaffen. „Kenne 
jung Häuptling, fobald ich ihn fehen; kenne Vater — kenne 
Mutter; Eenne Großvater, Großmutter — Urgroßvater; feinen 
Bater auch; kenne Alle. Warum vergeffen jung Häuptling ?” 

„Habt Ihr mich fchon erkannt, ehe ich die Hand meiner Groß- 
mutter küßte, oder. wurdet Ihr erft durch diefen Akt darauf auf- 
merffam gemacht?” 

„Kennen, ſobald als ich ihn fehen. Wozu Augen gut, wenn 
nicht dazu? Kennen Onkel da au; willfommen zu Haus!” 

„Aber Ihr werdet doch nicht wollen, daß auch Andere ung 
erkennen, Fährtelofer? Wir find hoffentlich ftets Freunde geweſen?“ 

„Sa wohl, Freunde. Warum fol der alte Adler mit dem 
weißen Kopf flogen auf junge Taube? Art liegen nie im Pfad 
zwifchen Susquefus und Jemand vom Stamm Ravensneſt. Zu 
alt, fie jeßt wieder auszugraben." 

„Es find gute Gründe vorhanden, warum mein Onkel und 
ih einige Tage unbekannt bleiben müflen. Vielleicht habt Ihr 
etwas von den Miphelligkeiten gehört, Die e8 im Land zwiſchen ben 
Grundbefigern und den Pächtern gegeben hat?" 


183 


„Was das, Miphelligkeit?" 

„Die Pächter wollen keine Renten mehr zahlen, und wünjchen 
einen neuen Handel zu fchließen, durch welchen fie Eigenthümer 
der Farmen werden Eünnen, auf denen fie leben.” 

Ein grimmiges Licht fpielte um die dunfeln Züge des India- 
ners; feine Lippen bewegten fich, aber Fein Laut drang aus feinem 
Munde. 

„Habt Shr nichts davon gehört, Susqueſus?“ 

„Klein Bogel fing’ folch ein Lied in mein Ohr — that nicht 
lieben, es zu hören.“ 

„And von Indianern, die, mit Büchfen bewaffnet und in 
Calico gekleidet, landauf landab ziehen?" 

„Was für Stamm diefe Inſchen?“ fragte der Fährtelofe mit 
einer Rajchheit und einem Feuer, wie ich es an einem jo bejahr- 
ten Manne nicht für möglich gehalten hätte. „Warum fie herum- 
ziehen — auf Sriegspfad, he?" 

„In einem gewiffen Sinne ließe ſich dieß wohl von ihnen be— 
haupten. Sie gehören zu dem Stamm der Anti-Renter; wißt 
Ihr etwas von einer folhen Nation " 

„Arme Infchen, das, glaub’ ih. Warum kommen fo fpät? 
— Barum nicht fommen als der Fuß von Susquefus leicht fein, 
wie Bogelfeder? — Warum bleiben fo lang fort, bis Bleichge- 
fichter weit mehr als Laub auf Bäumen oder Schnee in der Luft? 
Bor hundert Jahr, als diefe Eiche noch Hein fein, war folche 
Snichen gut; jebt aber er taug’ für nix.“ 

„Aber Ihr werdet unjer Geheimniß bewahren, Sus — wer: 
det nicht einmal dem Neger jagen, wer wir find?" 

Der Indianer nickte in einfacher Zuftimmung mit dem Kopf, 
und fchien fodann wieder in eine Art thunlofen Brüteng zu ver- 
finfen, als fei er nicht geneigt, den Gegenftand weiter zu verfolgen. 
Ich verließ ihn, um mich meinem Onfel anzufchließen und dieſem 
mitzutheilen, was mir eben zugeftoßen war. Mr. Roger Littlepage 


184 


gerieth in das gleiche Erſtaunen wie ich ſelbſt, als er hörte, daß 
ein jo alter Hann eine Berkleidung durchblickt hatte, welche jogar 
unfern nächften Berwandten undurddringlich geweſen war. Die 
feine Beobadytungsgabe und der ruhige Scharfblid diefes India⸗ 
nerd war übrigens von jeher ein Gegenftand der Bewunderung 
geweien, und da feine Zreue jchon fo viele Proben beftanden 
hatte, jo belehrte uns ein kurzes Nachdenken, daß wir von jeiner 
Seite keinesfalls einen Verrath bejorgen durften ' 


Neuntes Kapitel. 


wei Kutſchen ftehen in dem Bauernhaud, 

ad wie ein Edelhof fich fchier nimmt aus. 
Der Teufel lady eh art wo im Kleid 
Der Demuth 10 le Sinn macht breit, 
Da fieht er feiner —* Frucht entgegen. 


Teufelsgebanken. 


Nun war es nöthig, zu entſcheiden, welche Schritte wir 
zunächſt einſchlagen ſollten. Bei Leuten von unſerer angeblichen 
Beſchäftigung konnte es als anmaßend erſcheinen, wenn wir uns 
vor der beſtimmten Zeit im Neſthauſe einfanden, und begaben wir 
ung nach dem Dorfe, fo hatten wir mit den Geräthſchaften un⸗ 
feres Berufs den Weg zwifchen den beiden Plätzen zweimal zu= 
rüdzulegen. Nach Turzer Berathung wurden wir deßhalb dahin 
einig, daß wir die nächften Wohnungen befuchen und ung fo nahe 
wie möglich bei meinem Haufe aufhalten follten, da ſich in der 
unmittelbaren Nachbarichaft wohl irgendwo eine Schlafitätte auf- 
treiben ließ. Konnten wir Jemand unfer Geheimniß anvertrauen, 
fo fuhren wir wahrfcheinlich nur um fo beffer, indeß hielt es doch 
mein Onkel für Klug, das frengfte Incognito beizubehalten, bie 
wir und in dem Dorf über den wahren Stand der Dinge unter- 
richtet hätten. 

Wir verabjchiedeten uns deßhalb von den beiden Alten, ver- 
ſprachen ihnen, im Laufe diefes oder des nächften Tages wieder 
bei ihnen einzufehren, und folgten dem Pfade, der nad dem 


186 


Farmhauſe führte. Wir Hofften, wenigfiens unter den Inſaſſen 
der heimijchen Farm Freunde zu treffen; denn diejelbe Familie 
war ſchon jeit drei Generationen im Beſitz, und da fie für die 
Beforgung der Landwirthichaft jowohl, als für Ueberwachung des 
Viehſtands Lohn bezog, jo konnten hier nicht diejelben Gründe zur 
Unzufriedenheit obwalten, die der Sage nach jo allgemein auf die 
Pächter eingewirkt hatten. Die Familie führte den Ramen Miller 
und beftand aus dem Elternpaar nebſt ſechs oder fieben Kindern, 
von denen einige noch ganz jung waren. 

„zom Miller war zur Zeit unferer früheren Belanntfchaft ein 
zuverläffiger Burfche,” fagte mein Onkel, als wir uns der Scheune 
näherten, in welcher wir den gedachten Mann an der Arbeit jahen. 
„Auch hat er fi, wie ich höre, im Laufe des Sommers bei Ge- 
legenheit einiger Zumulte, mit denen es auf das Neſt abgejehen 
war, gut benommen. Gleichwohl dürfte es räthlich fein, auch ihn 
vorderhand noch nicht in unfer Geheimniß einzuweihen.” 

„Sch bin volllommen mit Euch einverflanden, Sir," entgeg⸗ 
nete ih; „denn wer weiß, ob es ihm nicht eben jo gut, wie irgend 
einem Andern darum zu thun if, die Farm, auf welcher er lebt, 
eigen zu befiten. Er ift der Enkel des Mannes, welcher hier 
den Urwald lichtete, und hat deghalb die gleichen Anjprüche, wie 
die Anderen.” 

„Sehr wahr; und warum jollte ihm diefer Umftand nicht eben 
fo gut ein Recht geben, von der Farm mehr anzufprechen, als ihm 
feinem Lohn» Kontrafte gemäß gebührt? Ich ehe keinen großen 
Unterfchied zwiſchen einem gemietheten Arbeiter und einem Pächter, 
da Lepterer gleichfalls nicht über die Stipulationen feines Vertrags 
hinauszugehen befugt if. Der Lohn des Einen befteht in dem 
Ueberfchuß des Feldertrags nach Abzug feiner Sahresrente, der 
Andere erhält die Vergütung feiner Arbeit theilweife in Naturalien, 
theilweife in Lohn. Dem Princip nah find beide Fälle um fein 
Haar von einander verfchieden, und doch ‚dürfte fich fehr fragen, 


Bit. 


187 


ob der wüthendfle Demokrat im Staat fich erdreiften würde, zu 
behaupten, daß der Mann oder die Familie, welche gegen Zah⸗ 
lung — und wäre e8 für die Dauer von hundert Jahren — eine 
Farm bewirthfchaften, auch nur das mindefte Necht zu der Erklä- 
rung erhalten, fie wollen nicht abziehen, wenn fie nach Verfluß 
der-Dienftzeit der Brodherr nicht mehr zu befchäftigen beabfichtigt. 

„Die Habfucht ift Die Wurzel allen Uebels‘, und wo dieſes 
Gefühl die Ueberhand gewinnt, kann Niemand berechnen, wie weit 
e8 der Menſch treiben wird. Die Ausfiht auf eine gute Farm, 
die umfonft oder doc, für einen unbedeutenden Preis zu gewinnen 
it, dürfte zureichen, fogar Tom Millers Moralität über den 
Haufen zu werfen.” 

„Du haft Recht, Hugh, und bier ift einer der Punkte, in 
welchem unfere Politiker den Pferdefuß zeigen. Sie fehreiben, 
erlaffen Proklamationen und halten Reden, als ob die Antirenten- 
unruhen blos aus dem Syftem des ewigen Pachtes erwüchen, 
während wir doch Alle wiffen, daß die Bewegung fih auf jede 
Art von Berbindlichkeiten ausdehnt, die für Benützung von Land 
geleitet werden ſoll — handle fih’8 nun um lebenslängliche Pach⸗ 
tungen, um Pachtverträge von beftimmter Dauer, um Kontrakts⸗ 
ftipulationen oder Hypothefenfcheine. Wir haben da einen weiten, 
obfchon noch nicht allgemein verbreiteten Verſuch von Eeiten Der- 
jenigen, welche durchaus Feine Anſprüche an Liegenſchaftsbefitz 
haben, fich diefes Recht voll zuzueignen, und zwar durch Mittel, 
welche weder durch das Geſetz, noch durch die Moral gutgeheißen 
werden fönnen. Wir wiſſen ja, daß es ein gemöhnliches Zufluchts- 
nrittel aller Parteigänger ift, von ihren Grundfäßen und Abfichten 
nicht mehr offen Eund zu geben, als gerade für ihre Zwede paßt. 
Dod wir kommen jetzt in Hörweite und müſſen wieder zu unferem 
Hochdeutſch greifen. — Guten Zag, guten Tag,” fuhr Onfel Ro 
fort, indem er mit Leichtigkeit wieder in das gebrochene Engliſch 
unjerer Masferate überging. Wir näherten ung dabei der Scheune, 


ge 


188 


wo Miller nebft zweien feiner Altern Knaben und einigen Lohn- 
arbeitern mit Schleifen von Senfen, die für die bevorftehende Heu- 
erndfe zugerichtet werden mußten, befchäftigt war. „Ein fchöner 
Morgen, der einen warmen Tag verfpricht." 

„Guten Tag, guten Tag,“ entgegnete Miller haſtig, indem 
er mit einiger Neugierde nach unſeren Geräthſchaften hinſchaute. 
„Was habt Ihr in Eurer Truh' — Eſſenzen?“ 

„Nein, Uhren und Schmuckſachen,“ verſetzte mein Onkel, in- 
dem er die Truhe abſetzte und fie zu Befichtigung aller Anwefen- 
den öffnete. „Wollt Ihr nicht an diefem fchönen Morgen eine gute 
Uhr kaufen?” | 

„Iſt fle wirklich von Gold?" fragte Miller mit zweifelhafter 
Miene. „Und alle diefe Ketten und Ringe, find fie auch Gold?“ 

„Richt Acht Gold; nein, nein, ich möchte das nicht jagen — 
Doch als Gold gut genug für fo einfache Leute, wie Ihr und ich.“ 

„Dergleichen Dinge wären wohl nichts für das vornehme 
Volk im großen Haus da drüben," rief einer von den Arbeitern, 
der mir unbekannt war, und von dem ich nachher erfuhr, daß er 
Joſhua Brigham hieß. Der Mann fpradh mit einem boshaften 
Hohne, aus dem wir fogleic, entnehmen konnten, daß er Fein 
Freund war. „Dene wohl, Ihr meint, Eure Waare fei für 
arme Leute?" 

„Sie ift für Jedermann, der mich ehrlich zahlt," verſetzte mein 
Onfel. „Möchtet Ihr nicht auch gerne eine Uhr haben?” 

„Das möchte ich wohl, und eine Farm obendrein, wenn ich 
wohlfeil dazu kommen könnte,“ antwortete Brigham mit einem 
Gifte, das er nicht zu verhehlen bemüht war. „Wie hoch flehen 
heutzutag bei Euch die Farmen?“ 

„sh babe Feine’Farmen und kann mich deßhalb nicht mit 
ihrem Berfauf abgeben. Mein Handel beſchränkt fih auf Uhren 
und Schmudfachen. Was ich habe, iſt mir feil; aber ich kann 
nicht verkaufen, was nicht mein Eigenthum iſt.“ 


189 


„D, wenn Ihr lange genug in diefer Gegend bleibt, werdet 
Ihr Alles Eriegen, was Ihr zu haben wünfcht! Dieß ift ein freies 
Land und juft ein Blaß für den armen Mann — oder wird's we⸗ 
nigftend werden, ſobald wir alle vornehmen Herren und Ariſtokraten 
fortgejagt haben.“ 

Dieß war das erſte Mal, daß ich ſolchen politiſchen Galima⸗ 
thias mit meinen eigenen Ohren zu hören bekam, obſchon er, wie 
ich von vielen Seiten her vernahm, von Denjenigen, welche ihrem 
Neid und ihrer Habfucht einen volltönenden Anftrih zu geben 
wünfchten, häufig genug in Anwendung gebracht wurde. 

„Wie ift dieß?“ entgegnete mein Onkel mit der Miene der 
föftlichften Einfalt. „Sch habe doch gehört, daß es in Amerika 
feine Adelichen und Ariftofraten gebe; ja, man könne das ganze 
Land durchlaufen, ohne auch nur einen einzigen Grafen zu finden.” 

„O, es gibt allerlei Arten von Volk bei und, fo gut wie 
anderwärts," fiel Miller ein, indem er fi) ruhig auf das Ende 
des Schleiffleintroges feßte, um eine Uhr zu öffnen und das Ge- 
heimniß des Getriebes zu unterfuchen. „Joſh Brigham da nennt 
alle Leute in der Welt, die über ihm ftehen, Ariftofraten, obfchon 
er nicht alle unter ihm zu feines Gleichen zählen mag.” 

Diefe Rede gefiel mir, namentlich um der ruhigen Entjchieden- 
heit willen, mit welcher fie der Sprecher vortrug. Sch entnahm 
daraus, daß Tom Miller die Dinge vom richtigen Standpunkt aus 
betrachtete und feine Scheu trug, feine Gedanken laut werden zu 
lafien. Auch, mein Onkel fühlte fih auf eine angenehme Weife 
überrafcht und wandte ſich gegen den Farmer, um dag Gefpräch 
wieder aufzunehmen, 

„Es gibt alfo in Amerika keinen Adel?" fuhr ex in fragendem 
Zone fort. 

„O ja, wir haben eine Menge folcher gnädiger Herren, wie 
Joſh da — Leute, denen es fo ausnehmend darum zu thun ifl, 
oben zu boden, daß fie nicht ruhen, bis fie an allen Leiterfproffen 


In 


berumgetappt haben. Ich fag’ ihm daher immer: ‚guter Freund, 
fag’ th, du mußt nicht allzufchnell voran wollen, und eh’ ich mich 
für einen Gentleman aufthäte, ließ ich's Tieber bleiben, wenn ich's 
nicht verſtünd'.““ 

Joſh fchaute etwas Kleinlaut drein über einen Verweis, der 
von einem Mann aus feiner Klaffe herrührte und den er verdient 
zu haben im Geheim fich bewußt war. Aber der Dämon hatte 
fein Werk fchon in ihm begonnen und ihm die Ueberzeugung ein= 
geflüftert, ex fei ein Vorkämpfer der heiligen Freiheit, während er 
doch einfah und augenfällig nichts weiter als ein Webertreter des 
zehnten Gebotes war. Brigham gab fich übrigens nicht fo ſchnell 
gefangen, fondern maulte gegen Miller weiter, ähnlich dem etliche 
Mal gepeitfchten Hunde, der Über feinem Knochen zu Enurren fort- 
fährt, fo oft ihm fein Herr in die Nähe kommt. 

„Nun, dem Himmel ſei Dank,” rief er, „daß ich doch einigen 
Geift in meinen Leib gekriegt habe.” 

„Wohl wahr, Joſhua, den habt Ihr," entgegnete Miller, 
indem er die eine Uhr niederlegte und eine andere aufnahm; „aber 
zufälligerweife iſt's ein gar ſchlimmer Geift." 

„Was kümmere ich mich um die Littlepage’s, und warum ſoll⸗ 
ten fie beffer fein, als andere Leute?” 

„Wenn ih Euch gut zu Rathe bin, Sofhua, fo laßt Ihr mir 
bie Littlevage's ungefchoren, denn dieß ift eine Familie, von der 
Ihr ja hinten und vorn nichts wißt." 

„Brauche auch nichts von ihr zu wiſſen, obſchon ich zufälliger- 
weis gerad’ fo viel weiß, als ich brauche. Sie ift mir viel zu 
ſchlecht.“ 

‚Wenn fie fo gar ſchlecht wär’, würdet Ihr fie nicht ſtets im 
Mund’ führen, mein guter Burkh, denn Niemand verachtet dag, 
was er ſich nicht aus dem Sinn bringen kann. — Was ſoll diefe 
Uhr da Eoften, Freund?" 

„Dier Dollars," entgegnete mein Onfel haſtig, indem er in 


191 


feinem Preife viel tiefer herunterging, als wohl klug war; denn 
er wünfchte Miller für fein richtiges Gefühl und für feine gute 
GSefinnung zu belohnen. „Sa, ja — Ihr follt diefe Uhr für vier 
Dollars haben." 

„Da fürcht' ich nur, fie ift am End’ gar nichts werth,“ ver- 
jebte Miller in dem natürlichen Mißtrauensgefühl, welches ein fo 
niedriger Preis wohl einzuflößen im Stand war. „Ich will das 
Innere noch einmal beſehen.“ 

Riemand hat wohl je eine Uhr gekauft, ohne mit einer Miene 
von Sachkenntniß das Getriebe zu betrachten, obſchon aus einer 
derartigen Mufterung nur der Mann von Fach Nuten ziehen kann. 
Zom Miller handelte nach diefem Grundfage, denn das gute Aus- 
fehen der Uhr wirkte neben dem niedrigen Preis ungemein verfüh- 
rerifch auf ihn. Aber auch der unruhige, neidifche Joſhua, der 
feinen eigenen Vortheil recht gut zu verftehen fchien, fühlte fich 
Dadurch gebeizt. Keiner von diejen beiden Männern hatte die Uhr 
je für golden gehalten; aber objchon der Metallwerth an einer Uhr 
ſich nicht fonderlich hoch beläuft, fteht derfelbe doch gewöhnlich viel 
höher, als der Betrag, melcher im gegenwärtigen alle für den 
ganzen fraglichen „Artifel” gefordert wurde. Auch war diefelbe Uhr 
Thon vom Fabrikanten aus meinem Onkel zu einem zweimal fo hohen 
Preife, als der war, welchen er jet darauf Tegte, berechnet worden. 

„Und was fordert Ihr für dieſe?“ fragte Joſhua, eine andere 
Uhr aufnehmend, die jo ziemlich derjenigen glich, welche offen in 
Millers Hand Tag und auch den nämlichen Werth hatte. „Könnt 
Ihr fie nicht für drei Dollars ablaſſen?“ 

„Nein, diefe geht um feinen Gent wohlfeiler, als um vierzig 
Dollars," entgegnete mein Onfel flarrföpfig. 

Diefe beiden Männer fahen jebt den-Haufirer überrafcht an, 
Miller nahm feinem Lohnarbeiter die Uhr ab, unterjuchte fie auf- 
merkſam, verglich fie mit der andern und fragte dann auf’s neue 
nad dem Preis, 


192 


„Ihr Eönnt für vier Dollars unter diefen beiden Uhren wählen, “ 
erwiederte mein Onkel — fehr unvorfihtig, wie es mir vorkam. 

Dieß erregte neue Ueberraſchung, obſchon Brigham glüdlicher- 
weife die Unterfcheidung aufRechnung eines Mißverftändniffes ſchrieb. 

„Oh,“ fagte er, „ich habe gemeint, Ihr hättet vierzig 
Dollars gefagt. Vier Dollars ift etwas anderes." 

„Joſh,“ unterbrach ihn der ruhige und fchärfer blidende Miller, 
„8 it jeßt hohe Zeit, daß Ihr und Peter nach den Schafen feht, 
eh’ zum Mittageffen geblafen wird. Wollt Ihr einen Handel 
machen, fo könnt Ihr dieß thun, wenn Ihr wieder zurüdtommt. ” 

Trotz der Einfachheit feines Ausſehens und feiner Sprache war 
doch Zom Miller Herr in feinem Hauswejen. Er ertheilte zwar 
vorgedachten Befehl in feiner gewohnten ruhigen und vertraulichen 
Weiſe, aber e8 war augenfcheinlich, daß ihm ohne Widerrede Kolge 

“ geleiftet wurde. Nach ein paar Minuten hatten fich die beiden 
Lohnarbeiter entfernt, fo daß Niemand mehr in der Scheune war, 
als Miller, feine Söhne und wir zwei. 

„Jetzt ift er fort," nahm Miller ruhig wieder auf, legte 
aber auf das letztere Wort einen Nachdrud, welcher deutlich be- 
fundete, was er damit fagen wollte. „Vielleicht kann ich jeßt den 
eigentlichen Preis der Uhr erfahren. Ich habe Luft daran, und 
es Kann wohl fein, daß wir handelseins werden." 

„Vier Dollars,” entgegnete mein Onfel mit Beftimmtpeit. 
„Ich habe Euch gejagt, daß Ihr die Uhr für diefen Preis haben 
fönnt, und wenn ich mich einmal erklärt habe, jo bleibt's dabei.” 

„Gut, ich nehme fie. Freilich wär’ mir's lieber geweſen, Ihr 
hättet acht gejagt; aber vier Dollars erjpart ‚zift ſchon etwas für 
des armen Mannes Beutel. Das Ding ift vertradt wohlfeil, fo 
daß ich faft Angſt Friege. Aber ich wills probiren. Da habt Ihr 
Euer Geld — gute klingende Münze.” 

„Danke fhön. Wollen die Ladies dort nicht auch meine 
Schmudjacen ein wenig anfehen?" 

Bm. 


193 


„Dh, wenn Ihr mit Ladies zu fchaffen haben wollt, die Ket- 
ten und Ringe faufen, da ift Das Nefthaus der Plap dazu. Mein 
Weib wüßte nicht, was ſie mit folchen Dingen anfangen follte, und 
's iſt ihr nicht darum zu thun, die feine Madam zu fpielen. Der 
Burſch, den ich eben nad den Schafen fortgeſchickt habe, iſt der 
einzige große Mann, den wir auf der Farm haben.” 

„Sa, ja — er iftein Adeliger in ſchmutzigem Hemd. Aber 
woher fommt ihm denn der hohe Sinn?” 

„Er muß ihn wohl aus dem Schweinftall geholt haben, denn 
er wünſcht feinen Rüſſel im ganzen Zag herum zu fleden und 
wird ganz rabiat, wenn er findet, daß ihm Jemand anders im 
Meg if. Wir Eriegen nachgerade eine ganze Laft folcher Kerle im 
Land herum, und esift nicht gut mit ihnen haufen. Am Endeglaubeich 
gar, Zungen, es wird fich noch herausftellen, daß Joſh ein Infchen iſt.“ 

„Dieß ift etwas Altes,“ entgegnete der ältere von den beiden 
Söhnen, ein Menſch von neunzehn Jahren, „denn wo Eönnte er 
fonft Nachts und an Sonntagen fein, als bei ihrem Exerciren? 
Auch wüßt ich nicht, was der Ealico- Bündel anders zu bedeuten 
hätte, den ich vor einen Monat unter feinem Arme ſah. Sch 
hab's Euch damals fchon gejagt.” 

„Wenn ich dahinter fomme, daß du recht haft, Harry, fo foll 
er mir Feine Stunde mehr auf der Farm bleiben. Ic kann hier 
feine Inſchens brauchen. ” 

„Meine ich doch, dort an den Wäldern in einer Hütte einen 
alten Inſchen geiehen zu haben," bemerkte mein Onkel unfchuldig. 

„DH, das ift Sudquefus, ein Onondago. Er ift ein wahrer 
Inſchen, und ein gechter Mann; aber wir haben eine Bande von 
falfchen in der Gefend, die jeden ehrlichen Mann ein Dorn im 
Auge, und eine wahre Peſt für die Gegend find. Die Hälfte davon be- 
ſteht aus nichts, als Dieben, die fih zu Inſchens verkleidet haben. 
Das Geſetz ift gegen fie, das Recht ift gegen fie, und jeder, wer's 
im Land gut mit der Freiheit meint, ſollto ebenfalls gegen fie fein.“ 

Ravensneft. 3 


194 


„Bag geht denn in diefem Lande vor? In Europa hörte ich, 
Amerika fei ein freies Land, und geftehe Jedermann feine Rechte zu; 
aber feit ich hier bin, habe ich von nichts als Patroonen, Adelichen, 
Pächtern und Nriftofraten reden hören — lauter fchlimme Dinge, 
von denen ich meinte, ich habe fie in deralten Welt zurüdgelaffen. ” 

„Mein guter Freund, die Sache ift einfach die, daß Derjenige, 
welcher nur wenig hat, neidifch auf den ift, welcher viel befißt, 
und fo liegt man fich jet in den Haaren, um zu fehen, wer durch 
Gewalt am weiteften reicht. Auf der einen Seite find Recht, Ge— 
fe und feierliche Verträge, auf der andern Tauſende von — nicht 
Dollars, fondern Menſchen, Zaufende von Stimmgebern — ver- 
fteht Ihr dieß?“ 

„Sa, ja, ich verftehe; es ift leicht genug. Aber warum fpricht 
man denn fo viel von Adelichen und Ariftofraten? Gibt's denn in 
Amerika wirklich noch einen Adel und Ariftokratie?" 

„Weiß nicht, denn ich verfiehe mich nicht viel auf dergleichen 
Dinge. 's ift allerdings ein Unterjhied unter den Leuten und ein 
Unterfchted im Vermögen, in der Erziehung, und in dergleichen 
Dingen.” 

„Dann begünftigt vieleicht auch in Amerika das Geſetz die 
Reichen auf Koften der Armen? Eure Ariftofraten find vielleicht 
Leute, welche keine Steuern zahlen, alle Aemter an fich reißen und 
die Staatsgelder einziehen möchten? Sie find wahrfcheinlich in 
allen Stüden vor dem Gefebe beffer daran, als die, welche Feine 
Ariftokraten find? Iſt's nicht fo?” 

Miller lachte laut heraus und fchüttelte den Kopf bei dieſer 
Frage, ohne fich übrigens in feiner Diuferunggpes Haufirerframs 
ftören zu laffen. 

„Nein, nein, mein Freund, folhe Dinge haben wir Gott Lob 
nicht in diefem Theil.der Welt. Vornweg kommen die Reichen nur 


ſehr wenig zu Aemtern, denn für einen, der eine Stelle fucht, ift 
auptempfehlungsgrund, daß er arm ift und fie braucht. 






195 


Bei uns fragt man nicht fonderlich darnady, wer dem Amt wohl 
anftimde, wohl aber, wer eine Befoldung nöthig hat. Was dann 
die Steuern betrifft, fo wird von wegen ihrer dem Reichen auch 
nichts gefchentt. Der junge Squire Littlepage zahlt felbft die 
Steuer von diefer Farm, und fie ift wiederum in Anbetracht aller 
Dinge halb fo hoc) angelegt, wie nur irgend eine andere Farm auf 
feiner Befiung.” 
„Aber dieß ift nicht recht." 

"Wer jagt, daß es recht ſei — oder wer denkt überhaupt 
Daran, daß es bei folchen Befteuerungen mit rechten Dingen zu⸗ 
gehe? Hab’ ich doch mit eigenen Ohren den Steuerabichäger jagen 
hören: ‚der und der Mann ift reich, und kann ſchon zahlen,“ oder 
„der und der Mann ift arm, es wird ihm hart anfommen.‘ Oh, 
e8 gibt heutzutag allerlei Arten von Borwänden, mit denen man 
die Unehrlichkeit zudeckt.“ 

„Doch das Geſetz — der Reiche muß doch wahrhaftig das 
Geſeh auf ſeiner Seite haben? 7“ 

„Möcht' wiſſen, wie dieß zugehen ſollt'! Die Geſchwornen 
gerichte ſind Alles, und ein Geſchworner urtheilt eben nach ſeinem 
Gefühl, ſo gut wie andere Menſchen. Ich habe ſolche Dinge mit 
eigenen Augen angeſehen. Die Landſchaft zahlt heutzutag juſt 
genug, daß die armen Leute ſich gern als Geſchworene brauchen 
laſſen, und dieſe bleiben nie zurück; aber Diejenigen, welche die 
Strafe erſchwingen können, kommen eben nicht, und ſo bleibt denn 
das Geſetz faſt ganz in den Händen einer einzigen Partei. Kein 
reicher Mann gewinnt einen Prozeß, wenn feine Sache nicht augen 
fällig fo gut ift Miß man nicht anders kann.“ 

„Sch hatte Dep fchon früher gehört, denn durch's ganze Land 
herrſcht eine allgemeine lage über Die Mißbräuche, zu welchen das 
Syſtem der Gefchmornengerichte geführt hat, So vernahm ich ſchon 
von fehr einfichtsvollen Rechtögelehrten die Beichwerde — wenn ein 
wichtiger Ball zur Berhandlung Tomme, fo laute die erfle Frage 


—XR 






196 


nicht: „wie fleht die Sache?" „wer hat das Recht und den Bes 
weis auf feiner Seite?” fondern man erkundigt fi, wer mög- 
licherweife im Schwurgericht fißen werde. Hieraus geht augen- 
fällig hervor, daß man die Zufammenfeßung der Jury für bedeut- 
famer hält, als die Gejeße und die Beweismittel. Syfleme nehmen 
fh oft gar ſchön in der Theorie und auf dem Papier aus, 
während eine nähere Unterfuchung zeigt, daß fle in der Praxis 
bodenlos fchlecht find. Was nun die Schwurgerichte betrifft, fo 
glaube ich, die einfichtsvollften Köpfe aller Länder find darin 
einig, daß fle bei einer beengenden Regierungsform ein Haupt⸗ 
mittel find, dem Mißbrauch der Gewalt Widerftand entgegen- 
zufeßen; wo aber die Macht der Regierung dur das demokra⸗ 
tifche Prinzip verfümmert ift, üben fie die Wirkung, welche mau 
überall bemerkt, wenn man die Handhabung des Geſetzes in die 
Hände Solcher gibt, welche der Natur der Sache nah am 
meiften geneigt find, Mißbrauch davon zu machen. Statt näm- 
li der leitenden Oberherrlichkeit des Staats, von der in einer 
Bolksregierung unvermeidlich die meiften Mißbräuche ausgehen, 
Widerfland entgegenzufeßen, wird diefelbe im Gegentheil nur 
noch mehr unterftügt. 

Da mein Onkel Miller einen verfländigen, gewiflenhaften 
Mann gefunden hatte, fo war er geneigt, fih über den begonnenen 
Gegenſtand weiter mit ihm einzulaffen,' weßhalb er nach einer Eur- 
zen Pauſe — als hätte er fich inzwiſchen das Beiprochene überlegt 
— den Faden der Unterhaltung wieder aufnahm. 

„Wodurch wird man denn in diefem Lande zu einem Ariſto⸗ 
kraten?“ Tautete feine nächfte Frage. 9 

„Ja, mein guter Freund,” entgegnete Miller Mit ſehr gedehnter 
Betonung der erſten Sylbe feiner Erwiedktung — „ja, mein guter 
Freund, dieß ift jchwer zu jagen. Man hört in dieſem Lande fo 
viel von Ariftofraten, und liest jo viel von Ariftofraten, und ic) 
weiß auch, daß fie bei den meiften Leuten verhaßt find; gleichwohl 





197 


iſts mir aber noch immer nicht klar geworden, was man eigentlich 
unter einem Ariftofraten verfteht. Könnt Ihr mir vielleicht jagen, 
was das Wort zu bedeuten hat?” 

„Sa, ja; ein Nriftofrat ift einer von den Wenigen, welche alle 
Gewalt der Regierung in den Händen haben.” 

„Bob Taufend! Nein, das iſt's nicht, was wir ung in diefem 
Theile der Welt unter einem Ariftofraten vorftellen. Solche Krea- 
turen nennen wir bier zu Land Dimigogen. Bei uns heißt 
3. B. der junge Squire Littlepage, dem das Nefthaus da drüben 
und das ganze Gut bier herum nah und fern gehört, ein Arifto- 
frat; aber der hat nicht fo viel Gewalt, um nur zum Stadtfchrei- 
ber gewählt zu werden, gefehweige denn, daß er was Anderes wer⸗ 
den Eönnte, bei dem ſich's der Mühe verlohnte.” 

„Die kann er denn ein Ariftokrat fein?” 

„Begreif's wer kann — wenn anders die Auskunft, die Ihr 
mir über einen Ariftofraten gebt, wahr ift; denn demnach müßten 
die Dimigogen die Ariftofraten von Amerika fein. ch ftehe dafür, 
Joſh Brigbam, den ich vorhin nach meinen Schafen geſchickt habe, 
fönnte für jedes Amt im Land weit mehr Stimmen friegen, als 
der junge Littlepage.” 

„Vielleicht ift diefer Littlepage ein fchliimmer junger Mann?” 

„Nein, das nicht; erift fo gut wie andere Leute und beifer, als 
die meiften. Wenn er aber außerdem fo fchlimm wäre, wie der Teufel 
felber,, fo wiflen die Leute im Lande nicht einmal etwas von ihm, 
weil er juft von der Schule weg in fremde Länder gegangen iſt.“ 

„Wie, und er follte nicht über fo viele Stimmen gebieten kön— 
nen, wie jener Me unwifjende Kerl? Dieß finde ich ſeltſam.“ 

„Seltfam MS freilich, aber jo wahr wie ein Evangelium. 
Woher's kömmt? dieß ift freilich nicht fo Leicht zu fagen. Ihr 
wißt ja, wie's heißt — viel Köpfe, viel Sinn. Manche Leute 
können ihn nicht leiden, weil er in einem großen Haufe wohnt; 
Andere haffen ihn, weil fie meinen, er fei befler daran, als fie, 





13 


198 


die Einen trauen ihm nicht, weil er einen guten Rod trägt, und 
Andere wollen ſich maufig über ihn machen, weil fein Eigenthum 
durch feinen Vater, durch feinen Großvater u. |. w. auf ihn ge- 
fommen ift, und er es nicht felber verdient hat. Wie's eben heut- 
zutag geht — manche Leute find der Meinung, man dürfe defjen, 
was man hat, nicht froh werden, wenn man's nicht felbft zu⸗ 
ſammengebracht hat.” 

„Wenn die Sache fi) fo verhält, fo it Euer Herr Littlepage 
fiherlich kein Ariſtokrat.“ 

„Mag fein, aber bier herum denkt man anders. In letzter 
Zeit hat e8 viele Verfammlungen gegeben, und man fprach darin 
über das Recht des Volkes an feine Barmen; auch hörte man viel 
darin fprechen von Nriftofratie und Feudalweien. Wißt Ihr auch, 
was ein Feudalweſen ift?" 

„Sa; in meinem Vaterlande, das heißt in Deutichland, be= 
fteht noch vieb von diefem Inſtitut. Es ift nicht ſehr Leicht, es in 
wenigen Worten zu erklären; aber die Hauptfache liegt darin, daß 
der Bafall feinem Lehensherrn zu Leiftungen verpflichtet if. In 
alten Zeiten mußten die Bafallen Kriegsdienfte thun, und etwas 
der Art befteht auch jebt noch. In meinem Lande find hauptfäch- 
lich die Adelichen zum Feudaldienft verpflichtet, und zwar ift dieß 
den Königen und Fürften gegenüber der Fall.” 

„And nennt man’s in Deutſchland nicht einen Feudaldienft, 
wenn Einer ftatt der Rente einen Godel bringen muß?" 

Onkel Ro und ich lachten laut hinaus, obſchon wir ung alle 
Mühe gaben, unjere Heiterkeit zu zügeln, denn in diefer Frage lag 
ein Pathos, das fih höchſt poffierlich ausn Sobald mein 
Onkel fi) wieder gefammelt hatte, erwiederte e Farmer: 

„Wenn der Grundherr ein Recht hat, beliebig zu fommen und 
Hühner wegzunehmen, fo viel ihm anftehen, dürfte allerdings von 
- einem Feudalrecht (Hauftrecht) die Rede fein; wenn aber der Ver⸗ 

Zrag jagt, jo und fo viele Hühner müffen jährlich ftatt der Rente 


199 


bezahlt werden, jo ift Dieß wohl das Nämliche, wie wenn in jo und 
jo viel Geld bezahlt würde — im Gegentheil fogar leichter für den 
Guts-Inſaſſen, da ihn die Hühner nicht fo fauer ankommen, wie 
die Elingende Münze. Gewiß ift ein Mann viel beffer daran, wenn 
er feine Schulden in dem zahlen darf, was er felber erzielt." 

„Wahrhaftig, jo kömmt mir's auch vor! aber hier herum und 
auch zu Albany ſchwatzen die Leute davon, es ſei feudal für einen 
Mann, daß er in die Geſchäftsſtube des Grundbeſigers ein paar 
Hühner tragen ſolle; der Grundbeſitzer ſelbſt aber ſei ein Ariſtokrat, 
weil er dieß verlange.“ 

„Nun, wenn man dieſes Geſchäft nicht gerne ſelbſt beſorgt, 
ſo kann man ja einen Knaben, ein Mädchen oder einen Nigger 
damit beauftragen.“ 

Dieß wohl; denn weiter wird nicht verlangt, als daß man 
das Federvieh wirklich liefere.“ 

„Und wenn der Patroon vielleicht ſeinem Schneider oder ſeinem 
Schuhmacher etwas ſchuldig iſt, muß er ihn nicht in feiner Werk⸗ 
ſtatt oder-fonftwo aufiuchen, um ihn zu bezahlen, fofern er nicht 
haben will, daß er von Gerichts wegen um die Forderung be⸗ 
langt wird? zu 

„Die ift auch wahr. Jungen, erinnert mich daran, daß 
ich’8 heute Abend Joſh fage. Sa, der größte Grundbefiger im Land 
muß jeinen Släubigern nachlaufen, oder ſich verklagen laſſen — 
gerade jo wig, der geringfte Pächter. 

„Und er muß natürlich in etwas Beflimmtem zahlen — in 
Gold oder Silber?” 

„sa — i m geſetzlichen Zahlungsmittel. Dieß gilt dem 
Einen, wie de dern.“ 

„Und wem Euer Herr Littlepage einen Lieferungsvertrag un⸗ 
terzeichnete, vermöge deſſen er ſich anheifchig machte, Jemanden 
auf feinen Gütern den Ertrag jenes Obſtgartens abzulaſſen — 
müßte er da die Nepfel nicht auch bringen oder ſchicken?“ 






200 


„Natürlich, dieß if Handelsbrauch.“ 

„Und er muß die nämlichen Aepfel hergeben, die auf dieſem 
und diefem Baume wachen — iſt's nicht fo?“ 

„So richtig wie ein Evangelium. Wenn ein Mann fi ver- 
tragsmäßig anheifhig macht, die Aepfel des einen Obſtgartens 
zu verfaufen, fo ann er dem Käufer nicht Die Aepfel eines andern 
aufdringen.” 

„Und in folhen Dingen ift das Geſetz gleich — für die Einen 
wie für die Andern?“ 

„Es gibt einen Unterfchied und darf auch Feinen geben." 

„So verlangen alfo jet Die Batroonen und Grundbeftger eine 
Umwandlung des Geſetzes, damit fie der vertragsmäßigen Zahlung 
ihrer Schulden entbunden werden, und in diefer Weile einen Vor- 
theit fiber Die armen Pächter gewinnen?” 

„Ich habe nie etwas der Art gehört und glaub’ auch nicht, 
daß fie eine folche Umwandlung verlangen.“ 

„Nun, und über was beklagen fich denn die Leute?" 

„Daß fle überhaupt Rente zahlen follen. Sie meinen, Die 
Grundherrn follten gezwungen werden, ihre Farmen zu verkaufen 
oder fie ihnen zu ſchenken. Einige ſehen's auf's Schenken ab.” 

„Wenn aber die Grumdherrn ihre Barmen nicht verkaufen 
wollen, fo kann man fie Doch nicht zwingen, ihr Eigenthum, das 
ihnen nicht feil it, zu veräußern. Was würden die Pächter dazu 
fügen, wenn man ihnen zumuthete, fie müßten gegewähren Willen 
thre Schweine und ihre Schafe verkaufen ?” 

„Buben, hört ihr's? So ift mir's immer gorgefommen, und, 
ih hab's auch fletd den Nachbarn geſagt. N eund Deuticher, 
th will Euch noch weiter erzählen, was m Schild führt. 
Einige Leute verlangen vom Staat, er folle dem Rechtstitel Des 
jungen Littlepage unterfuchen — fie fagen, er befibe gar einen.“ 

„Aber der Staat wird dieß thun, ohne daß er befonders dar- 


nel wird — meint Ihr nicht?" - 





201 


„Ich hab’ nie gehört, daß es hierauf abgefehen wär’. “ 

„Wenn Jemand einen Anfpruch auf das Eigenthum hat, wer⸗ 
den nicht die Gerichtshöfe eine Prüfung vernehmen ?* 

„3a, ja — wenn Ihr jo meint; aber ein Pächter kann feinen 
Nechtstitel aufbringen gegen feinen Grundherrn.“ 

„Wie follte auch diefer dazu kommen? Als Pächter kann er 
keine Anſprüche haben, als die, welche ihm fein Grundherr ver- 
‚ leiht, und e8 wäre Betrug und Spigbüberei zumal, wenn fi) 
Einer unter dem Borwande des Pachts auf einer Karm feftfebte, 
um dann erft hervorzutreten und fie als Eigenthüimer anzufprechen. 
Glaubt ein Pächter befiere Rechte zu haben, als fein Grundherr, 
fo verfegte er die Farm in den Zuftand, wie fie war, ehe er den 
Pacht antrat, und dann kann ja, dächte ich, der Staat die Befib- 
titel unterſuchen.“ 

„sa, ja — in Ddiefer Weife ging's wohl; aber die Leute 
wollen’8 anders haben. Sie verlangen vom Staat, daß er eine 
gefebliche Unterfuchung vornehmen laflen, und wo möglich die 
Grundherrn von ihren Zändereien fortjagen foll, damit fie an ihrer 
Statt die Farmen an fich bringen können." 

„Aber dieß wäre nicht ehrlich von folchen, welche die Far- 
men gar nichts angehen. Wenn fie dem Staat gehören, jo muß 
er darauf fehen, daß er möglichft viel dafür erlöst und hiedurch 
dem ganzen Volk eine Steuerlaft erjpart wird. Die ganze Ge- 
ſchichte kommt mir wie eine Spitzbüberei vor.” ’ 

.. „Ich glaub’, 8 ift gerad’ dieß und nichts anderes! Wie Ihr 
fagt, der Staat @ den Befigtitel unterfuchen, wie er ift, und 
wir brauchen um illen feine Geſetze.“ 

„Wie meint Ihr — würde wohl der Staat ein Geſetz er⸗ 
laffen, daß die Forderungen, welche gegen die Patroone geltend 
gemacht werden, einer Unterfuchung zu ünterwerfen feien, nach⸗ 
dem die Handwerföleute ihre Rechnungen eingefchieft haben?“ 


202 


- ‚Ich möchte den Patroon fehen, der ein ſolches Anfinnen 
ftellte! Man würde ihn auslachen von York bis Buffalo.” 

„Und es würde ihm recht geichehen. Aber wie ich aus Alleın 
erjebe, Freund, find Eure Pächter die Ariſtokraten, die Grundherrn 
dagegen die Vaſallen.“ 

„Je nun, ſeht — wie iſt doch gleich Euer Name? — da wir 
wahrfcheintich bekannter mit einander werden, möchte ich doch Euern 
Namen wiſſen.“ 

„Ih heiße Greiſenbach, und komme aus Preußen.“ 

„Schaut, Mr. Greiſenbach, der Haupthaken wegen der Ariſto⸗ 
kratie ſteckt darin: Hugh Littlepage iſt reich, und ſein Geld ſchafft 
ibm Vortheile, die andern Leuten nicht zu gut kommen. Dieß 
iſts, was einige Leute nicht den Hals hinunter Eriegen können.“ 

„Ob, dann iſt's alfo in diefem Lande auf eine Bertbeilung 
des Eigentbums abgefeben — es läuft daraus hinaus, daß Nie- 
mand mehr haben foll, als ein Anderer?“ 

„So weit iſt's noch nicht ganz gekommen, obſchon ich Dem 
Geſchwätz von Ginigen anmerke, daß fie auch darauf binichielen. 
Nun, es gibt auch bier berum Perfonen, welche ſich darüber be- 
ſchweren, daß die alte Madame Littlepuge und ihre jungen Ladies 
die armen Leute nicht bejuchen.“ 

„Aretlih, wenn fie je bartberzig find und fein Gefübl haben 
für den Armen und Unglüdlichen — —“ 

„Nein, nein; Dieb ward nicht, was ih meinte. Niemand 
zieht "ihnen in Abrede, daß fie für der Art Arme mebr tbun, als 
irgend Jemand anders in der Gegend. Ich will Damit jagen, daß 
Re die Armen, die nicht chen Mangel leidenfäntanicken.“ 

„Nun. 08 muß cine rechte bryueme Art Armutb ſein, Die 
nichte von Mangel weeiß. Ibr meint rielleicht. ME dic Frauenzimu⸗ 
mer nicht mit ibnen ungeben, wie mit idres leiden?” 

„Ganz richtig. Ueber dieſen Punlı muß id nun ſagen. daß 
enert Radere ia dem Berreucf feat, ram Nie inte drüben im 







203 


Reft kommen nie hieher, um mein Mädel zu befuchen, und Kitty 
ift ein fo nettes junges Ding, wie nur eines in der Gegend.” 

„Und bejucht Kitty die Töchter des Mannes, der dort drüben 
in dem Haus am Berg wohnt?“ 

Mein Onkel deutete dabei nad) einer Hütte hin, deren Außen- 
feite auf einen Bewohner von der befcheidenften Klaſſe ſchließen ließ. 

„Kaum! Kitty ift gerade nicht flolz, aber e8 wär’ mir doch 
nicht lieb, wenn fie mir dort zu heimifch würde.” 

„ob, fo jeid Ihr im Grunde feld ein Artftotraugggonft 
hättet Ihr nichts dagegen einzuwenden , wenn Eure Tochter die 
Tochter jenes Mannes beſuchte.“ 

„Ich ſag' Euch, Grunzebach, oder wie Ihr ſonſt heißen mögt,“ 
erwiederte Miller ein wenig aufgebracht, obſchon er im Ganzen ein 
herzguter Mann war, „ich ſage Euch, daß mein Mädel unter keinen 
Umſtaͤnden die Töchter des alten Stephens beſuchen ſoll.“ 

* nun natürlich kann fie dieß halten wie es ihr beliebt; 
aber vch enke, es jollte auch den Mademoifelles Littlepage’s frei- 
fiehen, nach ihrem Gutdünfen zu handeln.” 

„Es ift nur eine einzige Miß Littlepage vorhanden. Wenn 
Ihr dieſen Morgen den Wagen habt fahren jehen, fo faß fie drin- 
nen. Sie hatte zwei Yorker Mädels und Pfarrer Warrens Tochter 
bei ſich. 

„Diefer Pfarrer Warren ift vielleicht auch reich?” 

Kein, der nicht, er hat außer dem, was er vom Kirchjpiel 
zieht, auf der ganzen Welt Feine ſechs Pence Vermögen, Wie ich 
mir oft und oft habe fagen laffen, ift er jo arm, Daß feine Freunde 
ihm die Tochter M: erziehen laſſen. 

„Und die Miſittlepage ift wohl eine guge Freundin von der 
Miß Warren?" 

„Sa, die find jo di miteinander, wie nur irgend zwei.junge 
Weibsperſonen in diefen Theile der Welt fein können. Ich habe 
nie ein paar Mädel-gejehen, die unter einander vertrauter geweſen 







204 


wären. Da haben wir auch eine junge Lady in der Stadt, fie 
heißt Opportunity Neweome, und man follte glauben, fie ginge in 
dem Haus täglich und flündfich der Mary Warren vor; gleichwohl 
aber ift dieß nicht, denn neben Mary fcheint fie allen Glanz zu 
verlieren.” 

„Und welche von beiden iſt wohl die reichſte — Opportunity 
oder Marry?“ 

Allen Sagen nach hat Mary Warren nichts, während, wenn's 
aufabeendg en ankömmt, der allgemeine Glaube herrfcht, Oppor⸗ 
tunity fei bie reichfte von allen jungen Mädels hier herum, und 
komme gleich nach Patty. Aber Opporkunity ift in dem Neft nicht 
fonderlich beliebt.“ 

„Dann jeheint fich doch im Grund herauszuftellen, Miß Litt- 
lepage wähle ihre Freundinnen nicht wegen ihrer Reichthümer. 
Sie liebt Mary Warren, obichon fie arm ift, und an Oppertunity 
ann fie keinen Gefallen finden, troß dem, daß nr chönes 
Austommen in der Welt hat: Vielleicht find die Little doch 
keine ſo arge Ariſtokraten, als Ihr glaubt.“ 

Miller war verduzt, konnte aber gleichwohl eine Neigung zum 
Lachen nicht unterdrüden. Unter Leuten, welche vermöge ihrer 
Stellung und Lebensweife nicht im Stande find, die Kettenglieder 
zu würdigen, welche eine gebildete Geſellſchaft zufammenhalten, ift 
e8 ein fehr gewöhnlicher Irrthum, Alles auf das Vermögen zu be- 
ziehen. In einem gewiffen Sinn — als Mittel nämlich und um 
feiner Folgen willen — kann zwar der Neichthum bei Theilung 
der Gefellfchaft in Klafien wohl als ein Haupthebel betrachtet wer- 
den; aber auch wenn er Tängft fur bleiben doch feine 
Früchte zurüc, wit er zur vechter Zeit gEP angewendet wurde. 
Die gemeine Anfiht, oder — um mich beffer auszudrüden — die 
Anficht des gemeinen Menfchen, Geld ſei das einzige Bindemittel 
der feinen Befellfchaft, iſt volllomemen unrichtig. Diefe Thatfache 
weiß Seber, der fogar nur in unſern Handelsſtädten, wie los 


4 











205 


und zufällig bier auch der gefellihaftliche Zuftand ift, Zutritt 
in die befferen Zirkel hatte, denn allenthalben öffnet der Gebil- 
dete nur mit Widerwillen gemeinen Reichthum feine Kreife — ja, 
fließt ihn wohl ganz aus, während die gute Erziehung auch bei 
völliger Armuth eine offene Thüre findet. Ohnehin denkt die Ju⸗ 
gend jelten viel an Geld; Familienbeziehungen aber, früher Um⸗ 
gang, Achnlichkeit der Anfichten und der Neigungen Inüpfen Ver⸗ 
bindungen und halten fie oft zufammen, nachdem die goldene Kette 
längſt zerbrochen iſt. 

Doch der Menſch kann nicht gut erfaſſen, was außer dem Be⸗ 
reich ſeiner geiſtigen Sphären liegt. Das Geld beſticht allerdings 
die Sinne eines Jeden; feine Bildung aber in ihren unendlichen 
Abſtufungen kann hauptſächlich und in vielen Fällen ausſchließlich 
nur von ſolchen gewürdigt werden, welche fie ſelbſt beſitzen, und 
e8 darf daher nicht überrafchen, wenn der gewöhnliche Sinn ein 
Band, das für ihn ein Geheimniß fein muß, mehr in dem gleißen- 
den Einfluß, ald in dem weniger augenfälligen ſucht. Ja, ges 
wiß, die Abftufungen der Bildung find unendlih, und lange nicht 
fo fehr die Frucht der Laune und des Sichgehenlaffens, ald man 
gewöhnlich glaubt. Sogar in den Geſetzen der Etikette Liegt eine 
allgemeine Bedeutung — ich möchte fogar fagen, ein gewiffer Grad 
von Weisheit, und eben deßhalb, weil fie nur unter den Gleichen 
zu finden find, befunden fie. die gegenfeitige Achtung, welche unter 
ihnen befteht. Der Umgang und die Gewohnheiten eines Menfchen 
wirken fo Tehr auf fein Benehmen, auf jein Aeußeres und fogar 
auf feine Anfichten, dag mein Onkel ſiets zu behaupten pflegte. 
an einem Pla wieSaratoga könne ein Menſch in feinen Jahren 
den Mann von WeTchon nach einem Verkehr von fünf Minuten 
erfennen; ja, er wolle fogar. jagen? welcher Lebensklaffe derſelbe 
urfprünglich angehört habe. Als wir lebten Sommer auf unferer 
Rüdkehr von Ravensneft nad) dem Kurort Tamen, legte er eine 
Brobe von feiner Geſchicklichkeit ab, und ich war fehr erfreut über 






206 


den glücklichen Erfolg derfelben, obfchon ich geftehen muß, Daß er 
auch hin und wider einen Mißgriff machte. 

„Diefer Mann kommt aus den beffern Zirkeln, ift aber nie 
gereist," fagte er mit Bezug auf Einen aus einer Gruppe, Die 
noch bei Tifh ſaß, „während fein Nachbar Reifen gemacht Hat, 
aber aus einer ungebildeten Familie ſtammt.“ Dieſe Unterfcheis 
dung mag als fehr ſpitzfindig erfcheinen, läßt ſich aber, meine ich, 
leicht ermitteln. „Hier find zwei Brüder von einer trefflichen Bas 
milie aus Pennfylvanien,” fuhr er fort, „wie man fchon ihrem 
Namen entnehmen Tann. Der ältere ift auf Reifen gewefen, der 
jüngere nicht." Diefe Unterfcheidung war noch ſchärfer und ſchwie⸗ 
riger; wer aber die Welt fo gut Fannte, wie mein Onfel Ro, 
wußte die betreffenden Punkte wohl zu entdeden. In diefer Weiſe 
fuhr er zu meiner größten Beluftigung mehrere Minuten fort, und 
ih muß jagen, daß feine Folgerungen ſehr annehmbar, manche da⸗ 
von auch Üiberrafchend treffend waren. Das Verwandte wird durch 
Das Verwandte angezogen, und in diefem Umftande liegt das ganze 
Geheimniß, welches der gewöhnlichen Zufammenfeßung der Geſell⸗ 
haft zu Grunde Tiegt. Gerathen zwei Männer von überlegenem 
Geifte in das volle Gewühl eines Salons, fo werden fie ſich bald 
herausgefunden haben und über Die Begegnung erfreut fein. Ein 
Gleiches trifft zu in Betreff der bloßen Denkweiſe, durch welde 
ſich die focialen Kaften charakterifiven, amd gilt vielleicht von Ame= 
rifa noch weit mehr, als von den andern Ländern, weil der Cha⸗ 
rafter unfers Verkehrs fo gemifcht if. Ja ich glaube fogar, wenn 
ein Mann von hohem Geifte mit einem andern zufammentrifft, der 
an Einficht weit unter ihm fteht, aber in Mreff des Benehmens 
und der gefellihaftlichen Anfichten eine gleichk Höhe mit ihm ein- 
nimmt, fo findet er an dem Umgang mit diefem ein weit größeres 
MWohlgefallen, als wenn er mit einem ebenfo gediegenen Kopfe, 
dem übrigens die feinere Bildung abgeht, zu thun hat. 

Daß Batt ein Weſen wie Mary Warren liebgewonnen hatte, 







207 


ſchien mir eben fo natürlich, als daß fie einem vertraulichen Ver⸗ 
tehr mit Opportunity Newcome abgeneigt war. Wäre meine 
Schwefter auch nur im mindeften einem fo engherzigen Einfluffe 
zugänglich geweien, fo fand das Bermögen der Lebteren gegen 
das, was fie ihr ganzes Leben über als Wohlftand zu betrachten 
gewöhnt geweſen, doch jo niedrig, daß diefer Umftand Feine Wir- 
fung geübt haben konnte. Aber freilich war dieß eine Sache, welche 
dem armen Tom Miller nicht in den Kopf wollte. Er fonnte nur 
aus dem feine Schlüffe ziehen, was er verſtand, und er verftand 
fich freifih gar wenig auf die beziehungsweifen Begriffe des Neich- 
thums, noch weniger aber auf die Macht der Bildung im gefell- 
fchaftlichen und geiftigen Leben. Immerhin aber fühlte er fich 
durch eine Thatjache betroffen, die fein Faffungsvermögen nicht 
recht zu verdauen wußte, obfchon er fie nicht abweifen konnte — 
Durch den Umftand nämlich, daß Mary Warren, Die zugeftandener- 
maßen arme Mary Warren eine Bufenfreundin Derjenigen war, 
welche er zuweilen das „Littlepager Mädel" zu nennen beliebte. 
Es war unverkennbar, daß dieg Eindrud auf ihn machte, und da 
er hierin eine Lehre jehen mußte, fo fteht zu hoffen, daß fie in 
Betreff eines der gemöhnlichiten menschlichen Gebrechen nicht ohne 
gute Wirkung für ihn blieb, 

„Run ja," verfeßte er, nachdem er über die letztere Bemer- 
fung meines Onkels eine volle Minute ſchweigend nachgedacht hatte, 
„th weiß nicht — und muß wahrhaftig jagen, es Eömmt mir felbft 
auch jo vor. Und doch haben mein Weib und Kitty ganz andere - 
Gedanken von der Sache. Ihr werft mir meine Vorftellungen von 
Ariftokratie völlig über den Haufen, denn obgleich mir die Little- 
page's lieb und werth find, hab’ ich fie doch ſtets für defperate Ari— 
fofraten gehalten.“ 

„Nein, nein, Eure jogenannten Dimigogen find die amerifa- 
niſchen Ariſtokraten Sie ziehen alle öffentlichen Gelder an ſich, 
und ſind im Beſitz der Gewalt; nur das wurmt ihnen und macht 


208 


fie rappelköpfig, weil fie fih den Gentlemen und Ladies von Ame- 
rika nicht eben fo gut aufdringen koͤnnen, wie den öffentlichen Aem⸗ 
tern des Randes." 

„Bei Gott! id weiß nicht, ob Ihr hierin nicht recht haben 
mögt. Veberhaupt kann ich mir gar nicht denken, wie Einer befugt 
fein mag, fich über die Littlepage’s zu beklagen.“ 

„Behandeln fie die Leute gut, wenn diefe kommen, um ihnen 
einen Befuch zu mächen?" 

„Sa wohl, wenn nur die Leute fie auch fo gut behandelten — 
aber dieß gejchieht nicht immer. Es gibt hier herum Schweine- 
kerle“ — Tom war ein bischen ſcharf in feinen Bildern, aber 
man wird fagen müflen, daß er damit vollkommen recht hatte — 
„ja ich hab's felbft mitangefehen, wie die Kerls zu Madame Kittle- 
page in die Stube ſchoßen, die Stühle an's Feuer rüdten, den 
Tabaksſaft umherſpritzten und feinen Augenblid daran dachten, 
auch nur die Hüte abzunehmen. Dergleichen Volk thut immer ges 
waltig wichtig mit fi ſelbſt, denkt aber nie an anderer Leute 
Gefühle.” 

Wir wurden jebt durch den Ton raffelnder Räder unterbrochen, 
und wie wir umfchauten, bemerkten wir, daß der Wagen meiner 
Großmutter auf dem Rüdwege vor der Thüre des Farmhauſes an⸗ 
gefahren war. Miller hielt es für nicht mehr als in der Ordnung, 
daß er hingehe und fich erkundige, ob man etwas von ihm verlange, 
und wir folgten ihm langfam nach; denn mein Onfel beabfichtigte, 
jeiner Mutter eine Uhr anzubieten, um fich zu überzeugen, ob fie 
wirklich nicht im Stande fei, feine Maske zu durchſchauen. 


1 


Zehntes Kapitel. 


Mollt ihr kaufen Feine Schnür’ 
Oder Spitz’ zur Haubenzier? 

Der Haufirer wohlbeftellt 

Gibt's euch gern’ für baared Geld. 
Baared Geld 

Hilft zu Allem in der Welt! 


Wintermährchen. 


VDa ſaßen ſie, die vier jungen Weſen, eine wahre Milch— 
ſtraße von klaren, funkelnden Augen. Es befand ſich nicht ein ein- 
ziges ausdruckloſes Geſicht unter ihnen, und ich war betroffen von 
dem Umſtande, daß man ſo gar ſelten unter der amerikaniſchen Ju⸗ 
gend wirklich häßliche Frauenzimmer trifft, Auch Kitty war um die 
Zeit, als wir den Wagen erreicht hatten, unter der Thüre erfchienen 
und bildete ein recht anziehendes, blühendes Seitenftüd, Schade 
übrigens, daß fie vedete, denn die Gemeinheit ihrer Ausiprache 
und der Betonung ihrer Stimme,. welche eine Art von fingendem 
Weinen war, fland in einem grellen Gegenfab zu der gefunden, 
lebensvollen Zartheit, die fich in ihrem Aeußern ausdrüdte. Alle 
die Elaren Augen wurden noch Teuchtender, als ich, meine Flöte in 
der Hand, näher trat; aber Feine von den jungen Damen getraute 
fh, auch nur eine Sylbe Iaut werden zu laffen. 

„Will von den Frauenzimmern Niemand eine Uhr tauiea?% 

Raveneneft. Ak 


210 


begann Onkel Ro’, indem er fi, die Mübe in der Hand und mit 
offener Truhe, feiner Mutter näherte. 

„Ich danke Euch, Freund. Wir Alle find bier, wie ich glaube, 
bereits mit Uhren verfehen.” 

„Die meinigen find fehr wohlfeil.” 

„Dieß glaube ich gerne," verfeßte meine theure Großmutter 
lächelnd; aber wohlfeile Uhren find nicht immer die beften. Iſt 
dieſes allexliebfte Bleirohr von Gold?" 

„Sa, Madame, es ift von gutem Gold. Wenn’s nicht fo 
wäre, würde ich's nicht ſagen.“ | 

Sch bemerkte ein unterdrüctes Lächeln unter den Mädchen; fie 
waren jedoch indgefammt zu gut erzogen, um den gewöhnlichen 
Beobachter bemerken zu laſſen, wie poffterlich ihnen die in gebro- 
chenem Englifch gegebene Betheurung meines Onfels vorkam. 

„Bas fol das Rohr koſten?“ fragte meine Großmutter. 

Onkel Ro bejaß zu viel Takt, um feine Mutter in einer 
MWeife, die er bei Miller in Anwendung gebracht hatte, zu einem 
Kauf veranlaffen zu wollen, und nannte deßhalb ungefähr den 
wahren Werth des Artikels, der fich auf fünfzehn Dollars belief. 

„Ich will es nehmen," entgegnete meine Großmutter, indem 
fie drei halbe Adler in die Truhe fallen ließ. 

Dann wandte fie fih an Mary Warren und erfuchte fie, das 
Rohr als Gefchent anzunehmen. Dieß gejchah übrigens in fo ach⸗ 
tungsvoller Weiſe, daß es vollfommen den Anfchein hatte, als wolle 
fie nicht einen Gefallen erweifen, fondern erbitte fich eine Gunfl. 

Mary's ſchönes Antlitz wurde über und über roth. In ihren 
Zügen drüdte ſich Freude aus; und fie nahm die Gabe an, obfchon 
es mir vorkam, als zögere fie einen Augenblid, ob fie auch füg- 
licherweiſe fich mit einem fo werthvollen Gegenftand dürfe bejchen- 
fen laffen. Meine Schwefter erbat fich Die Bleifeder, um fie be- 
trachten zu können, und nachdem fie Diefelbe bewundert hatte, ging 

fie von Band zu Hand, allenthalben um ihrer Form und ihrer Ver⸗ 


211 


zierung willen Lob erntend. Ueberhaupt waren alle Waaren mei- 
nes Onkels fehr geſchmackvoll gearbeitet und von einem Kaufmann, 
der in überfeeifchen Artikeln Gefchäfte machte, mit ziemlihem Auf⸗ 
wand erflanden worden. Die Uhren waren allerdings, mit einer 
oder zwei Ausnahmen, wohlfeil, und dafjelbe Eonnte man auch von 
den meiften Schmudfachen fagen; aber mein Onkel hatte ein paar 
Uhren und einige fehöne Koftbarkeiten bei fich, die er felbft aus 
Europa mitgebracht hatte, um fie zu Geſchenken zu verwenden, und 
unter diefen befand fich die fragliche Bleifeder, welche er nur einen 
Augenblid vor dem Verkauf in die Truhe hatte gleiten laſſen. 

„Der Taufend, Madame Littlepage," rief Miller mit der Zu- 
tramlichkeit eines Mannes, der auf dem Gute geboren war, „Dieß 
ift einer der Euriofeften Uhrenhaufirer, die mir je vorgefommen 
find. Er verlangt fünfzehn Dollars für diefes Nöhrlein und nur 
vier für diefe Uhr.” 

Bei diefen Worten zeigte er den Gegenftand vor, den er felber 
täuflich erworben hatte, 

Meine Großmutter nahm die Uhr in die Hand und unterfuchte 
fie auf's Sorgfältigfte. 

„Der Preis erfcheint mir außerordentlich wohlfeil,“ bemerkte 
fie — wie e8 mir vorfam — mit einem mißtrauifchen Blick gegen 
ihren Sohn, als glaube: fie, er möchte feine Befen nur deßhalb 
wohlfeiler verkaufen, als Derjenige, welcher nur das Material 
ſtahl, weil er die bereits fertige Waare auf unrechtmäßigem Wege 
an fich gebracht hatte. „Ich weiß zwar, daß in den Ländern 
Europa’, wo man wohlfeil lebt, dergleichen Uhren zu ſehr niedri— 
gen Preifen gefertigt werden; aber man kann es kaum für möglich 
halten, daß eine derartige Maſchinerie fich für eine fo Kleine Summe 
zufammenfeßen läßt." 

„Sch habe fie zu allen Preifen, Madame,” entgegnete mein 
Onkel. 
„Ich hätte wohl Luft, eine gute Damenuhr zu kaufen, trage 
| —X 


212 


aber doc) Bedenken, fich bei Jemand Anders, als bei einem be= 
Fannten und zuverläffigen Kaufmann auszunehmen.” 

„Ihr habt von ung nichts zu befürchten, Madame,” wagte ich 
zu fagen. „Wenn wir auch alle Welt betrügen wollten, könnten 
wir dieß doch bei einer fo guten Dame nicht über’s Herz bringen.” 

Ich weiß ni meine Stimme einen angenehmen Eindrud 
auf Patts Ohr te, oder ob fie den Plan ihrer Großmutter 
unverweilt ausgeführt zu ſehen wünfchte: genug, fie legte fich in’s 
"Mittel und drang in die alte Dame, uns Vertrauen zu ſchenken. 
Zehtere aber war durch die Jahre vorfichtig geworden und zögerte. 

„Aber alle diefe Uhren find von fchlechtem Metall — ich 
möchte eine von gutem Gold und von fhöner Façon,“ bemerkte 
meine Großmutter. 

Mein Onkel langte unverweilt eine Uhr hervor, die er bei 
Blondel in Paris für fünfhundert Franken gekauft hatte, und die 
jedem Damengürtel zur Zierde dienen konnte. 

Meine Großmutter nahm fie hin und las mit einigem Er- 
flaunen den Namen des Verfertigers. Die Uhr felbft wurde nun 
auf's Sorgfältigfte unterfucht und fand allgemeinen Beifall. 

„Und wie hoch haltet Ihr fie?" ergriff meine Großmutter 
wieder das Wort. 

„Zu hundert Dollars, Madame; fie iſt für diefen Preis fehr 
wohlfeil.“ 

Tom Miller warf einen Blick auf den vergoldeten Tand, den 
er ſelbſt gekauft hatte, und auf den kleineren, aber ausgeſucht ge⸗ 
arbeiteten „Artikel“, den meine Großmutter an dem kurzen Stüd- 
hen Band zum Betrachten in die Höhe hob. Der gute Farmer 
war augenfcheinlich jeßt eben fo verwirrt, wie eine Eleine Weile 
vorher, als ihm der Unterfchied zwifchen reih und arm nicht recht 
in den Kopf wollte. Der Grund lag nahe — er wußte das Aechte 
von dem Falfchen nicht zu unterfcheiden. Meine Großmutter ſchien 
65 über diefen Preis durchaus nicht zu verwundern, obſchon fie 


213 


über ihrer Brille weg einige mißtrauifche Blicke nach dem angeb- 
lichen Haufirer hingleiten ließ. Endlich wurde auch fie durch die 
Schönheit der Uhr beflochen. 

„Wenn Shr die Uhr nach jenem großen Haufe bringen wollt, 
fo will ih Euch die hundert Dollars bezahlen," fagte fi. „Ich 
habe nicht fo viel Geld bei mir.” 

„Sa, ja — fehr gut. Ihr Eönnt die Uhr behalten, Lady; 
ich will dann fommen und das Geld holen, nachdem ich zuvor 
irgendwo ein Mittageflen eingenommen habe." 

Meine Großmutter trug natürlich Fein Bedenken, den Kredit 
anzunehmen, und wollte eben die Uhr in ihre Tafche ſtecken, als 
Patt ihre Feine Hand darauf legte und rief: 

„Ach, theuerfte Großmutter, thut e8 lieber gleich — Ihr wißt 
ja, e8 find nur wir Drei zugegen." 

„O welche Eindifche Ungeduld!“ rief die ältere Dame lachend. 
„Run, ich will dir den Willen thun. Ich habe Euch jenes Blei- 
rohr nur en attendant als Andenken gegeben, Mary, denn es 
war meine Abfiht, Euch, fo bald ich Gelegenheit dazu fände, 
mit einer Uhr zu befchenfen, als Anerkennung des Muthes, den 
Ihr zeigtet, indem Ihr während jener düftern Woche, in wel- 
her wir von den Anti-Renters fo fehr bedroht wurden, bei ung 
aushieltet. Hier ift nun ein pafjendes Geſchenk, und ich erlaube 
mir die Bitte, es mit derfelben Liebe anzunehmen, mit der es 
geboten wird.” 

Mary Warren war beftürzt und die Glut flieg ihr zu den 
Schläfen; dann erblaßte fie plötzlich. Ich habe nie ein fo lieb— 
liches Bild zarter weiblicher Berlegenheit gejehen — einer Ber- 
legenheit, die aus widerftreitenden Gefühlen, aber gleichwohl aus 
Gefühlen entiprang , die ihr Ehre machten, 

„Dh, Miſtreß Littlepage,” vief fie, nachdem fie eine Weile 
in ſtummem Erftaunen die Gabe betrachtet hatte, „unmöglich könnt 
Ihr dieſe ſchöne Uhr für mich beftimmen wollen.” 


214 


„Kür Niemand Anders, als für Euch, meine Theure; die 
Töne Uhr ift um Fein Härchen zu gut für meine ſchöne Mary.“ 

„Aber meine Tiebe, meine theure Mrs. Littlepage — fie ift 
viel zu Schön für meine Stellung — für meine Mittel." 

- „Eine Lady kann recht wohl eine folche Uhr tragen; und Ihr 
jeid eine Lady in jeder Beziehung des Wortes, um deßwillen 
braucht Ihr alfo keinen Anftand zu nehmen. Was aber die Mittel 
betrifft, jo werdet Ihr mich nicht mißverftehen, wenn ih Euch 
daran erinnere, daß fie mit meinen Mitteln erfauft it, und Euch 
daher fein Tadel treffen kann.” 

„Aber wir find fo arm, und diefe Uhr fieht fo reich aus! Es 
ſcheint mir kaum recht zu fein." 

„sh achte Eure Gefühle und Gefinnungen, mein theures 
Mädchen, und weiß fie zu ſchätzen. Vermuthlich ift Euch übrigens 
befannt, daß ich einmal felbft jo arm — ja, ich darf wohl jagen, 
viel ärmer war, als Ihr.“ 

Ihr, Mrs, Littlepage? Nein, dieß ift kaum möglich. Sch 
weiß, daß Ihr von einer fehr achtbaren und wohlhabenden Familie 
herſtammt.“ 

„und gleichwohl verhält ſich's jo, meine Liebe. Ich will nicht 
eine jo übermäßige Befcheidenheit erfünfteln und in Abrede ziehen, 
daß die Malbone’8 zu den erften Familien des Landes gehörten und 
noch gehören; aber mein Bruder und ich, wir Beide waren einmal 
in unfern Glüdsverhäftniffen fo weit beruntergefommen, daß er 
ganz in der Nähe diefer Güter den Geometern bei Vermeſſung der 
Wälder an die Hand gehen mußte. Wir hatten damals feine An- 
ſprüche zu erheben, die beffer gewefen wären, als die Eurigen, und 
in vielfacher Hinficht waren wir weit dürftiger daran. Außerdem 
verdient die Tochter eines wohlerzogenen Geiftlichen aus achtbarer 
Familie, fchon vom weltlichen Standpunkt aus betrachtet, eine ge= 
wisje Anerkennung. Ihr werdet mir doch die Liebe erweifen, meine 
Gabe anzunehmen?" 


215 


„Theure Mrd. Littlepage, ich weiß nicht, wie ih Euch 
Etwas abfchlagen fol, und doch fcheue ich mich, ein fo reiches 
Geſchenk anzunehmen. Ihr werdet mir doch erlauben, zuvor 
meinen Vater darüber zu befragen? a 

„Dieß ift nicht mehr als in der Ordnung, meine Liebe, " ent- 
gegnete meine Großmutter, indem fie ruhig die Uhr in ihre eigene 
Tafche gleiten ließ. „Glücklicherweiſe fpeist Mr. Warren heut bei 
uns, und die Sache kann aljo bereinigt werden , noch ehe wir ung 
zu Tiſch niederſetzen.“ 

Dieß beendigte die Verhandlung, welche unter dem Impulſe 
eines Gefühls begonnen hatte, deſſen wir insgeſammt Zeugen wa⸗ 
ren. Was meinen Onkel und mich betrifft, ſo brauche ich kaum zu 
ſagen, daß uns die kleine Scene in hohem Grad erfreute. Einer⸗ 
ſeits der wohlwollende Wunſch, Jemand eine Liebe zu erzeigen, 
andererſeits das natürliche Bedenken, eine fo werthvolle Gabe an⸗ 
zunehmen — mit einem Worte, das Ganze war ein liebliches Bild, 
das ung Gelegenheit gab, mancherlei Betrachtungen daran zu knü⸗ 
pfen. Die drei Mädchen, welche gleichfalls Zeuge des Vorgangs 
waren, achteten Mary's Gefühle zu jehr, um fich in’d Mittel zu 
legen, obſchon Patt nur mit Mühe an fich hielt. Was dagegen 
Zom Miller und Kitty betraf, fo waren fie ohne Zweifel nicht we- 
nig verwundert, warum „Warrens Mädel” jo einfältig war, nicht 
mit beiden Händen zuzugreifen, während man ihr doch eine Uhr 
im Werth von hundert Dollars anbot. Die andere Seite der Frage 
verftunden fie freilich nicht. 

„Ihr habt von einem Mittageffen gefprochen,” fuhr meine 
Großmutter fort, indem fie nad Onkel Ro hinfah. „Wenn Ihr 
ung mit Eurem Begleiter nach dem Haufe folgen wollt, fo ſollt 
Ihr nicht nur Zahlung für Eure Uhr, fondern auch ein Diner 
obendrein erhalten.” 

Wir nahmen diefes Erbieten mit großer Freude an, machten 
unfere VBerbeugung und drüdten noch immer unfern Dant aus, als 


216 


der Wagen weiter rollte. Dann blieben wir noch einen Augenblid 
zurüd, um ung von Miller zu verabjchieden. : 

„Wenn Ihr im Neft fertig ſeid,“ fagte der gute Burfche,.. „fo 
Iprecht noch einmal hier ein. Es wär’ mir lieb, mein Weib und 
Kitty könnten Eure Raritäten anfehen, eh’ Ihr damit nach dem 
Dorf hinuntergeht." 

Wir verfprachen, wieder nach dem Farmhaus zurüdzufehren, 
und traten unfern Weg nach dem Gebäude an, welches in der fa— 
miliären Redeweife des Landes von feinem wahren Namen Ravens- 
neft her Die Bezeichnung Neft oder Nefthaus führte, von Zom Miller 
aber in feinem bäurifchen Dialekt das „Neeft" genannt wurde. Die 
Entfernung zwifchen beiden Häufern betrug kaum taufend Schritte 
und war theilweife mit den zu Ravensneft gehörigen Gründen aus- 
gefüllt. Leptere waren fo ausgedehnt, daß fie wahrfcheinlich von 
manchen Perfonen mit dem Titel „Park“ beehrt worden wären; 
bei ung aber führten fie nie einen fo hochtrabenden Namen, obfchon 
ihnen, um ihn zu verdienen, nichts gefehlt hätte, ald daß außer den 
Hausthieren auch Hirfche oder ähnliches Wild darin gehalten wor- 
den wäre. Wir nannten fie gewöhnlich nur den Grund — ein Aus— 
druck, welcher große und Eleine derartige Umfaſſungen bezeichnet, 
während die breite Fläche von Grün, die unmittelbar unter den 
Fenftern liegt, den Namen „Raſen“ führt. Obfchon in Amerika 
das Land fehr wohlfeil ift, hat doch die Landſchafts⸗Gärtnerei nur 
jehr geringe Fortfchritte gemacht, und wenn wir je Etwas befipen, 
was einer Parf-Scenerie ähnlich fieht, fo haben wir dieß weit mehr 
den Gaben einer üppigen Natur, als den Leiftungen der Kunft zu 
verdanken. Ehre dem gebildeten Geſchmack Downings fowohl, als 
feinen wobhlgeleiteten Arbeiten — diefer Vorwurf wird ung bald 
nicht mehr treffen, und das Landleben unter den vielen anderen 
Genüffen, welche ihm jo eigenthümflich find, dieſes anjprechenden 
Reizes nicht länger entbehren. Nachdem die Gründe des weißen 
Haufes mehr ald zwanzig Jahre — ein wahres Brandmal für 


217 


den Nationalgeſchmack — durch Kluften, Löcher und fonftige Miß⸗ 
fände entftellt, dagelegen hatten, find fie endlich in einen Zuftand 
gekommen, welcher befundet, daß fie einem civilifirten Lande an⸗ 
gehören. Die Amerikaner find, obgleich viel mehr zum Wechfel ge- 
neigt, eben fo nachahmungsfertig, wie die Chinefen, und man 
braucht wenig mehr als gute Modelle, um fie auf die richtige 
Bahn zu leiten. So viel ift Übrigens zuverläffig, daß wir als Na- 
tion von der befagten Kunft nicht weiter kennen, als die Baum⸗ 
Alleen oder hin und wieder einen Buſch von Strauchwerk. Die 
Verſchlingung der letzteren mit ihrer Wildniß von fügen Düften, 
die Mafjen von Blumenbeeten, welche die Oberfläche Europa’s be- 
fäen, die Schönheit gefrümmter Linien und die Anbringung über- 
rafchender Hintergründe und Viſtas — dieß find lauter Dinge, 
welche fo wenig unter uns befannt find, daß man fie faft für ari- 
fofratifch halten ſollte. 

Zu Navensneft war wenig mehr gefchehen, als daß man den 
natürlichen Baumwuchs benüßt und von der günftigen Bildung und 
Lage der Gründe Vortheil gezogen hatte. Die meiften Reijenden 
find der Anficht, es fei Leicht, in dem jungfräulichen Urwald einen 
Park anzulegen, weil ja die Art das Didicht, das Gebüfch und die 
Holzarten, die anderwärts eine Frucht der Zeit und Fünftlicher An- 
pflanzung find, nur ftehen zu laſſen brauche. Dieß ift übrigens in 
der Regel ein großer Irrthum, obſchon hin und wieder auch be= 
dingte Ausnahmen vorkommen mögen. Der Baum der amerifani- 
Then Wälder fchießt gegen das Licht auf und bleibt bei feiner Höhe 
fo dünn, daß er unfcheinbar wird. Aber auch dann, wenn die Zeit 
-dem Stamm eine pafjende Die gegeben hat, gewinnt doch der 
Wipfel felten die Breite, welche einem. Park zur Zierde dienen 
fann, während die Wurzeln, welche ihre Nahrung in dem taufend- 
jährigen Humus der gefallenen. Blätter fuchen, zu nahe unter der 
Oberfläche liegen, um nad Entfernung der fchirmenden Nachbar- 
bäume zureichenden Schub zu finden. Dieß find die Wrfachen, 


218 


warum die zierenden Gründe eines amerikantfchen Landhaufes ge- 
wöhnlich ab origine angelegt werden müffen, da die Natur nur 
wenig nachhilft oder zur Verfchönerung beiträgt. 

Meine Vorfahren hatten in der Nähe des Neſtes der Natur 
wohl einige Nachhilfe geleiftet, glüclichermweife aber nur wenig ge— 
than, um die Anftrengungen derfelben zu verfümmern; denn dieſer 
legte Umftand war.bei der Sachtenntniß, welche vor ſechzig Jahren 
in Amerifa über diefen Gegenftand herrfchte, von faft eben fo großer 
Wichtigkeit. In Folge davon befigen die Gründe von Ravensneft 
eine Breite, welche wir der Ausdehnung unferer Ländereien ver- 
danken, und eine Ländliche Schönheit, die dennoch anziehend ift, ob— 
Ihon die Kunft nicht viel nachgeholfen hat. Das Gras wurde von 
den Schafen Furz gehalten, und wir fahen ein ganzes Tauſend 
diefer Thiere von der feinften Wolle, die, ald wir unjern Weg 
nach dem Haus verfolgten, auf den Wiefen, an den Abhängen, und 
namentlich an den fernen Höhen weideten. 

Das Nefthaus war eine achtbare New⸗-Norker Landwohnung, 
wie fie im lebten Viertel des vergangenen Jahrhunderts unter ung 
gebaut wurden, natürlich durch die zweite und dritte Generation 
der Eigenthümer ein wenig verfchönert und erweitert. Das Mate- 
rial beftand aus Geftein, welches die niedrige Anhöhe, auf weldyer 
das Gebäude errichtet war, in trefflicher Qualität geliefert hatte. 
Die Form des Haupt-Corps de bätiment war fo nahezu im Qua= 
drat gehalten, als es nur anging. Jede Seite dieſes Gebändetheilg 
bot dem Blicke fünf Fenfter dar, denn dieß ift heutigen Tags faft 
die vorgefchriebene Anzahl für einen Landfik, da die drei fich feit- 
her in die Städte geflüchtet haben. Befagte Fenfter waren übrigens 
ziemlich groß, da der Hauptbau fechzig Fuß im Geviert hatte, aljo 
nach jeder Richtung hin zehn mehr, als bald nach der Revolution 
üblich wurde. Das urjprüngliche Gebäude hatte übrigens Flügel 
erhalten, und zwar nad einem Plan, welcher im Einklang ftand 
mit ber Beftalt eines Haufes aus vieredigen Blöden, das zuvor 


219 


an demfelben Plabe geftanden. Die Flügel waren nur anderthalb 
Stock hoch und hingen auf jeder Seite mit dem Hauptbau nur fo 
weit zufammen, daß der Durchgang vermittelt wurde; fie liefen 
nah dem Rand einer etwa vierzig Fuß hohen Klippe zurid und 
boten an ihren Enden den Ueberblick über einen fich fchlängelnden 
Bach und eine weite, ergiebige Felderfläche, die jährlich meine 
Scheunen mit Heu und meine Krippen mit Mais füllten. Bon 
dieſem ebenen fruchtbaren Bottomland erftredten fich nahezu taufend 
Acres in Drei Richtungen, und etwa zweihundert davon gehörten zu 
der fogenannten Neftfarm. Der Reft war unter die Farmen der 
benachbarten Pächter vertheilt. Diefer Eleine Umftand unter den 
taufend Ungeheuerlichkeiten, die mir zur Laft gelegt wurden, hatte 
Grund zu einer Anfchuldigung gegeben, von der ich bald zu fpre- 
hen Gelegenheit finden werde. Ich thue dieß um jo bereitwilliger, 
weil die Thatjache die Ohren der Gefepgeber — Gott behüte ung, 
wie durch den vielen Gebrauch Worte nicht fchimpflrt werden koͤn⸗ 
nen — noch nicht erreicht hat, und fie alfo ihre Zungen noch 
nicht in Bewegung ſetzen konnte, um auch diefen Punkt unter 
den Bejchwerden der im Staat anfälfigen Pächter aufzuzählen. 
In der Umgebung des Neftes war Alles in volltommener Ord- 
nung und in einem Zuftande erhalten, welcher der Thätigkeit „und 
dem Geſchmack meiner Großmutter große Ehre machte, denn wäh- 
rend der Iebten paar Jahre oder vielmehr jeit dem Tod meines 
Großvaters hatte fie fämmtliche derartige Angelegenheiten beforgt. 
Diefer Umftand in Verbindung mit der Thatfache, daß das Gebäude 
größer und Eoftipieliger war, als die der meiften andern Bewohner 
der Gegend, hatte dazu Anlaß gegeben, daß Navensneft ein „art 
ſtokratiſcher Sig" genannt wurde. Wie ich feit meiner Rückkehr 
nad) der Heimath finden muß, hat der Ausdrud „ariftofratifch" 
eine fehr umfaffende Bedeutung gewonnen, welche ihrem Sinn 
nach hauptfächlich von der Lebensweife und den Meinungen der 
Berfonen abhängt, die zufälligerweife das Wort gebraußden, Wrı 


220 


z. B. Tabak Faut, Hält es für ariflofratifch, wenn ein Anderer 
Diefe Angewöhnung für garflig erklärt, und wer gebüdt einhergeht, 
wirft Jedem, der ſich einer aufrechten Haltung erfreut, feine ari= 
flofratifchen Schultern vor. Ich bin jogar einmal mit einem In⸗ 
Dividuum zufammengetroffen, welches e8 für ungemein ariftofratijch 
erklärte, wenn Jemand die Nafe nicht mit den Fingern fchneuzen 
wollte. Auch wird es bald als ariftofratijch erjcheinen, wenn man 
die Wahrheit des alten Tateiniihen Sprichworts „de gustibus 
non est disputandum ” behauptet. 

Als wir uns der Thüre des Neftbaufes nüherten und die 
Piazza betraten, die fih um die drei Seiten des Hauptgebäudes 
und die äußeren Enden der beiden Flügel herzog, führte eben der 
Kuticher die Pferde ihrem Stalle zu. 

Die Damen hatten, nachdem fie die Farm verlaffen, einen be= 
trächtlichen Umweg gemacht und waren nur eine Minute vor ung 
angelangt. Sämmtliche Mädchen, mit Ausnahme Mary Warreng, 
befanden fich bereits im Haufe, ohne der Ankunft zweier Haufirer 
Aufmerkjamkeit zu ſchenken; die Tochter des Geiftlichen jedoch war 
an der Seite meiner Großmutter zurüdgeblieben, um und zu em- 
pfangen. 

„Ih glaube wahrhaftig," flüfterte Onkel Ro, „meine liebe 
alte Mutter hat eine geheime Vorahnung, wer wir wohl fein 
mögen, da fie und fonft kaum fo viele Aufmerkſamkeit ſchenken 
würde. — Tauſend Dank, Madame, taufend Dank,” fuhr er in 
feinem gebrochenen Englifch fort, „für die große Ehre, denn wir 
konnten nicht wohl erwarten, daß bie Dame des Haufes an ihrer 
Thüre unferer harre.“ 

„Diefe junge Lady fagt mir, fie habe euch fchon früher ge= 
ſehen und in Erfahrung gebracht, baß ihr Beide Perſonen von Er- 
ziehung und guten Sitten feiet, welche in Folge politifcher Wirren 
aus ihrem Baterlande vertrieben wurden. Wenn dieß der Fall ift, 
Zann ich euch nicht als gewöhnliche Haufirer betrachten, denn ich 


221 


weiß, was es heißt, vom Unglüd verfolgt zu werden" — bet 
diefen Worten erbebte die Stimme meiner theuren Großmutter ein 
wenig — „und kann mit Denen fühlen, gegen welche das Schidfal 
eine Stiefmutter if." 

„Madame, hierin Liegt viel Wahres,* antwortete mein Onkel, 
indem er feine Mütze abnahm und ſich ganz in der Weife eines 
Gentlemans verbeugte — ein Beifpiel, welchem ich augenblicklich 
felber auch nachfam. „Wir haben allerdings beffere Tage gefehen, 
und mein Sohn da wurde auf einer Univerfität erzogen. Jetzt aber 
bin ich nur ein armer Uhrenhändler, und Diefer hier macht Muftt 
in den Straßen.” 

Das Benehmen meiner Großmutter war jebt von der Art, wie 
es fih für eine Dame von Bildung unter folhen Umfländen ge= 
bührte — weder zu frei, um die dermalige Außenfeite zu vergeflen, 
noch zu kalt, um die Vergangenheit außer Acht zu laſſen. Sie 
wußte, daß fie ihren eigenen Verhältniffen Rechnung tragen und 
in ihrem Haushalt mit gutem Beifpiel vorangehen mußte, fühlte 
aber noch weit mehr, was fie der Sympathie ſchuldig war, welche 
ftet8 unter Perfonen von guter Erziehung ein Bindeglied bildet. 
Sie erfushte ung, in's Haus zu treten, ließ eine Mahlzeit für ung 
zubereiten, und wir wurden mit freigebiger, rückſichtsvoller Gaft- 
freundlichkeit behandelt, ohne daß übrigens die alte Dame der 
Würde ihres Charakters oder Gefchlechtes nur das Mindefte ver- 
geben hätte, da fie, was edle Haltung betraf, jeder Lady an die 
Seite geftellt werden konnte. 

Mittlerweile nahm das Gefhäft mit meinem Onkel feinen 
Fortgang. Er erhielt feine hundert Dollar, worauf er alle feine 
werthvollen VBorräthe, einjchließlich der Ringe, Vorſtecknadeln, Oh⸗ 
tenringe, Ketten, Armſpangen und anderer Schmudfachen, die er 
zu Geſchenken für feine Mündel beftimmt hatte, aus feinen Taſchen 
bervorholte und vor den Augen der drei Mädchen ausbreitete, denn 
Mary hielt fi mehr in den Hintergrund, weil fe es weht Cx 


222 


geziemend hielt, Dinge zu betrachten, die nicht zu ihren Bermögens- 
verhältniffen paßten. Ihr Bater war übrigens angekommen und zu 
Rath gezogen worden, fo daß jebt Die fchöne Uhr bereits an dem 
Gürtel des noch fchöneren LZeibes hing. Die Thräne der Dankbar⸗ 
feit, die noch in ihrem heitern Auge ſchwamm, war für mich ein 
weit werthvolleres Kleinod, als alle diejenigen, die mein Onfel zur 
Schau ftellen konnte. | 

Wir waren nach der Bibliothek gewiefen worden — einem 
Gemache, das fih auf der Vorderfeite des Haufes befand und mit 
allen feinen Fenftern nach der Piazza hinausging. Anfangs fühlte 
ih mich ein wenig ergriffen, als ich mich nach fo vieljähriger Ab⸗ 
weſenheit in dieſer Weife unbekannt unter dem väterlichen Dach 
und in meiner eigenen Wohnung befand. Soll ich's befennen? 
Nach den Gebäuden, die ich in der alten Welt kennen gelernt hatte, 
fam mir Alles winzig und gemein vor. Ich will Feine Vergleihun- 
gen mit den Paläften der Fürften und den Wohnſitzen der Großen 
anftellen, an die der Amerikaner fo gern denkt, wann immer von 
Gegenfländen die Rede ift, welche die ihm gewohnte Umgebung 
übertreffen, wohl aber habe ich den Bauftyl und die Bequemlichz, 
feiten des häuslichen Lebens im Auge, wie man fie im Ausla 
unter Perfonen trifft, die in Nichts einen Vorzug vor mir anſpre⸗ 
hen, ja, ſich kaum meines Gleichen nennen Zonnten. Mit ei 
Worte, die amerikanifche Ariftofratie, oder vielmehr das, was man 
Mode halber bei uns als ariftofratifch zu brandmarken pflegt, würde 
unter den meiften Nationen Europa’s für fehr demokratiſch gehalten 
werden. Unfere republifanifchen Brüder aus der Schweiz haben ihre 
Schloͤſſer und ihre Gewohnheiten, die, ohne daß die Freiheit An» 
ftoß daran nähme, hundert Mal ariftokratifcher find, ald nur irgend 
Etwas um Navensneft, und ich bin überzeugt, wollte man die ftol- 
zefte Wohnung von ganz Amerika einem Europäer als einen arifto- 
fratifchen Si zeigen, jo würbe er darüber in's Fäuſtchen lachen. 
Das Gehbeimmß, welches diefen Anfchuldigungen zu Grund liegt, 


223 


befteht in nichts Anderem, als in dem angeblichen Widerwillen 
gegen Jeden, der fih in irgend Etwas, und follte e8 auch durch 
Berdienfte fein, von der ihn umgebenden Maffe unterfcheidet. Es 
Handelt fich blos um die Erweitenung des Grundjages, welcher im 
Beginn diefes Jahrhunderts zu. der herfömmlichen Fehde zwiſchen 
den. „Plebejern und Patriziern" Albany's Anlaß gab — zu einer 
Fehde, die jept viel weiter gediehen ift, als die soit disant-Ple- 
bejer jener Zeit felbft im Sinne hatten, da nunmehr ihre eigenen 
NRachkommen die mißliebigen Folgen davon empfinden müffen. Doch 
um auf mich felbft zurüdzufommen: 

Ich will zugefteben, daß mir der Anblid meiner heimifchen 
Befibungen nichts weniger ald Anlaß zu frohem Jubel über mei- 
nen ariftofratifchen Glanz, fondern im Gegentheil eher Stoff zu 
Gefühlen ſchmerzlich getäufchter Erwartung gab. Was mir die 
Erinnerung als wirklich achtbar und fogar ſchoͤn vorgefpiegelt 
hatte, erjchien mir im Lichte der Alltäglichkeit und kam mir jogar 
in vielen Einzelnheiten ald gemein vor. „In der That,” fagte ich 
unwillfürlich Teife vor mi bin, „Alles Dieß ift kaum der Mühe 
werth, daß man darob vom Recht abgehen, gller Gewifienhaftigkeit 
Troß bieten And die göttlichen Gebote vergeffen ſollte!“ Vielleicht 
war ich noch zu unerfahren, um zu begreifen, wie weit der Magen 
eines gierigen Menfchen, und wie mikroſkopiſch das Auge des 
Neides if. 

„Willkommen in Ravensneft," ſagte Wr. Warren, indem er 
auf mich zutrat und mir in fo wohlwollender Weife die Hand an- 
bot, als begrüße er einen jungen Freund. „Wir find ein wenig 
vor euch angekommen, und ich habe weder Ohren noch Augen 
ruben laffen, weil ich hoffte, in der Nähe des Pfarrhaujes Eure 
Slöte zu hören, oder auf der Straße Eure Geftalt zu fehen, da 
Ihr ja verfprochen habt, mich zu bejuchen.” 

Mary erblidte ich jept zuerft wieder an der Seite ihres 
Vaters, und fie faßte angelegentlich meine Flöte in’d Auge, was 


224 


fie wahrfcheinlich nicht gethan haben würde, wenn ich in meinem 
gewöhnlichen Anzug und Charakter aufgetreten wäre, 

„Ich danke Euch, Sir," Tautete meine Antwort. „Wir werden 
immer Zeit genug haben zu ein bischen Muflt, wenn die Ladies es 
verlangen follten. Ich kann allerlei blafen — den Dankee-Doodle, 
Heil Columbia, dag Rernbefprentelte Banner und was dergleichen 
Arten mehr find, die man in den Schenken und an der Straße fo 
gerne hört.“ 

Mr. Warren lachte und nahm mir die Flöte aus der Hand, 
um fie näher zu befichtigen. Ich zitterte jet für mein Incognito, 
denn das Inftrument, ein ausgezeichnetes Stüd Arbeit mit ſilber⸗ 
nen Klappen und jchöner Verzierung, war ſchon viele Jahren mein 
Eigenthum. Wenn Patt — wenn meine liebe Großmutter e8 er- 
fannte! Sch würde das fchönfte Gefchmeide in meines Onkels 
Sammlung darum gegeben haben, wenn ich nur die Flöte wieder 
zurüd gehabt hätte. Aber ehe fich hiezu Gelegenheit bot, ging fie 
von Hand zu Hand, und Alles bewunderte das Werkzeug, welchem 
am Morgen die fchönen Töne entlodt worden waren, bis es endlich 
auch an Martha Fam. Das gute Mädchen dachte aber nur an Die 
Schmudfachen, die, wie man fi erinnern wird, ſehr reich und 
theilweife ihr zugedacht waren, weßhalb fie das eSnftrument weiter 
gehen ließ und haftig dazu ſagte: 

„Seht, theure Großmutter, dieß ift die Ziöte, von der Ihr 
erklärtet, fie habe den füßeften Klang, den Euer Ohr je ver- 
nommen. C 

Meine Großmutter nahm die Flöte und gerieth in Berwir- 
rung; fie drüdte die Brille näher an ihre Augen, unterfuchte das 
Inſtrument und erblaßte — denn ihre Wangen hatten noch immer 
Einiges von dem Roth ihrer Jugend bewahrt; dann warf fie mir 
einen haftigen ängftlichen Blid zu. Ich Tonnte bemerken, daß fie 
einige Minuten in ihrem tiefften Innern über Etwas brütete, und 

Zum Glũck waren die Uebrigen zu ſehr mit der Truhe des Hauflrers 


225 


beichäftigt, als daß fie auf die Bewegungen der alten Dame hät- 
ten achten können. Sie ging langfam zur Thüre hinaus, wobei 
fie mich fat mit ihren Kleidern ftreifte, und trat in die Halle. 
Hier wandte fie fih um, fing meinen Blick auf und winkt mir, 
ihr zu folgen. Ich entiprach diefem Signal und ließ mich von ihr 
nad) einem kleinen Gemach in einem der Flügel führen, das, wie 
ich mich noch wohl erinnerte, al8 eine Art von Privatiprechzimmer 
an die Schlafftube meiner Großmutter flieg. Es ein Boudoir zu 
nennen, hieße die Sache karikiren, denn die Möblirung war die 
eines einfachen, netten, gemächlichen Wohnſtübchens, wie man fie 
auf dem Lande findet. Hier jegte fih meine Großmutter auf das 
Sopha nieder, denn fie zitterte dermaßen, daß ſie nicht mehr ſtehen 
konnte; dann warf fie mir mit einer Beklommenheit, die ich ver⸗ 
geblich zu beſchreiben ſuchen würde, einen ernten Bli zu. 

„Haltet mich nicht Länger in der Ungewißheit!“ fagte fie im 
Zone tiefer Ergriffenheit. „Habe ich Recht in meiner Vermuthung?“ 

„sa, meine theuerfte Großmutter, ich bin es jelbft!" antwor- 
tete ich mit meiner natürlichen Stimme. 

Weiter war nicht nöthig. Wir lagen uns gegenfeitig in den 
Armen, wie dieß früher jo oft der Fall geweſen war. 

„Aber wer ift jener Hauflrer, Hugh?" fragte meine Groß- 
mutter nad) einer Weile. „Darf ich an die Möglichkeit glauben, 
daß es mein Sohn Roger iſt?“ 

„Nicht anders; wir ſind hieher gekommen, Euch incognito zu 
beſuchen.“ 

„Und warum dieſe Verkleidung? — hängt fie vielleicht mit 
den jebt berrfchenden Unruhen zufammen?" 

„Allerdings. Wir haben gemünfcht, vom Stand der Dinge 
perfönfichen Augenjchein zu nehmen, und hielten es für unklug, ung 
frei und offen bliden zu laſſen.“ 

„Hieran habt ihr wohl gethan, obſchon ich kaum weiß, wie 
ich euch in euren gegenwärtigen Rollen bewilllommen kann. inter 

Ravensnefl. 15 


226 


feinen Umfländen dürfen eure wirklichen Namen bekannt werden; 
denn die böfen Geifter vom Theerfaß und Federnfad, die Söhne der 
Freiheit und Gleichheit, welche ebenfogut ihre Grundſätze, als ihren 
Muth Eund geben, indem fie in ganzen Haufen ein paar Leute an- 
greifen, würden im Augenblid ein gemaltiges Weſen erheben und 
fih für Helden, und Märtyrer in der Sache der Gerechtigkeit halten, 
wenn fie erführen, daß ihr hier jeid. Ich glaube, zehn gut be- 
waffnete entfchloffene Männer könnten ein ganzes Hundert von die- 
fen Wichten in die Flucht fehlagen, denn fie find fo feig, wie der 
nächtliche Dieb, obfchon fie bei Schwachen und Unbewaffneten die 
Großhänfe fpielen. Aber es ift ein neues Geſetz gegen Verkleidung 
ergangen — glaubt ihr in euren gegenwärtigen Rollen ficher fein 
zu können?“ 

„Wir find nicht bewaffnet und führen nicht einmal eine Piſtole 
bei und. Dieß wird ung ſchützen.“ 

„Ich muß dir leider jagen, Hugh, daß Amerika nicht mehr 
ift, was es fonft war. Die Gerechtigkeit, wenn fie nicht ganz ab- 
handen gekommen ift, muß ſich auf ihre Schwingen und auf die 
Binde vor dem Aug’ berufen, nicht etwa um defwillen, weil fie 
fein Anfehen der Berfon Eennt, fondern um die Thatſache zu bemän- 
teln, daß fie für die ſchwächere Seite blind if. Ein Grundbefitzer 
wiirde meiner Anficht nach von feinem Schwurgericht nicht viel zu 
hoffen haben, wenn er wegen eines Schrittes verklagt würde, den 
fih Tauſende von Pächtern ungeftraft zu Schulden kommen Tießen, 
und täglich zu Schulden kommen laffen. Sa, fie werden fogar ihr 
Unwefen forttreiben, bis einmal irgend eine blutige Kataftrophe den 
allgemeinen Unwillen wedt und jo die öffentlichen Würdenträger zu 
Erfüllung ihrer Pflicht zwingt.” 

„Der Stand der Dinge if höchſt beflagenswerth, theuerfte 
Großmutter, und die Sache wird noch ſchlimmer durch die ruhige 
Gleihgültigkeit, mit der die meiften Menfchen zufehen. Es kann 

Zeinen triftigeren Beleg für die arge Selbſtſucht des menfchlichen 





227 


Weſens geben, als die Art, wie die Mafle des Volks fih benimmt, 
während vor ihren Augen einer Kleinen Anzahl aus ihrer Mitte das 
ſchreiendſte Unrecht geſchieht. 

„Perfonen, wie Mr. Seneka Neweome, würden erwiedern, 
das Bublikum ſympathifire mit dem Armen, der durch den Reichen 
unterdrüdt wird, obſchon Lebterer weiter nichts will, als daß ihn 
der Erftere feiner Habe nicht beraube! Man hört zwar viel von 
den Gewaltthätigkeiten, die durch die ganze Welt von dem Star- 
fen an dem Schwachen geübt werden, aber leider find nur We- 
nige unter ung fcharfblidend genug, um zu fehen, welch’ ein fchla- 
gendes Beifpiel von diefer Wahrheit eben jetzt unter ung felbft 

flattfindet. ” 
„Nennt Shr die Pächter die Starken und Die Grundbefiger Die 
Schwachen?" entgegnete ich. 

„Allerdings. Die Zahlen Hilden die Kraft unferes Landes, in 
welchem alle praktiſche und«großentheils auch die theoretifche Ge- 
malt auf Majoritäten beruht. Wären eben fo viele Grundbefiger 
als Pächter vorhanden, fo fee ich mein Leben daran, daß Niemand 
im gegenwärtigen Stand der Verhältniſſe auch nur die geringfte 
Ungerechtigkeit fehen würde. 

„Mein Onkel ift derfelben Anfiht. Doch ich Höre die leichten 
Fußtritte der Mädchen — wir müffen auf der Hut fein." 

In diefem Augenblide trat Martha, von den drei Übrigen 
Mädchen begleitet, in das Zimmer, und hielt eine ſehr fchöne 
Manillafette in der Hand, die mein Onkel auf der Reife zu einem 
Geſchenk für eine Fünftige Gattin, wer diefelbe auch fein mochte, 
gekauft hatte, Er war fo unvorfichtig gewejen, fle jeinen Mündeln 
‚zu zeigen, und dieſe hatten fogleih Hand daran gelegt. ALS die 
Mädchen eintraten, warfen fie der Reihe nach einen Blid der Ueber⸗ 
raſchung auf mich, ohne übrigens ein Wort zu fprechen, und ich 
kann mir wohl einbilden, wie nach der erften Betroffenheit Seine 
ein Arges Dabei dachte, daß ich allein bei einer achtzigjährigen Frau 

15° 


228 


betroffen wurde, felbft wenn fie in diefem Augenblid Zeit zu der⸗ 
artigen Erwägungen gefunden hätten. 

„Seht doch dieß an, theuerfle Großmama!” rief Patt, beim 
Eintritt in’d Zimmer die Kette erhebend. „Die allerfchönfte Kette, 
die nur je gefertigt wurde, und dazu noch vom reinften Gold. Aber 
der Haufirer will fie nicht verkaufen!" 

„Bielleicht haft du nicht genug geboten, mein Kind. Es if 
in der That eine wunderjchöne Kette. Wie hoch hat er den Werth 
angejchlagen?" 

„Zu hundert Dollars, ſagte er, und ich glaube es gerne, denn 
fie hat faft die Hälfte diejes Werthes in Gold. Wenn nur Hugh 
zu Haufe wäre; ich bin überzeugt, er würde fte ihm fchon ab- 
ſchwatzen und mir ein Geſchenk damit machen.” 

„Nein, nein, junge Lady,” fiel ihr der Haufirer in's Wort, 
welcher ſehr unceremoniös den Mädchen nach dem Zimmer gefolgt _ 
war, obſchon er natürlich recht gut wußte, wohin er Fam; „dieß 
wäre nicht möglich. Die Kette ift das Eigenthum meines Sohnes _ 
da, und ich habe gejchworen, er dürfe fie Riemand anders, als fei- 
ner Frau geben.” 

Patt erröthete ein wenig und verzog den Mund; dann lachte 
fie laut hinaus. 

„Denn fie nur unter diefer Bedingung zu haben ift, fo fürchte 
ih, daß ich nie fo glücklich fein werde, fie zu beſitzen,“ ver- 
fegte fie muthwillig, aber doch in einem Tone, der darauf be- 
rechnet war, daß ich es nicht hören ſollte. „Ich will übrigens die 
hundert Dollars aus meinem eigenen Taſchengeld zahlen, wenn 
man fie darum befommen kann. Legt ein Fürwort für mich ein, 
Großmama!" 

Wie allerliebft der Feine Schelm dieſes Wort der Liebfofung 
ausſprach — fo ganz anders, als das „Pa” und „Ma”, welches 
man unter den Schmußnafen in den Schlammpfühen fo häufig 
hören muß. Aber unjere Großmama war verlegen, denn fie wußte 


229 


wohl, mit wen fie zu thun hatte, und fah natürlich ein, daß hier 
mit Geld nichts auszurichten war. Gleichwohl machte eg der Stand 
der Dinge nöthig, daß fie Etwas fagte, um wenigftens zu thun, 
als wolle fie Patty's Anſprache willfahren. 

„Din ich vielleicht glüdlicher in meinem Berfuh, Euch zu 
Aenderung Eures Sinnes zu bereden?” fagte fie. ihrem Sohn 
einen Blid zuwerfend, der ihn mit einem Male wifen oder we⸗ 
nigftens muthmaßen ließ, daß fie in das Geheimniß eingeweiht 
ſei. „Es würde mir eine große Freude machen, wenn ich im 
Stande wäre, meiner Enkelin mit diefer ſchoͤnen Kette eine Freude 
zu machen.“ 

Onkel Ro trat auf ſeine Mutter zu, ergriff die Hand, welde 
fie ausgeftredt hatte, um die Kette beffer bewundern zu können, 
und küßte fie mit tiefer Achtung; indeß benahm er ſich hiebei doc 
in einer Weife, daß die Zufchauer nur eine europäifche Sitte, nicht 
aber den warmen Gruß, den das Kind feiner Mutter zollt, darin 
erbliden fonnten. 

„Lady,“ erwiederte er mit Nachdruck, „wenn Semand im 
Stande wäre, einen fo lang’ gehegten Entſchluß zum Weichen 
zu bringen, fo würde es zuverläffig eine fo ehrwürdige, an= 
muthige und gute Frau fein, wie Ihr — denn ich bin über- 
zeugt, daß Euch alle diefe Eigenfchaften zufommen. Aber ich 
habe ein Gelübde gethan, die Kette nur der Gattin meines Sohnes 
zu geben, wenn er eines Tages eine hübfche junge Amerikanerin 
heirathet. Aus diefem Grunde muß ich alfo auch Euch gegenüber 
nein fagen.” 

Die liebe Großmutter lächelte; aber da fie der Erklärung ihres 
Sohnes entnahm, die Kette fei wirklich zu einem Gefchenf für meine 
kuͤnftige Gattin beſtimmt, fo wünfchte fie nicht länger, der Gabe 
ein anderes Ziel anzumeifen. Nachdem fie die Kette einige Zeit 
betrachtet hatte, fagte fie zu mir: 

„Wünfcht Ihr dieß eben fo wie Euer On— Vater wollte ich 


230 


"fagen? Es if ein fehr reiches Gefchent, faſt zu reich für einen 

armen Mann.” 

„sa, ja, Lady — Ihr habt hierin Recht; aber wenn einmal 
dag Herz verſchenkt iſt, ſo geht das Gold nur ale wohlfeile Waare 

mit in den Kauf.“ 


Die alte Dame hatte halb Luft, über diefen meinen Verſuch 
in geradbrechtem Englifh mir in's Geficht zu lachen; aber das 
MWohlwollen, die Freude und die Zärtlichkeit, die fich noch immer 
in ihren ſchönen Augen ausfprachen, machten den Wunſch in mir 
rege, mich wieder in ihre Arme zu werfen und fie zu küſſen. Patt 
fuhr noch eine Weile fort, zu ſchmollen; aber bald trug ihr treff- 
liches Wefen den Sieg über die augenblidliche üble Laune davon, 
und das Lächeln brach wieder aus ihrem Antlik hervor ,' wie die 
Maifonne aus einer Wolke. 

„Run, fo muß ich mich eben drein fügen, fagte fie gutmüthig, 
„obſchon es die fchönfte Kette ift, die mir jemals zu Geficht kam.” 

„Sorge nicht, Patty — die paffende Perfon wird eines Tages 
eine eben fo fchöne finden, um fle dir zum Gefchent zu machen,” 
bemerfte Henriette Goldbroofe etwas ſpitzig. 

Diefe Sprache gefiel mir ganz und gar nit. Es war eine 
Anfpielung, die ſich ein gebildetes junges Frauenzimmer nicht hätte 
erlauben follen, am allerwenigften aber vor Andern oder gar vor 
Haufirern. Für ein Frauenzimmer von gutem Ton ſchickt fich dieß 
nun einmal nicht. Don diefem Augenblid an ſchwor ich mir in 
meinem Innern, daß die Kette nie Miß Henriette gehören ſolle, 

-obichon fie ein hübfches flattliches Mädchen war und ein folcher 

ntfhluß von meiner Seite die Plane meines Onkels kläglich zu 
Schanden machte. Ich war ein wenig überrafcht, Patt’d Wange 
von einem leichten Roth überfliegen zu jehen, erinnerte mich aber 
dann an den Mamen des Neifenden Beekman. ALS ich mich gegen 
Dary Barren wandte, bemerkte ich deutlich genug, daß fie unzu- 


231 


frieden war — aber aus Teinem andern Grund, als weil die Hoff: _ 
nung meiner Schwefter getäufcht wurde. 

„Wenn Eure Großmutter nach der Stadt geht, wird fie wohl 
eine andere Kette für Euch auffinden, ob der Ihr diefe vergeflen 
koͤnnt,“ flüfterte fie mit liebevoller Theilnahme meiner Schwefter 
in’s Ohr. 

Patt lächelte und küßte ihre Freundin mit einer Wärme, welche 
mich überzeugte, daß die beiden bezaubernden jungen Weſen ſich 
gegenfeitig innig liebten. Doch die Neugierde meiner theuren alten 
Großmutter war geweckt worden, und fie fühlte jet ein Verlangen, 
fie zu befriedigen. Sie hielt noch immer die Kette in der Hand, 
und als fle diefelbe endlich mir, der ihr zufälligerweife am nächften 
ſtand, zurüdgab, fagte fie: 

„Es ift alfo auch Euer fefter aufrichtiger Entſchluß, Sir, diefe 
Kette Niemand anders, ald Eurer künftigen Gattin zu geben ?" 

„Ja, Lady — oder, wie ich lieber jagen möchte, der Jung- 
frau, ehe fie mit mir an den Altar hätt.” 

„Und ift Eure Wahl ſchon getroffen?” fügte fie bei, nad 
den Mädchen hinfehend, die in einer Gruppe beifammen flanden 
und die übrigen Schmuckſachen meines Onkels mufterten. „Habt 
Ihr die Jungfrau bereits gefunden, welche eine fo ſchöne Kette be— 
fiben ſoll?“ 

„Nein, nein," antwortete ich, ihr Lächeln erwiedernd und gleich- 
falls nach den Mädchen hinblidend. „Es gibt fo viele ſchöne La- : ». 
dies in Amerifa, daß man nicht nöthig hat, fich zu übereilen. In 
guter Zeit wird fich die fchon finden, welche mir beftimmt iſt.“ 

„Großmama,“ unterbrach ung jetzt Patt, „da anders als unter * 
gewiffen Bedingungen Niemand die Kette erwerben kann, fo fe { 
hier drei andere Gegenftände, die ich für Anne, Henrietta And mich 
ausgelejen habe — ein Ring, ein paar Armfpangen und ein paar 
Ohrringe. Zufammen werden fie zweihundert Bollars koſten — 
habt Ihr nichts gegen den Kauf einzuwenden?" 


—— a 
nr 7 


tt.” e” 

7 Da meine Großmutter jetzt wußte, wer der Haufrer war, fo 
begriff fie vollftändig den Stand der ganzen Sache und erhob deß⸗ 
halb Fein Bedenken. Der Handel war bald abgefchloffen, und dann 

... Thidte fie ung Alle aus dem Zimmer, dafür den Borwand be= 

ve nübend, daß wir fie flören würden, während fie mit dem Uhren- 
händler die Rechnung bereinige. Ihr eigentliher Zwed war übris 
gend nur der, daß fie mit ihrem Sohn allein fein wollte, der Leſer 
ann fi denken, daß von Dollars zwijchen ihnen Feine Rede war. 


Eiftes Kapitel. 


% 

„Wie anders jegt! Ein neued Band 
Der Liebe fchlang fi durch mein Leber 
Doch ach, ed ſollt' das holde Pfand 
Geſchwiſterherzen nur verweben. 


Willis. 


Eine halbe Stunde ſpäter ſaßen Onkel Ro und ich am Tiſe 
um unſer Mittagsmahl fo ruhig zu verzehren, als ob wir ung i 
einem Wirthshaus befinden. Der Bediente, welcher die Tafel b 
fchiet hatte, war jchon lange in der Familie und hatte in dieſe 
Haus den gleichen Dienft wohl fchon ein Bierteljahrhundert b 
forgt. Natürlich war er kein Amerikaner von Geburt, denn die 
bleiben nie fo lange in einer untergeordneten Stellung, oder übe 
Haupt in was immer für einer Stellung, welche fo niedrig fteh 
wie die eines Hausdienerd. Sind feine Eigenfchaften fo, daß me 
wünfchen Tann, ihn zu behalten, fo darf er faft mit Sicherhe 
Darauf zählen, daß er in der Welt fein Auskommen findet, un 
ift Diefes nicht der Fall, fo ift Niemand fonderlich daran g 
legen, ob er geht oder bleibt. Die Europäer jedoch find wenig 
regfam und weniger ehrgeizig; es ift daher nichts jo Ungewöhr 
liches, derartige Perfonen geraume Zeit in demfelben Dienfte ; 
finden. So verhielt fih’3 nun auch mit Sohn, der meine Eilter 
als fie von ihrer Hochzeitreife aus Europa zurückkehrten, begleit 
hatte und feit meiner Geburt im Haufe geblieben war. Er ſtamm 
aus England und war nichts weniger als unverihämt genatüen - 


234 


eine ſehr ungewöhnliche Erfcheinung bei einem Dienftbeten aus die⸗ 
ſem Lande, wenn er nad) Amerika verpflanzt wird, da dergleichen 
Perfonen ſonſt durch den plößlichen Uebergang von der Bedrüdung 
ihrer urfprünglicheni Lage zu einem freien Berhältniß in der Regel 
ziemlich übermüthig werden. Bei dem Amerikaner trifft man, wie 
auch die Umflände fich geftalten mögen, felten eine eigentliche Un- 
verfchämtheit. Zwar ift er gleichgültig gegen die Förmlichkeiten des 
Lebens, die er vielleicht gar nicht einmal kennt, nimmt auf die rein 
Eonventionellen Berhältniffe wenig oder gar feine Rüdficht, verfteht 
nicht viel von den Unterfchieden, welche ſelbſt unter den höheren 
Klaſſen feiner eigenen Landsleute flattfinden, und träumt von einer 
Gleichheit auch in Dingen, über die ihn der Augenfchein an der 
eigenen Berfon fowohl, ald an anderen täglich vom Gegentheil be= 
lehren koͤnnte, blos weil er in der Anficht aufgewachſen ift, daß alle 
Menfchen gleiche Rechte hätten, jedenfalls aber weiß er fo wenig 
von einem Drud irgend einer Art, daß er felten eine Neigung 
fühlt, durch Unverfchämtheit hiegegen Nache zu nehmen. 

Obgleih man Zohn in diefer Hinficht Keinen Vorwurf machen 
fonnte, wohnte ihm doch dag feiner Klaffe gewöhnliche Gefühl in, 
jobald er mit Perfonen in Berührung kam, von denen er meinte, 
fie feien nicht beffer, als er ſelbſt. Er hatte den Tiſch mit der 
gewohnten Reinlichkeit und Ordnungsliebe beſchickt und trug die 
Suppe jo regelmäßig auf, wie wenn wir in unferer wahren Eigen- 
Ihaft an der Tafel geſeſſen hätten; dann aber entfernte er fi). 
Wahrfcheinlich erinnerte er fich, daß der Wirth oder der Oberkell⸗ 
ner eines engliſchen Gaſthauſes blos mit der Suppe zu erſcheinen 
pflegt und ſich unfichtbar macht, ſobald dieſe verzehrt iſt. So hielt 
es nun auch Sohn. Sobald er die Schüffel abgetragen hatte, rücte 
er einen Drehtiſch an die Seite meines Onkels, brachte ein Vor⸗ 
legbeſteck herbei, als wollte er jagen: „Jetzt bedient Euch ſelber,“ 
und verließ das Zimmer, Natürlich war unfer Mittagsmahl nicht 
febr auserlefen, weil noch zwei oder drei Stunden zur regelmäßigen 


235 u 


Eſſenszeit fehlten, obihon meine Großmutter zu Patts großer Ver⸗ 
wunderung in meinem Beifein Befehl ertheilt hatte, dag wir mit 
einem oder dem anderen Lederbiffen bedient werden follten. Unter 
die außerordentliche Bewirthung für folhe Säfte gehörte auch der 
Wein; das Auffallende daran ließ fich übrigens einigermaßen durd) 
die empfohlene Qualität erklären, da fie die Weiſung erlaffen hatte, 
ung Rheinwein aufzutifchen. 

Onkel Ro war nicht wenig erflaunt über Johns Verſchwinden, 
denn wenn er in Diefem Zimmer faß, fo war er an das Geficht- 
des alten Dieners fo gewöhnt, daß er fih ohne ihn nur halb zu 
Haufe fühlte. 

„Doch mag der Kerl immer fortbleiben,”" fagte er, die Hand 
von der Stlingelfchnur wieder entfernend, nachdem er letere bereits 
ergriffen hatte, um ihn zurückzurufen; „wir können ohne ihn zwang⸗ 
loſer fprehen. Nun, Hugh, da bift du jebt unter deinem eigenen 
Dach, verzehrft ein Mahl der Barmherzigkeit, und wirft mit einer 
Gaftfreundlichkeit behandelt, als ob nicht Alles, was du in Um⸗ 
freis von zwei Stunden fehen kannſt, dein Eigenthum wäre. Bei- 
läufig muß ich übrigens bemerken, e8 war ein glüdlicher Einfall 
von der Dame, daß fie für und in unferer Eigenfchaft als Deutfche 
diefen Rüdesheimer beftellte! Wie erftaunfich gut fie noch ausfieht, 
Zunge!“ 

„Ja wohl, und ich bin hocherfreut darüber. Ich ſehe nicht ein, 
warum meine Großmutter nicht noch zwanzig Jahre leben ſollte, 
denn auch hiedurch würde ſie noch lange nicht ſo alt wie Sus, der, 
wie ich ſie oft ſagen hörte, ſchon zur Zeit ihrer Geburt in ſeinen 
mittleren Jahren ſtand.“ 

„Du haft Recht; fie kommt mir eher wie eine ältere Schwe⸗ 
fter,, als wie eine Mutter vor, denn fie iſt in der That noch eine 
liebliche alte Frau. Aber wenn die Alten ſchon fo bezaubernd find 
— wir haben aud) einige recht Tiebenswürdige junge Frauenzim- 
mer da; was meint du, Hugh?" 


236 


„Ich bin ganz Eurer Anfiht, Sir, und muß fügen, ich habe 
in langer Zeit nicht zwei fo entzüdende Wefen bei einander geſe— 
hen, wie die find, welche ich hier getroffen.“ 

„Zwei? — hum; man follte meinen, eine Eönnte zureichen. 
Und wenn man fragen darf, wer find denn diefe zwei, Meifter 
Padifchah?“ 

„Natürlich Patt und Mary Warren. Die beiden andern ſind 
auch recht artig, aber dieſe zwei behaupten bei Weitem den 
Vorrang.“ 

Onkel Ro machte ein verdrießliches Geſicht, ſagte aber zur Zeit 
nichts weiter. Das Eſſen iſt ſtets ein guter Vorwand für die Un— 
terbrechung eines Geſprächs, und er tafelte drauf los, als ſei er 
entſchloſſen, feinen Aerger mit hinunterzuſchlingen. Für einen Gent— 
leman iſt's uͤbrigens eine ſchwere Aufgabe, bei Tiſche nichts Ande⸗ 
res zu thun, als zu eſſen, und ſo ſah er ſich endlich genöthigt, die 
Unterhaltung wieder anzuſpinnen. 

„Im Grund fieht doch Alles recht gut hier aus, Hugh,” be— 
merkte mein Onkel. „Die Antirenterd mögen zwar in ihrem Miß- 
brauch von Grundfägen unendlic, viel Schaden gethan haben; indeß 
gewinnt es doch den Anfchein, als od fie in materiellen Dingen noch 
nicht zerftörend eingegriffen hätten.” 

„Damit wäre ihnen fchlecht gedient, Sir. Die Ernten gehö- 
ren ihnen, und da fie die Barmen als Eigenthum zu erhalten 
hoffen, jo wäre e8 kaum weislich von ihnen gehandelt, das zu be- 
Ihädigen, was fie ohne Zweifel fchon jetzt als das Ihrige anzırjehen 
beginnen. Was das Nefthaus, die Gründe, die Farm u. f. w. bee 
trifft, fo find fie wahrjcheinlich gerne geneigt, mir alles dieß noch 
eine Weile zu laffen, vorausgeſetzt, daß fie mir nur das Uebrige 
abfpannen Eönnen.“ 

„Du magft Recht haben — für eine Weile, obgleich es eine 
große Xhorheit wäre, wenn man erwarten wollte, daß man mit 

Zugeflänbniffen ausreichen koͤnne. Wenn fih’S einmal um unge⸗ 


237 


rechte Forderlingen handelt, fo ift der Menſch mit Abtretung eines 
Theils nie zufrieden, jondern wird früher oder fpäter auch das Ganze 
an fich zu bringen ſuchen. Man könnte eben fo gut von dem Za- 
ſchendieb, welcher einen Dollar flahl, erwarten, er werde die Hälfte 
wieder herausgeben. Uebrigens muß ich fagen, daß mir das Aus⸗ 
ſehen des Platzes recht gut gefällt." 

„Um fo beſſer für und. Indeß muß ich, wenn ich mein Ur- 
theil und meinen Gefhmad zu Rathe ziehe, jagen, daß Mary War⸗ 
ren einen günftigeren Eindruck auf mich gemacht hat, als Alles, 
was ich leßter Zeit in Amerika zu Geſicht befam.” 

Ein abermaliges „hum“ bekundete die Unzufriedenheit meines 
Onkels — denn die Bezeichnung wäre zu ſtark, wenn ich Mißver- 
gnügen jagen wollte. Er.griff auf's Neue nach feiner Gabel. 

„Du haft in der That trefflichen Rheinwein in deinem Steller, 
Hugh," nahm Onkel Ro wieder auf, nachdem er eines der befann- 
ten grünen Gläſer geleert hatte. Beiläufig muß ich hier bemerken, 
daß ich nie begreifen Fonnte, warum man den Wein aus Grün 
trinfen mag, da er ſich doch in Kryflallgläfern weit beſſer aus- 
nimmt. „Er muß von dem Vorrath fein, den ich während meines 
Iepten Beſuchs in Deutichland für meine Mutter kaufte." 

„Möge er Euch immerhin wohl befommen, Sir; aber fo viel 
bleibt gewiß, daß er der Schönheit Martha's und ihrer Freundin 
weder Etwas zulegt, noch abnimmt.“ 

„Da du einmal auf ſolche kindiſche Anſpielungen erpicht biſt, 
ſo ſei auch offen gegen mich und ſage mir unverholen, wie dir 
meine Mündel gefallen." 

„Ihr meint natürlih Eure Mündel mit Ausflug meiner 
Schweſter? Ich will fo aufrichtig, als nur immer möglich fein 
und Euch jagen, daß mir in Beziehung auf Miß Marston durch— 
aus Feine Anficht zufteht. Was aber Miß Coldbroofe betrifft, fo 
if fie, was man in Europa ein ‚elegantes‘ Frauenzimmer nen- 
nen würde.” 


238 


„Bon ihrem Geift kannſt du natürlich nichts fagen, Hugh, 
da du noch Feine Gelegenheit hattejt, dir hierüber ein Urtheil zu 
bilden.” 

„Sch gebe zu, daß meine Erfahrung ſehr bejchränft ift. Gleich⸗ 
wohl würde fie mir beffer gefallen haben, wenn fie die Anfpielung 
auf die „paſſende Perfon‘ unterlafien hätte, die eines Tages meiner 
Schwefter eine Kette beforgen fol. Diefer Anfang bat nicht den 
beften Eindrud auf mich gemacht.” 

„Pah, pah, dieß ift eitel Enabenhafte Bedenklichkeit. Ich halte 
fie durchaus nicht für vorlaut oder nafeweis, und deine Deutung 
dürfte tant soit peu gemein fein.“ 

„So verfuht Ihr Euch mit einer Deutung, mon Oncle. Je⸗ 
denfalls hat mir die Bemerkung durchaus nicht zugefagt.” 

„Es nimmt mic niht Wunder, warum junge Männer unver- 
ehelicht bleiben, denn fie werden fogar übertrieben in ihren Lieb⸗ 
habereien und Anfichten.* 

Ein Fremder hätte auf eine ſolche Rede dem alten Junggeſel⸗ 
len fein eigenes Beifpiel entgegenhalten können; aber ich wußte zu 
gut, daß Onkel Ro einmal verlobt geweſen war und den Gegen- 
ftand feiner Neigung durch den Tod verloren hatte. Auch achtete 
ich feine Beftändigkfeit und fein treues Gefühl zu fehr, um mir über 
einen derartigen Gegenfland einen Scherz zu erlauben. Ich glaube, 
daß er die Zartheit meines Schweigens mehr als gewöhnlich zu 
würdigen wußte, denn er legte unmittelbar darauf feine Geneigt- 
heit an den Tag, die Sache auf’ die Leichte Achfel zu nehmen und 
mir dieß dadurch zu beweifen, daß er dem Gefpräch eine andere 
Wendung gab. 

„Wir können heute Nacht nicht hier bleiben, “ fagte er; „denn 
dadurch wären mit einem Male unfere Namen verraten — oder 
vielmehr unfer Name — ein Name, der fonft fo geehrt nnd ge⸗ 
liebt in diefer Gegend war, jet aber ein Gegenfland des Hafles 
geworben if." 


239 


„D nicht doch — fo ſchlimm ſteht's noch nicht. Wir haben 
- nichts gethan, um Haß zu verdienen.” 

„Raison de plus, uns um fo herzlicher zu haſſen. Wenn Leu- 
ten Unrecht gefchiebt, Die nichts verfchuldet haben, um eine folche 
Behandlung zu verdienen, fo fucht der Uebelthäter feine Bosheit 
vor fich ſelbſt dadurch zu rechtfertigen, daß er Allem aufbietet, den 
gefränften Theil noch obendrein zu verläumden ; und je ſchwieriger 
ihm dieß wird, deflo tiefer wurzelt in feinem Innern der Haß. 
Verlaß dich darauf, man kann ung hier auf diefer Stelle, wo wir 
Beide fonft To geliebt waren, aus tiefftem Herzendgrund nicht lei⸗ 
den. So iſt's aber mit der Menfchennatur.” 

In dieſem Augenblid Eehrte John in's Zimmer zurüd, um 
zu feben, ob wir mit unferer Mahlzeit fertig feien, und die 
Löffel und Gabeln zu zählen; denn ich bemerkte, daß der Kerl 
dieß wirklich that. Mein Onkel folgte dem Gang der Gedan- 
Ten, der zur Zeit in feinem Geift übermächtig war, und hielt 
Sohn — etwas unbefonnen, wie mich däuchte — durch e ein Ge⸗ 
ſpräch feſt. 

„Dieſes Gut hier,“ begann er fragend, „iſt — wie ich 
hoͤre — das Eigenthum eines General Littlepage?“ 

„Nicht des Generals. Dieſer war der Gatte von Madame 
Littlepage und iſt längſt todt. Sein Enkel, Mr. Hugh, iſt der 
nunmehrige Eigenthümer.“ 

„Und wo mag wohl dieſer Mr. Hugh ſein? — in der Nähe 
oder nicht?“ 

„Nein, er befindet ſich in Europa — das heißt, in England." 
Sohn meinte, England dede den größten Theil von Europa, ob— 
Ihon er den Wunſch, dahin zurüdzufehren, Längft überwunden hatte, 
„Mr. Hugh und fein Onkel Mr. Roger find gegenwärtig nicht im 
Lande anweſend.“ 

„Dieß ift ein Unglüd, denn wie ich höre, gibt es hier herum 
viel Unruhen, und namentlich macht fich die Inichenfomödie breit.” 


240 


„Sa wohl, und es ift eine Schändlichkeit, daß man ein, folches 
Zreiben gewähren läßt.” 

. „Uber was ift der Grund der großen Aufgeregtheit? Wer hat‘ 
fie verſchuldet?“ 

„Ei, dieß liegt nahe genug, follte ich meinen,” entgegnete 
Sohn, der fich, weil er fo lange ein begünftigter Diener im Haupt- 
quartier gewejen war, fich felbft für eine Art von Kabinetsminifter 
hielt und einen Gefallen daran fand, feine Weisheit zur Schau zu 
ftellen. „Die Pächter auf diefem Befigthum möchten geme Grund- 
herren fein, und da dieß nicht angeht, fo lange Mr. Hugh lebt und 
jeine Einwilligung nicht gibt, fo verfuchen ſie's eben mit allen mög«- 
lihen Planen und Entwürfen, um ven Leuten dur) Einfchüchterung 
die Luft an ihrem Eigenthum zu entleiden. Ich komme nie in's 
Dorf hinunter, ohne mit einigen von den Bewohnern zu fprechen, 
und da fage ich ihnen denn Wahrheiten, die ihnen gut thun kön- 
nen, wenn überhaupt bei diefem Volke noch etwas verfängt.” 

„Und was fagt Ihr ihnen? Mit was für Leuten ſprecht Ihr, 
denen Eure Wahrheiten Nutzen bringen könnten?" 

„Se nun, ſeht Shr, ich unterhalte mich hauptfächlich mit einem 
gewiffen Squire Newcome, wie man ihn nennt, obſchon ihm eben 
fo wenig der Titel eines Squire- gebührt, als Ihr auf diefe Be- 
zeichnung Anspruch machen werdet, da er nur fo eine Art Attors 
ney ift, wie man ihrer viele in diefem Lande hat. Ihr fommt aus 
der alten Welt, glaube ich?" 

„sa, ja — wir kommen aus Tſcharmany; Ihr könnt aljo fa- 
gen, was Euch beliebt.” 

„Denn man die Wahrheit fagen fol — e8 gipt Euriofe Squires 
in diefem heil der Welt. Denn dieß gehört nicht hieher, obſchon 
ich diefem Mr. Senefa Neweome fo gut Heimgebe, als er austheilt. 
Was wollt Ihr denn eigentlich? fage ich zu ihm. Ihr koͤnnt nicht 
Ale Srundherren fein, denn es muß auch Pächter geben; und wenn 
ihr Feine Pächter fein wollt, wer Tann euch dazu zwingen, es zu 


241 


bleiben? Amerika hat Land in Menge und noch dazu wohlfeiles 
Land. Warum habt ihr euch nicht von Anfang an liegendes 
Eigenthum erworben und feid hieher gefommen, um euch auf Mr. 
Hugh's Ländereien anzufieveln? Und nun ihr euch eingepachtet 
habt — wozu aud die Händel über eine Sache, die nur bon 
eurem freien Willen abhing ?" 

„Dieß war eine fehr gute Bemerkung. Und was hat der 
Squire darauf erwiedert ?" 

„Oh, Anfangs fchwieg er mäuschenſtille darauf; Dann aber 
fagte er, als in alten Zeiten die Leute dieſe Ländereien pachteten, 
hätten fie ſich nicht fo gut auf ihren Vortheil verftanden, wie Dieß 
heutigen Tags der Fall fei, fonft würden fie es unterlaffen haben.” 

„Und Ihr konntet hierauf antworten, oder kam jegt Die Reihe 
an Eu mäuschenftille zu fein?" 

„Nein, ich hab's ihm wieder tüchtig gegeben, wie man zu fagen 
pflegt. Sag’ ich zu ihm, wie kömmt dieß, fage ich — ihr thut 
immer fo di mit eurer amerikanischen Gefcheidtheit — und wie 
das Bolt Alles wiſſe, was zu gefchehen habe, ſowohl in der Politik, 
als in der Religion. Ihr jchreit nah und fern aus, eure Freifaflen 
feien das Salz der Erde, und doch wißt ihr nicht einmal, wie ihr 
eure Pachtverträge abfchließen müßt. Eine faubere Art von Weis— 
heit, fagte ich. Und da hatt’ ich ihn; denn das Volk in der ganzen 
Umgegend ift nur zu pfiffig, wenn der Handel mit in's Spiel kömmt.“ 

„Hat diefer Herr Squire Neweome zugeftanden, daß das Recht 
auf Eurer Seite fei und dag er Unrecht habe?" 

„Bei Leibe nicht; er gefteht nie etwas ein, was gegen feine 
eigene Doktrin geht, es müßte denn unwiſſender Weiſe gejchehen. 
Aber ich habe Euch noch nicht halb genug mitgetheilt. Ich fagte 
ibm, fag’ ich, wie mögt ihr nur davon fprechen, daß einer von 
der Littlepager Familie euch betrüge, während ihr Doch recht wohl 
wißt, daß euch das Wort eines Angehörigen derfelben Familie weit 

fieber ift, fage ich, als wenn euch ein anderer Leib und Seele ner- 
Ravensneft. AR 


242 


ſchreibt. Ihr wißt, Sir, e8 muß ein erbärmlicher Grundherr fein, 
mit deffen Wort fich nicht ein Pächter gerne begnügen könnte und 
würde. Man weiß wohl, daß all’ dieß buchftäbliche Wahrheit if, 
denn ein Gentleman mit einem fchönen Befigthum ift über die 
Berfuhung erhaben und ſetzt einen Stolz darein, zu thun, was 
recht und honett iſt. Sch bin daher der Anficht, daß es gut fei, 
einige folcher Leute im Land zu haben, wenn's auch nur wäre, daß 
die Schlechten nicht ganz und gar in ihre Schuhe treten.” 

„Und al’ dieß habt Ihr dem Squire gefagt?” 

„Nein, dieß fage ich nur zu euch Zweien, weil wir da eben 
in freundlicher Weife miteinander reden. Aber fein Menſch darf 
fih ſchämen, es überall auszufagen, denn es ift fo wahr wie die 
Bibel. Sage ih zu ihm: Newcome, fage ich, Ihr, der Ihr fo 
fang auf dem Eigenthum der Littlepage's gelebt habt, folltet Euch 
ſchaͤmen, fie ausziehen zu wollen. Könnt Ihr nicht damit zufrieden 
fein, daß Ihr Gentlemen fo ganz und gar in den Hintergrund 
drängt, indem Ihr alle Aemter an Euch reißt und alle öffentlichen 
Gelder, an die Ihr Hand legen könnt, in den eigenen Nutzen ver⸗ 
wendet? Müßt Ihr fie auch noch mit Füßen treten, fage ih, und 
dadurch für das, was Ihr feid, Rache an ihnen nehmen? fage ich.” 

„Ei, mein Freund,” entgegnete mein Onkel, „Ihr feid fehr 
dreift gewejen, daß Ihr es wagtet, ven Leuten alles Dieß hier zu 
Land zu jagen, wo, wie ich höre, Niemand ſich frei ausiprechen 
darf, wenn in feinen Gedanken etwa allzuviel Wahrheit liegt." 

„Sa, dieß iſt's — dieß iſt's; ich merke ſchon, daß Ihr ſchnell 
lernt. Ich ſagte dieß Mr. Newcome, ſagte ich, — Ihr ſeid Ted 
genug, über Könige und Adelige zu ſchimpfen, denn Ihr wißt gar 
wohl, fage ich, daß fie über taufend Stunden von Euch weg find, 
und Euch nichts anhaben können. So weit erfühntet Ihr Euch 
aber nicht, um vor Euren Herren, dem Volk, aufzutreten und ihm 
zu fagen, was Ihr wirklich von ihnen denft und was ih Cuch 
unter vier Augen auch ausiprechen hörte. Ja, Ihr würdet eben 


243 


fo gern Eiern Kopf vor eine Kanonenmündung hinhalten, wenn 
der Kanonier bereit mit der Lunte ausgeholt hat. Oh, ich hab’s 
ihm hingefagt — darauf Eönnt Ihr Euch verlaſſen!“ 
Obgleich in dieſer Logik und Denkweiſe ein ſtarker Beigeſchmack 
som engliſchen Bedienten ſich ausſprach, Tag doch in feinen Be- 
wmerkungen viel Wahrheit. Namentlich ift diejenige, in welcher er 
Meweome befchuldigte, er behalte jenen Theil feiner Anfichten, die 
ſeine Gebieter betreffen, für fi, während er die übrigen der 
Deffentlichkeit preisgebe, aus dem Leben gegriffen. Durch das 
ganze weite Bereich der amerifanifchen Staaten gibt es in diefem 
Augenblide nicht einen einzigen Demagogen, welchen nicht mit 
Recht Die nämliche Täufhung zum Vorwurf gemacht werden könnte. 
Diejelben Berfonen, welche jetzt im Lande vor dem Volt kriechen, 
um ihre jelbffüchtigen Zwede zu erreichen, würden in einer Mon» 
archie nicht nur die demüthigften Verfechter der Sewalthaber fein, 
jondern fogar feinen Anftand nehmen, zu den Füßen Derjenigen 
niederzufnieen, welche dem Herricher nahe ſtehen. Im gegenwär- 
tigen Augenblick iftunter‘ ung Fein einziger mit Macht befleideter 
Mann (jei er nun Senator oder Gefebgeber), der nicht — wäh 
rend er jet die fogenannten Rechte der Pächter vertheidigt und 
dabei von allen Grundfäben des Gewiflens und der Gefebgebung 
abgeht, um die Antirenterd durch außerordentliche Zugeftändniffe 
zu befchwichtigen — unter einem monarchiſchen Syftem laut nad) 
der Beihilfe des Schwertes und des Bajonettes fchreien würde, um 
(wie e8 dann heißen würde) „der räubertfchen Gier ‚eines mißver- 
gnügten Haufens ein Ziel zu feben, welcher das Eigenthum An⸗ 
derer an fich reißen möchte, ohne dafür Zahlung zu leiſten.“ 
Alles Dieß ift eine unumftößfihe Wahrheit, denn ſie beruht 
auf einem umwandelbaren inneren Geſetz. Jeder, welcher von dem 
wahren Charakter der öffentlichen Perfonen, welche er zu unter- 
ſtützen oder zu bekämpfen aufgefordert wird, ein richtiges Bild ge⸗ 
winnen will, hat jebt Gelegenheit dazu; denn dieſe Ehrenminmer 


16* 


ſtehen nunmehr vor einem Spiegel, der fie in allen ihren Berhältuiffen 
wieder gibt, und in den auch das blödefte Auge nur einen Blid zu 
werfen braucht, um fie von Kopf bis zu den Füßen zu überjehen. 

Meine Großmutter trat jet ein und Johns Redjeligkeit wurde 
unterbrochen. Sie ertheilte ihm einen Auftrag, um ihn aus dem 
Zimmer zu entfernen, und nun erfuhr ich den Zwed ihres Befuchs. 
Meine Schwefter war mit in das Geheimniß unferer Verkleidung 
gezogen worden und brannte vor Verlangen, mic) zu umarmen. 
Meine liebe Großmutter hatte die Sache bei fi) erwogen und 
war zu dem volllommen richtigen Schluß gelangt, daß es im höch⸗ 
fien Grade Tieblo8 fein würde, wenn man Patt über unfere An⸗ 
wefenheit im Ungewiflen laſſen wollte, und fobald einmal die That- 
fache enthüllt war, jo machte die Natur ihre Sehnfucht geltend, 
die natürlich befriedigt werden wußte. Hatte ich mich doch ſelbſt 
auch diefen Morgen wohl zwanzigmal verjucht gefühlt, Patt an 
meine Bruft zu drüden und fie zu Eüffen, wie ich fo oft zu thun 
pflegte, als mir der Bart zu fprofien begann und fie kindiſch ſich 
darüber bejchwerte. Es mußte daher jet eine Einleitung getroffen 
werden, wie eine Begegnung unter ung flattfinden Eonnte, ohne 
daß der Argwohn anderer Perfonen gewedt wurde. Meine Groß- 
mutter hatte hiefür ſchon ihre Anftalten getroffen und theilte uns 
jegt diejelben mit. 

Reben Martha's Schlafgemach befand fih ein Eleines Ankleide- 
zimmer, in welchem die Zuſammenkunft flattfinden follte. 

„Sie ift jegt mit Mary Warren dort und erwartet dein Er- 
iheinen, Hugh — —" 

„Mary Warren?” entgegnete ih. „Weiß fie aljo gleichfalls, 
wer ih bin?" 

„Richt im Geringften. Sie hat keinen andern Gedanken, als 
Daß du ein junger Deutfcher von guter Herkunft und Erziehung 
feieft, der durch politifche Zerwürfnifie aus feinem Vaterlande ver- 
Srieben wurbe und duch feine Lage genöthigt if, aus feinem. 


245 


muflkalifchen Talent Vortheil zu ziehen, bis er irgendwo ein beffe- 
res Unterkommen finden kann. Alles dieß hat fie ung ſchon mitge- 
theift, ehe wir mit dir zufammentrafen, und du brauchft nicht eitel 
zu werden, Hugh, wenn ich beifüge, daß dein wermeintliches Un 
glüd dein gutes Flötenfpiel und dein anftändiges Benehmen dir 
die Freundfchaft eines der beften und edelften Mädchen gewonnen 
haben, die mir je ein günftiges Gefchid in den Weg führte. Ich 
fage, dein anftändiges Benehmen, denn vorderhand kann nicht 
viel auf Rechnung deines guten Ausſehens gefchrieben werden." 

„Ih will doch nicht hoffen, daß ich in Diefer Verkleidung 
wirklich abſchreckend ausſehe. Um meiner Schweſter willen — — 

Das herzliche Lachen meiner lieben alten Großmutter verdroß 
mich, und ich ſagte nichts mehr, obſchon ich glaube, daß ich über 
meine eigene Thorheit ein wenig erroͤthete. Auch Onkel Ro ſtimmte 
in ihre Heiterkeit ein; zugleich aber konnte ich ſehen, daß er Mary 
Barren mit ihrem Vater wohlbehalten über alle Berge wünfchte, 
fintemal ihm es lieber geweſen wäre, ver Letztere ſäße als Erz- 
bifchof von Banterbury in England, als daß er durch feine An- 
wefenheit in Amerika einen feiner Lieblingsplane Ereuzte. Ich muß 
geftehen, daß ich mich fehr ob der Schwäche ſchämte, die ich eben 
fund gegeben hatte. 

„Du ftehft fo übel nicht aus, Tieber Hugh," fuhr meine Groß- 
mutter fort, „objchon ich glauben muß, du würdeft intereffanter 
fein, wenn du dein eigened Lodenhaar und nicht diefe fchlichte 
Perücke trügeft. Gleichwohl kann man von deinem Geficht genug 
fehen, um es zu erkennen, wenn man einmal den Schlüffel dazu 
hat, und ich fagte Martha von Anfang an, ich fei betroffen gewefen 
über einen gewiſſen Ausdrud der Augen und über ein Lächeln, das 
mid an ihren Bruder erinnerte. Doh Mary und Martha harren 
deiner in dem Ankleidezimmer. Erftere tft eine warme Freundin 
von der Muſik, in der fie felbft auch große Geſchicklichkeit befikt; 
es ift daher Fein Wunder, wenn fie Durch dein Flötenjpiel hin⸗ 


246 


geriffen wurde. Sie hat uns von deiner Kunft fo viel erzählt, 
daß unfer Wunſch, dich noch einmal zu hören, wohl gerechtfertigt 
ericheint. Henrietta und Anne, die fich nicht fo viel aus der Muſik 
machen, find mit einander fortgegangen, um in dem Gewächshaus 
fi Blumenfträuße zu fammeln, und die Gelegenheit ift jept fehr 
günflig, der Sehnfucht deiner Schwefter zu entfprechen. Ich merde 
e8 ſchon einzuleiten willen, daß Mary nach einer Weile mit mir 
fortgeht, und dann könnt ihre beide euren gefchwifterlichen Ergie⸗ 
Bungen Raum geben. Was dich betrifft, Roger, jo brauchſt du nur 
deine Truhe wieder zu öffnen, und ich ftehe dir dafür, dieß wird 
deine andern Mündel in vollem Maaß beſchäftigen, falls fie zu 
früh von ihrem Befuch bei dem Gärtner zurückkommen follten.” 

Unfere Mahlzeit war vorüber, und nach Erxtheilung der er- 
forderlichen Weifungen fchieten wir ung an, ven Plan in der ber 
ſprochenen Weife zur Ausführung zu bringen. Als ich jedoch mit 
meiner Großmutter das Ankleidezimmer erreichte, traf ich Martha 
nicht, fondern nur Mary Warren, die ung mit leuchtenden Augen 
und voll froher Erwartung empfing. Meine Schweiter hatte fich 
für einen Augenblid nah dem innen Zimmer zurüdgezogen, wo⸗ 
hin ihr meine Großmutter, weil fie die Wahrheit ahnete, folgte. 
Wie ich fpäter erfuhr, hatte fih Martha, weil fie fürchtete, bei 
meinem Eintritte ihre Thränen nicht zurüdhalten zu können, ent= 
fernt, um fich fo weit zu fanmeln, daß durd) ihr Benehmen un- 
jerem Geheimniß feine Gefahr drohe, Ich wurde aufgefordert, eine 
Arie zu beginnen, ohne auf die abweiende junge Dane zu warten, 
weil man die Töne leicht durch die offene Thüre hören Eönne. 

Ich mußte wohl zehn Minuten fortfpielen, ehe meine Groß- 
mutter mit Martha wieder herausfam. Es war Elar, daß fie ge- 
weint hatten; aber Mary Warren war von der Harmonie meiner 
Flöte fo jehr in Anfpruch genommen, daß fie wahrfcheinlich diefen 
Umftand nicht bemerkte, obfchon er mir augenblidlich auffiel. Id) 
freute mich übrigens, zu finden, daß es meiner Schwefter gelungen 


247 


war, ihre Gefühle zu bewältigen. Nach einigen Minuten benüßte 
meine Großmutter eine Paufe, um fich zu erheben und Mary 
Barren mit fortzunehmen, obgleich Leptere das Zimmer nur mit 
ſichtlichem Widerftreben verließ. Der Vorwand, welcher dafür 
geltend gemacht wurde, betraf eine Zujage an den Geiftlichen, 
welchen man in der Bibliothek über eine Angelegenheit, die mit 
den Sonntagsichulen in Verbindung ſtand, fprechen wollte. 

„Der junge Mann foll dir noch eine Arie fpielen, Martha,” 
bemerkte meine Großmutter. „Ih Eomme an Jane's Zimmer vor- 
bei und werde fie unverzüglich herſchicken.“ 

Jane war die Garderobejungfer meiner Schwefter und hatte 
ihr Zimmer ganz in der Nähe. Auch kann ich mir wohl denken, 
daß meine Großmutter im Beifein Mary Warren’s fogleich die 
betreffende Weifung ertheilte, weil diefe ſonſt das Auffallende des 
ganzen Benehmens hätte überrafchen müſſen; aber Jane erfchien 
gleichwohl nicht. Was mich betraf, jo fpielte ich fo lange fort, 
als ich glaubte, daß ein Ohr nahe genug fei, um mich hören zu 
fönnen; dann aber legte ic) meine Flöte bei Seite. Im nächften 
Augenblid lag Patt in meinen Armen und weinte geraume Zeit 
an meiner Bruft; aber ihrem Gefichte war anzufehen, daß fie fich 
unausfprechlich glüclich fühlte. 

„D Hugh! wie mochteft Du auch in folcher Verkleidung dein 
Haus beſuchen!“ rief fie, jobald fie fich hinreichend gefammelt 
hatte, um Worte zu finden. 

„Wie hätte ich es anders möglich machen können? Du kennſt 
den Zuftand des Landes und die koſtbaren Früchte, welche unfer 
vielgepriefener Baum der Freiheit hervorbringt. Ter Befiker des 
Grund und Bodens kann fein Eigenthum nur mit Gefahr ſeines 
Lebens beſuchen!“ 

Martha drückte mich in ihre Arme und bekundete in der Art, 
wie fie dieß that, daß fie recht wohl die Gefahr kannte, welcher 
ich mich ausfebte, felbft wenn ich fie in einer Verkleidung befuchte, 


245 


Dann nahmen wir Seite an Seite auf einem Heinen Divan Plab 
und unterhielten ung über Dinge, die natürlich ein paar Geſchwi⸗ 
fiern, welche ſich fo fehr liebten und fünf Jahre getrennt gewefen 
waren, zunähft am Herzen liegen mußten. Meine Großmutter 
hatte Alles jo gut eingeleitet, daB wir, wenn wir es für paflend 
hielten, wohl eine Stunde ungefört bei einander bleiben Tonnten, 
während es allen Mebrigen gegenüber den Anſchein gewann, als 
habe mich Patt ſchon nad) einigen Minuten entlafien. 

„Nicht eines von den übrigen Mädchen hat auch nur die min» 
defie Ahnung, wer du ſeieſt,“ jagte Martha lächelnd, nachdem 
wir die Fragen und Antworten durchgemacht hatten, weldhe für 
unfere Zage jo natürlich waren. „Bon Henrietta nimmt mic) dieß 
am meitten Wunder, da fie fi) fo viel auf ihren Scharfblid zu 
Gute thut. Sie ift übrigens eben fo fehr im Dunkeln, wie die 
Uebrigen.“ 

„Und Miß Mary Warren — die junge Dame, welche eben daß 
Zimmer verlaffen hat — fchwebt ihr nicht eine Eleine Ahnung 
vor, daß ic) fein gewöhnlicher deutfcher Muſikant ſei?“ 

Patt lachte auf meine Frage mit folder Heiterkeit, daß. Die 
Zöne ihrer füßen Stimme mich mit Entzüden erfüllten. Ich fellte 
zugleich Betrachtungen an, was fie vor fünf Jahren noch gewejen 
war, und fie ftrich fich die blonden Haarflechten aus den Wangen, 
ehe fie mir antwortete. 

„Nein, Hugh," verfehte fie, „fie hält dich für einen unge- 
wöhnlichen deutfchen Muſikanten — für einen Künftler, der feine 
Muſik nicht blos herleiert, fondern fie in einer Weife aufzuftußen 
weiß, daß fie felbft dem gewählteften Geſchmack geniepbar wird. 
Aber wie kam Mary dazu, dich und meinen Onfel für ein paar 
verunglüdte deutfche Gentlemen zu halten?” 

„And glaubt das liebe Mädchen wirklich — das heißt, er- 
weist und Miß Mary Warren die Ehren, uns in diefem Lichte zu 
betrachten 2" 


249 


„Sa, gewiß, und fie erzählte ung viel von euch, nachdem fie 
wieder in der Heimath angelangt war. Henrietta und Anne haben 
fih über Miß Warren's großes Incognito fehr luftig gemacht und 
allerlei Muthmaßungen darauf gebaut. Sie nennen dich den Her- 
zog von Geige." 

„Ich din ihnen dafür fehr zu Dank verpflichtet," entgegnete 
ih, wahrjcheinlich mit ein Bischen allzugroßer Schärfe, denn ich 
nahm an Patt die Miene der Ueberrafhung wahr. „Aber eure 
ameritanifchen Städte find gerade die rechten Halbheiten, um junge 
Frauenzimmer zu verderben, indem fie nicht nur weit hinter der 
feinen Bildung zurücdbleiben, weldhe man in wirklichen Haupt- 
fädten findet, fondern auch jene Zierde des Landlebens, die Ein- 
fachheit und das natürliche Weſen zerftören. ” 

„Ei, Meifter Hugh, du bift ja jehr aufgebracht über eine 
Kleinigkeit, und in deinen Reden machſt du deiner Schwefter kein 
fonderlihes Kompliment. Warum follten Deine amerikanifchen 
Städte nit eben fo gut fein, als die unfrigen? Oder gehörft 
du nicht Tänger ung an?” 

„Dir immer, meine theure Patt; aber von jenen plappernden 
Jungfern mit ihren Geigenherzogen will ich nichts wiſſen, finte- 
mal ihr ganzer Lebenszwed nur darin befteht, für eine Belle zu 
gelten! Doch genug hievon — die Warren’s find dir werth?“ 

„Gewiß — Vater und Tochter. Der Erftere ift ganz, wie ein 
Geiftlicher fein foll — von einer Bildung und Einficht, die ihn 
für Sedermann zu einem angenehmen Gejellichafter machen, und 
dabei fo einfach wie ein Kind. Du erinnerft dich feines Vor⸗ 
fahrers — jenes unzufriedenen, eigennüßigen, trägen, tadelfüch- 
tigen Mannes, dem nichts genug war und der weder den ‘Berfonen, 
noch den Dingen in feiner Umgebung Gerechtigkeit widerfahren 
laſſen konnte, während er doch zu gleicher Zeit ff — —“ 

„Fahre nur fort. So weit haft du feinen Charakter trefflich 
gezeichnet — ich möchte auch den Reft hören.“ 


250 
Ich babe ſchen mehr geifan, als id ſollte, Denn ich Tamm 


„Du haft hierin vielleicht recht. Wr. Barren if bir alſo 
lieber, als fein Borgänger ?” 

„D, taujendmal und in allen Dingen. Abgefehen davon, daß 
er ein treuer, frommer Hirte if, haben wir in ihm auch einen 
angenehmen gebildeten Nachbar, aus defien Munde ich im Lauf der 
fünf Jahre, die er hier verweilt, aud) nicht eine Sylbe auf Koften 
eines einzelnen Rebenmenichen gehört habe. Du weißt, wie hier 
zu Lande die Leute und die übrigen Geiſtlichen gewöhnlich find — 
fie leben, wenn's auch nicht gerade zu wirklihem Hader kommt, 
doch ſtets mit einander auf Spik und Knopf, und der Friede ift 
fo Hohl, daß er durch eine Kleinigkeit zum Einfurz fommen kann.” 

„Dieß ift leider nur zu wahr — oder war es wenigftens, ehe 
ih meine Reifen antrat. 

„Und ich ſtehe dir dafür, es if um kein Haar befier geworden, 
obſchon wir uns hier nicht zu beklagen haben. Mr. Barren und 
Mr. Bel fcheinen mit einander auf vollfommen freundichaftlichem 
Zuße zu flehen, obſchon fie wie Feuer und Wafler von einander 
verfchieden find.” 

„Deiläufig, wie benehmen ſich die Geiftlichen der verſchiedenen 
Sekten, die durch das Land verbreitet find, in Betreff der Anti⸗ 
rentenfrage ? +" 

„sh Kann da nur vom Hörenfagen ſprechen — natürlich mit 
Ausnahme des Mr. Warren. Diefer hat zwei oder drei einfache 
und firenge Predigten über die Pflicht der Ehrlichkeit in unjerem 
weltlichen Verkehr gehalten und in einer derfelben das zehnte Ge⸗ 
bot erklärt. Natürlich bezog er fich nicht auf die herrfchenden Un⸗ 


251 


ruhen, aber Zedermann mußte nothwendig aus den offen daliegen- 
den Wahrheiten, welche er zur Sprache brachte, feine Nutzanwen⸗ 
dung ziehen. Ich glaube kaum, daß fich nah und fern auch nur 
eine einzige weitere Stimme fiber diefen Gegenſtand erhoben hat, 
obſchon id von Mr. Warren erfuhr, die Bewegung bedrohe New⸗ 
Mork mit weit größerer Entfittlihung, als irgend ein anderes 
feiner Erlebniſſe. 

„Und der Mann im Dorf drunten?” 

„Dh, diefer hält es natürlich mit der Mehrheit. Wann hätte 
man auch je erlebt, daß ein Menſch von diefem Schlag fih in 
irgend etwas feinem Pfarrgenoffen widerſetzt hätte!” 

„Und Mary beſitzt eben fo gefunde und edle Grundfäge, wie 
ihr Vater?” 

„Ganz diefelben. Es ift übrigens letzter Zeit viel Davon ges 
fprechen worden, daß es nöthig fei, M. Warren zu entfernen 
und ihm das Rektorat von St. Andrew's abzunehmen, weil er 
gegen die Habfucht gepredigt habe. Dem Vernehmen nad) fagen 
alle Antirenters, fle wiffen wohl, daß er fie gemeint habe, und 
fie wollen dieß nicht auf fich liegen laſſen.“ 

„Sch Kann mir's denken, denn Jeder mußte fich vorftellen, er 
felbft jei bei Namen aufgerufen worden. Dieß ift jo die Art und 
Weiſe, wenn das Gewiffen zu wirken anfängt.” 

„Es würde mir ſchmerzlich leid thun, wenn ich mid) von Mary 
trennen müßte, und ich würde es faft eben jo jehr bedauern, wenn 
uns ihr Vater verliege. Es ift übrigens ein Punkt vorhanden, 
von dem Mr. Warren felbft glaubt, daß es gut wäre, wenn wir 
ihn befeitigten, Hugh; ich meine jenen Borfprung über unjerem 
Kicchenftuhl, den wir ja abtragen lafien können. Du haft gar 
feinen Begriff, welchen Lärm diefes einfältige Dach landauf landab 
angerichtet hat.” 

„Nein, ich werde es nicht wegfchaffen. Es ift mein Eigen- 
thum und foll es bleiben. Was die Sache felbft betrifft, jo war 


252 


es nicht paffend, eine derartige weltliche Auszeichnung in der Kirche 
anzubringen, und ich will dieß gern zugeben; aber der Borfprung 
hat nie Anftoß erregt, bis man auf den Wahn Fam, das Gefchrei 
dagegen koͤnne dazu beitragen, mich um den halben Preis oder gar 
ohne Entſchädigung, wie e8 eben fommen mag, meiner Ländereien 
zu berauben.“ 

„Du haft vielleicht hierin vollkommen recht; aber wenn er ein- 
‚mal für eine Kirche nicht paßt, warum ihn dann beibehalten?” 

„Weil ih mir das, was ich als mein Eigenthum anfprechen 
fann, nicht abtrogen laffen will, felbft wenn mir noch fo wenig 
daran gelegen if. Es gab vielleicht eine Zeit, in welcher eine 
derartige Bedahung nicht für das Haus Gottes paßte — nämlich) 
damals, als Diejenigen, welche fie fahen, auf den Glauben tommen 
fonnten, e8 bedede das Haupt eines Nebenmenſchen, welcher an das 
Wohlgefallen Gottes höhere Anfprüche habe, als fie felbft; heut— 
zutage aber fchätt man das Berdienft, indem man mit dem andern 
Ende der gefelligen Stufenleiter den Anfang macht, und es tft 
deßhalb wenig Gefahr vorhanden, daß irgend Jemand in einen 
Irthum verfalle. So wenig mir auch an dem Vorfprung liegt, fo 
joll er doch ftehen bleiben. Zwar wäre e8 mir lieber, ihn fortzu= 
Ihaffen, weil ich volltommen einfehe, wie unpaflend es. ift, tm 
Zempel des Herrn derartige Unterſcheidungsmerkmale anzubringen; 
aber er darf nicht wegkommen, bis die Zugeftändniffe aufhören, 
er könne gefährlich fein. Ich habe Eigenthumsrechte daran und 
werde diefe feftgalten. Sind Andere unzufrieden darüber, jo mögen 
fie auch Dächer über ihre Kirchenftühle machen, und der befte 
Probierftein in einer derartigen Sache ift das, zu warten, wer es 
am längften treibt. Senefa Newcome z. B. würde eine feltfame 
Figur machen, wenn er in einem bedachten Kirchenftuhl fäße. So⸗ 
gar fein eigener Anhang würde ihn verlachen, und dieß will, meine 
ich, mehr heißen, als fle fih mir gegenüber getrauen.“ 

Martha machte eine unzufriedene Miene, ließ aber den Gegen⸗ 


253 


ftand fallen. Zunächft befprachen wir und nun über unfere Heinen 
Privatangelegenheiten, wobei allerlei Unbedeutendes verhandelt 
wurde. 

„Und wen ift jene fchöne Kette zugedacht, Hugh?" fragte 
Patt lachend. „Ich glaube jet gerne den Worten des Hauflrers, 
als er jagte, fie fei deiner Tünftigen Gattin vorbehalten. Aber 
wer wird diefe fein — foll fie Henrietta oder Anne heißen?“ 

„Warum fragft du nicht auch, ob ihr Name nicht vielleicht 
Mary fein würde? — warum eine von deinen Sreundinnen aus⸗ 
ſchließen, während du der beiden andern Erwähnung thuſt?“ 

Patt war betroffen, denn diefe Exrwiederung ſchien fie nicht 
erwartet zu haben. Ihre Wangen glühten, und ich bemerkte, daß 
Die Freude in ihren Gefühlen vorherrfchend war. 

„Komme ich vielleicht zu fpät, um dieſes Kleinod mit meiner 
Kette in Verbindung zu bringen?” fragte ich halb im Scherz, 
halb im Ernft. 

„Zu früh wenigftens, um es durch den Reichthum und die 
Schönheit deines Zieraths zu fefleln. Es gibt im ganzen Lande Fein 
‚ Natürlicheres und uneigennüßigeres Mädchen, als Mary Warren.“ 

„Sei offen gegen mich, Martha, und fprich dich unverhofen 
aus, Hat fie irgend einen begünftigten Bewerber?” 

„Sn der That, du fcheinft die Sache ernfthaft zu nehmen!" 
rief meine Schwefter lachend. „Aber um dich aus deinen Nöthen 
zu erlöfen, will ich dir antworten: dab ich nur von einem ein- 
zigen weiß. Einer ift zuverläffig vorhanden, oder der weibliche 
Scharffinn müßte ſich ganz und gar auf einem Irrwege befinden.” 

„Aber ift diefer Eine begünftigt? Du kannſt nicht glauben, 
wie viel für mich von deiner Erwiederung abhängt." 

„Du magft dir felbft ein Urtheil darkber bilden. Der Freier 
it Seneky Neweome, wie er hier herum genannt ift — der Bruder 
der bezaubernden Opportunity, welche e8 noch immer auf Dich ab⸗ 
geſehen hat." 


254 


„Und fie find fo wilde Antirenterd, als e8 nur irgend ein 
Mann oder ein Weib im Lande fein kann.“ 

„Sie find ächte Newcomiten — das heißt, jedes hat blos ſich 
felbft im Auge. Würdeft du es wohl glauben, daß Opportunity fich 
Mary Warren gegenüber das Anjehen einer vornehmen Dame gibt?” 

„Und wie benimmt fih Mary Warren einer folchen Anmaßung 
gegenüber?” ‘ 

„Wie ſich's für eine junge Berfon ziemt: fie verhält fi ruhig 
und thut, als ob fie es nicht merke. Aber es ift wirklich etwas 
Unausftehliches, wenn Leute, wie diefe Opportunity Neweome, fi 
erdreiften, gegen eine wahrhaft gebildete Dame den Ton der Ueber- 
legenheit anzunehmen. Mary hat eine fo gute Erziehung genofjen 
und fleht in fo achtbarer Berwandtichaft, wie nur irgend Jemand 
von und, und man kann an ihr nicht verkennen, daß fie an anflän= 
dige Gejellfchaft gewöhnt ift, während Opportunity* — Patt lachte 
jegt und fügte fodann haſtig bei: „doch du kennſt ja das Frauen⸗ 
zimmer fo gut wie ich.“ 

„O ja; fie ift la vertue oder die Kraft und je suis venue 
pour" — 

Patt verftand die letztere Anfpielung nur zu gut, da fie ſich 
ſchon zu Dubendmalen über die Gefchichte Iuftig gemacht hatte, 
und als ich ihr den Vorgang mit der „Einöde” erzählte, wurde 
ihre Heiterkeit noch mehr gefteigert. 

Dann kam es zu einer Anwandlung fchwefterlichen Gefühle. 
Patt befand darauf, ich müſſe meine Perücke abnehmen, damit 
fie mein Geſicht in feinem natürlichen Zuftande fehen koͤnne. IH 
that ihr gerne diefen Gefallen; aber jet benahm fich das Mädchen 
wahrhaftig wie närrifch. Zuerſt zerzauste fie mir die Loden, bis 
fie diefelben in einer Weife geordnet hatte, daß fie ihrem thörichten 
Geſchmack zufagten; dann Tief fie etliche Schritte zurüd, ſchlug 
erfreut die Hände zufammen, flürzte wieder im meine Arme, Füßte 
wid auf Stirne und Augen und nannte mich „ihren Bruder" — 


1 


259 ' 


ihren „einzigen Bruder” — ihren „lieben, theuren Hugh," und 
was dergleichen Liebesworte mehr waren, bis fie zuletzt fih und 
mich in einen folchen Zuſtand von Aufregung verjebt hatte, daß 
wir Beide neben einander Platz nahmen und laut zu weinen be= 
gannen. Bielleiht war eine derartige Entladung nöthig, um 
unfern gepreßten Herzen Luft zu machen, und wir thaten ihr deß⸗ 
halb Tlüglichermeife Teinen Einhalt. 

Meine Schwefter weinte natürlih am längften; aber fobald 
fie ihre Augen getrodnet hatte, jebte ſte mir die Perücke wieder 
auf und brachte mit zitternden Händen meine Verkleidung wieder 
in den frühen Stand, während dieſes ganzen Vorganges ſtets 
befürchtend, daß Jemand eintreten und mich erkennen koͤnnte. 

„Es war fehr unflug von dir, Hugh, daß du überhaupt 
hiehergefommen bift," fagte fie, während fie fo befchäftigt war. 
„Du Eannft dir Feine Vorftellung bilden von dem unglüdjeligen 
Zuftand des Landes, und weißt nicht, wie weit fich das Gift des 
Antirentismus und die Bosheit, welche demfelben zu Grunde liegt, 
verbreitet haben. Der lieben Großmutter haben fie viele garftige 
Widerwärtigfeiten bereitet, und du würdeft faum mit dem Leben 
davon kommen." 

„Land und Leute müſſen ſich demnach im «Laufe von fünf 
Jahren feltfam geändert haben; denn die Bevoͤlkerung unſers New⸗ 
Dorks hat: man bisher nicht nachfagen können, daß ſie auch nur 
entfernt meuchelmörderifche Gefinnung hege. Das Theerfaß und 
die Federn find allerdings feit unfürdenklichen Zeiten die Waffen 
der Galgenftride und der Eleinen Tyrannen gewefen, aber von dem 
Meffer habe ich nie etwas gehört." 

„Und kann etwas früher oder nachdrücklicher den Charakter 
eines Volks ändern, als die Gier nach dem Eigenthbum Anderer? 
Iſt nicht Die „Habfucht die Wurzel allen Webels‘ — und welches 
Recht haben wir, die-Bevölkerung von Ravensneft für beſſer zu 
halten, als eine andere, wenn einmal diefes ſchmutzige SA in 






256 


hellen Flammen auflodert? Du weißt, du haft mir ſelbſt gefchrie- 
ben, daß alle Amerikaner nur in Geld ihr Lebenselement finden.” 

„Ich habe dir gefchrieben, meine Liebe, dem Land bleibe in 
feinem gegenwärtigen Zuftand Fein anderer Sporn für die An⸗ 
firengung, und hierin liege jein Fluch. Sogar der militärifche 
Ruf und der militärifche Rang find unter unferem Syflem uner- 
reihbar. Künfte und Willenfchaften bringen wenig oder keinen 
Lohn, und da es Feine politifche Auszeichnung gibt, weldhe für 
den Mann von Bildung als Berlodung dienen kann, fo müſſen die 
Menfchen entweder für das Geld, oder überhaupt für einen andern 
Zuftand des Daſeins leben. Gleichwohl habe ich dir auch gefagt, 
Martha, ich halte troß alledem den Amerikaner weit weniger für 
feil im gewöhnlichen Sinne des Worts, als den Europäer; denn 
in jedem europäifchen Lande z. B. laſſen fich zwei Menſchen er- 
faufen, während hier vielleicht ein einziger. Lebteres ift vermuth- 
lich eine Folge der Leichtigkeit, mit welcher man hier feinen Lebens⸗ 
unterhalt findet, und darnach richten fich auch die Gewohnheiten.“ 

„Kümmern wir und nicht um die Urfachen. Dir. Warren fagt, 
e8 greife eine verzweifelte Raubluft unter dieſen Leuten um fid, 
und man habe die größte Gefahr von ihnen zu beforgen. Bis jeht 
haben fie noch einige Achtung vor Frauenzimmern, aber wie lang 
dieß dauern wird, ift nicht vorauszuſehen.“ 

„Es mag wohl und muß wohl auch fo fein, da Alles, was 
ih darüber gehört und gelefen habe, fi nur in einer Stimme 
vereinigt. Und doch flieht dieſes Thal im gegenwärtigen Augen- 
blide fo lächelnd und fo ſüß aus, als fei es nie Durch eine ſchlimme 
Leidenſchaft beſudelt worden. Verlaß dich übrigens auf meine 
Klugheit, welche mir jagt, daß wir ung jeßt trennen müſſen. Ich 
werde dich noch öfter jehen, ehe ich mein Beſitzthum verlaffe, “ind 
br müſſet ung natürlich irgend wohin folgen — nach den Quellen 
Saratoga vielleicht — fobald wir es nöthig oder tzwedmaßis 
en, unſer Lager zu verlegen.“ 


\ 


257 


Natürlich verſprach dieß Martha und ich Füßte fie zum Abfchied. 
Niemand kam mir in den Weg, als ich nad) der Piazza hinunter- 
flieg; denn da ich hier zu Haufe war, fo fand ich mich leicht zu recht. 
Sch jchlenderte einige Minuten im Hof umber, und zeigte mid) dann 
vor den Fenftern der Bibliothek, wo, wie ich erwartet hatte, die 
Aufforderung an mich erging, hereinzutreten. 

Onkel Ro hatte alle feine Siebenfachen, die zu Gefchenken für 
feine Mündel beftimmt waren, angebracht, und die Zahlung follte 
Durch Mrs. Littlepage bereinigt werden, welche natürlich nicht ent- 
fernt an etwas der Art dachte. Auch fügte mir der Geber fpäter, 
diefe Art Geſchenke, auszutheilen, fage ihm weit befler zu, als jede 
andere, weil er jet überzeugt fein dürfe, daB jedes der Mädchen 
feine Liebhaberei dabei zu Rathe gezogen habe. 

Da die Stunde des regelmäßigen Diners herannahte, fo ver- 
abfchiedeten wir uns bald nachher, aber nicht ohne auf das freund- 
lichfte und dringendfte eingeladen zu werden, daß wir, ehe wir Die 
Stadtmarfung verließen, das Neft wieder befuchen follten. Wir 
fagten natürlich bereitwillig zu, und gedachten auch, getreulich Wort 
zu halten. Nachdem wir das Haus verlaffen hatten, kehrten wir 
nach der Farm zurück, machten aber zuvor noch auf dem Raſen 
Halt, um ung die Landfchaft zu betrachten, die und Beiden durch 
die theuerften Erinnerungen fo wert war. Doc ich vergeffe — 
dieß ift ariftofratifch. Der Grundbefiger hat Fein Recht zu derar- 
tigen Gefühlen, welche die erhabene Freiheit, die und das Gefek 
fihern will, nur zum Beften der Pächter vorbehalten hat! 


Ravensneſt. AN 


Zwölftes Kapitel. 


„Kortan follen in England fieben Halbpenny- 
Laibchen für einen Benny verkauft werden. Die 
breiteifige Kanne ſoll zehn Reife haben, und ich 
will’8 zu einem Kapitalverbrechen machen, Dünn- 
bier zu trinken. Dad ganze Reich ſoll _gemein- 
fhaftlih fein, und mein Zelter jol in Cheapſide 


grafen.” 
Sad Gabe. 


„Ja iehe nicht ein, Sir," bemerkte ich, ald wir nach dem 
lebten Anhalten weiter zogen, „warum die Gouverneure, die Ges 
febgeber und die Sournaliften, welche über den Antirentismus 
fchreiben, fo viel über Feudalismus, Hühner, Zagarbeiten und eiferne 
Pachtverträge fchreien, während doch nichts dergleichen bei ung vor- 
handen ift, wohl aber die angebliche Folge davon, die Unzufrieden- 
heit, fich allenthalben fühlbar macht.” 

„Du wirft dieß ſchon beffer begreifen lernen, wenn du erft mit 
den Menfchen näher bekannt geworden bifl. Seine Partei bringt 
ihre eigenen ſchwachen Seiten zur Sprache. '8 ift allerdings fo, 
wie du fagft; aber die Schritte der Pächter würden die Theorieen 
der Philanthropen Lügen ftrafen und müͤſſen deßhalb in den Hin- 
tergrund geftellt werden. Man darf annehmen, daß ſich die Unzu⸗ 
friedenheit noch nicht über. die Hälfte oder über ein Viertel der pacht⸗ 
baren Güter im Lande — ja vielleicht kaum über ein Zehntel 
erfiredt hat, wenn man die Zahl der Grundbefiger, nicht aber die 


259 


Ausdehnung ihrer Liegenfchaften zum Maaßſtab nimmt; aber fie 
wird nothwendig immer weiter greifen, wenn die Behörden noch 
lange mit den Rebellen unter einer Dede ſpielen.“ 

„Wenn das Einkommen der Grundherrn unter dem Syſtem 
der dauernden Rente befteuert werden foll, haben dann die gefränften 
Partien nicht daſſelbe Recht, gegen einen folchen Akt der Bedrüdung 
zu den Waffen zu greifen, wie unfere Väter im Jahr 1776?" 

„Sogar noch ein befferes, denn das unferer Ahnen war nur ein 
gebildetes und aus allgemeinen Grundſätzen abgeleitetes Recht, wäh- 
rend fſich's heutzutag um einen Berfuch handelt, dem gefchriebenen 
Recht auf die gemeinfte Weife auszumweichen. Das Bübiſche dieſes 
Berfuchs ift eben fo fchuldhaft, wie feine bosliche Abficht. Seder- 
mann weiß, daß eine derartige Zare, fo weit fie etwas Anderes 
fein fol, als ein Köder für die Wähler, blos den Zweck hat, die 
Grundbefiger von dem Fefthalten an ihren Verträgen abzufchreden, 
und dieß ift ein Schritt, den fich Fein Staat unmittelbar erlauben 
Tann, ohne Gefahr zu laufen, daß feine Gefeßgebung durch die Ge⸗ 
richtshöfe der Vereinigten Staaten, wo nicht gar durch ſeine eigenen 
für inconſtitutionell erklärt werde.” 

„Ihr denkt an den Court of Errors?” 

„Der Court of Errors ift durch feine Mißbräuche verfehmt. 
Nicht einmal Batilina hat die Geduld Roms mehr erfchöpft, als 
dieſe Zwitterverfammlung die Geduld eines jeden verfländigen Rechts⸗ 
gelehrten im Staate mißbrauchte. Das Sprichwort: ‚fiat justitia, 
ruat coelum‘ wird jebt jo überfebt: ‚laßt Gerechtigkeit gefchehen, 
mag auch der Gerichtähof darüber zu Grunde gehen.“ Niemand 
wünfcht feine Kortdauer, und die nächte Konvention wird ihn zu 
den Gapulets ſchicken, wenn fie auch fonft nichts Preiswürdiges zu 
Stande bringt. Er war eine Hägliche Nahahmung des Oberhaus- 
Syſtems nur mit dem augenfälligen Unterfchied, daß die englifchen 
Lords Männer von Erziehung find, die ſehr viel bei der Sache auf 
dem Spiel fiehen haben. Sie find verfländig genug und werden 


nr 







260 


Thon durch ihre eigenen Intereffen darauf bingewiefen, die Erledi⸗ 
gung von Appellationsfragen den Juriſten ihrer Körperfchaft zu 
überlaffen, von denen ſtets eine achtbare Zahl vorhanden ift, dieje- 
nigen nicht mitgerechnet, welche im Beſitz des Mollfads‘ und des 
Gerichtsſtuhls find. Bei uns dagegen befteht der Senat aus einem 
Haufen von Heinen Advokaten, Landärzten, Kaufleuten und Far- 
mern, unter die fih nur hin und wieder ein Mann von wirklich 
freifinniger Bildung verliert. Steht der Court of Errors unter 
der Leitung eines fcharffinnigen, ehrenwerthen Richters, wie dieß 
Die meiften unferer eigentlichen Richter gewöhnlich find, fo würde 
wohl kaum eine Jury zu Stande fommen können, Die bei Ehren- 
kränkungen zum Beifpiel eine achtbare Perſon durch ihres Gleichen 
richten Tieße, und bei ung übt er das Amt eines Tribunal letzter 
Inftanz, um Gefebpuntte zu bereinigen !” 

„Wie ich bemerke, hat er kürzlich erft in einer Injurienklage 
eine Entfcheidung erlaffen, über welche der ganze Advofatenftand 
ſpottet.“ 

„Gewiß; und betrachte nun eben dieſe Entſcheidung — ſie gibt 
dir einen Maaßſtab für die Kenntniſſe dieſes Gerichtshofs. Ein 
Zeitungsſchreiber bezeichnet der Welt einen Schriftſteller als einen 
Mann, dem es darum zu thun ſei, eine kleine Summe zufammen- 
aubringen, um fih in Wallftreet for shaving purposes niederzu- 
laffen. Die einzige wefentliche Frage, die fich hiebei erhebt, betrifft 
die eigentliche Bedeutung des Wortes shaving. Kömmt ein Mann 
dadurch, daB er in.Berbindung mit der Benützung von Geld ein 
shaver genannt wird, in Mipfredit, jo reicht die Erklärung des 
Klägers zu: wo nicht, fo ift fie unerheblich, weil das, eigentlich In- 
jurivende fehlt. Die Wörterbücher und die Menfchen im Allgemei- 
nen verftehen aber unter shaving Wucher und nichts Anderes. Be⸗ 
t man alſo einen Menſchen als einen shaver, ſo hat man ihn 
en Wucherer prädicirt, ohne daß man in weitere Einzelnhei- 
ugehen braucht. Run werden aber in Wallſtreet und unter 


261 


ben Geldmädlern gewiſſe Manöver, welche man lebter Zeit unter 
die Eategorie von shaving gebracht hat, weder von den dabei Bes 
theiligten, noch von den Gerichtshöfen, für unehrenhaft gehalten, und 
shaving ift unter den Papierfpefulanten ein technifcher Ausdrud, 
welcher den Ankauf von Wechjeln unter ihrem Nennwerth bedeutet. 
Dieß it ein Gefchäft, gegen welches die Geſetze nichts einzuwenden 
haben. In Hinblid auf diefen letztern Umftand hat der höchkte 
Appellationg-Gerichtshof in New-York, wie er jelbft in fei- 
nen veröffentlihten Entfheidungsgründen zugefteht, 
das Urtheil abgegeben, daß es keine Befchimpfung fei, wenn man 
einen Menjchen einen shaver nenne; er machte alfo einen conven= 
tionellen Ausdrud der Mädler in Wallftreet zu einer höhern Auto= 
rität für den Gebrauch der englifchen Sprache, als die Wörter- 
bücher und alle Diejenigen, welche Englifh reden. Wenn nad 
demfelben Grundjage eine Bande von Zafchendieben zu Five Points 
auf den Einfall käme, ihr Gewerb dadurch ein wenig zu myſtificiren, 
daß fie in den Ausdruck „maufen‘ die buchftäbliche Bedeutung von 
borgen eines Zafchentuches einfchlößen, jo würde es Keine Ehren- 
kränkung mehr fein, einen Bürger zu befchuldigen, daß er „ſeines 
Nachbars Schnupftucd, gemaust habe‘. " 

„Aber die Schmähung wurde vor der ganzen Welt ausge- 
foßen, nicht vor den Mädlern in Wallftreet allein, von denen fich 
allerdings erwarten läßt, daß fie ihre Kunftausdrüde verftehen.” 

„Ganz richtig; fie fand in einer Zeitung, welche die Lüge nach 
Europa trug, und der Verfaſſer der Anfchuldigung gab, als er 
darüber vernommen wurde, öffentlich zu, er habe feinen Grund, 
von befagtem Schriftfteller eine derartige Mbficht zu vermuthen. 
Das Ganze fei eben ein „Scherz“ gewefen. Jede Zeile des Arti- 
fel8 zeigte aber die bögliche Abficht und die Entfcheidung erfcheint 
mir ganz in dem Lichte, wie wenn man einen Menfchen, der einen 
andern einen „Dieb“ nennt, auf die Entjhuldigung hin frei ſpre— 
chen wollte, er habe darunter einen ‚Herzensdieb‘ verflanden, weil 


252 


es nicht paffend, eine derartige weltliche Auszeichnung in der Kirche 
anzubringen, und ich will dieß gern zugeben; aber der Borfprung 
hat nie Anftoß erregt, bis man auf den Wahn kam, das Gefchrei 
Dagegen tönne dazu beitragen, mich um den halben Preis oder gar 
ohne Entjchädigung, wie e8 eben kommen mag, meiner Ländereien 
zu berauben.” 

„Du haft vielleicht hierin vollkommen recht; aber wenn er ein- 
‚mal für eine Kirche nicht paßt, warum ihn dann beibehalten?” 

„Weil ih mir das, was ich als mein Eigenthum anfprechen 
fann, nicht abtrogen laſſen will, felbft wenn mir noch fo wenig 
daran gelegen if. Es gab vielleicht eine Zeit, in welcher eine 
derartige Bedachung nicht fir das Haus Gottes paßte — nämlich) 
damals, als Diejenigen, welche fie fahen, auf den Glauben kommen 
fonnten, e8 bedecke das Haupt eines Nebenmenfchen, welcher an das 
MWohlgefallen Gottes höhere Anſprüche habe, als fie ſelbſt; heut- 
zutage aber fchätt man das Verdienft, indem man mit dem andern 
Ende der gejelligen Stufenleiter den Anfang macht, und es ift 
deßhalb wenig Gefahr vorhanden, daß irgend Jemand in einen 
Irthum verfalle. So wenig mir auch an dem Vorſprung liegt, fo 
ſoll er doch ftehen bleiben. Zwar wäre e8 mir lieber, ihn fortzu- 
haffen, weil ich vollkommen einfehe, wie unpaflend es. ift, im 
Zempel des Herrn derartige Unterfcheidungsmerkmale anzubringen; 
aber er darf nicht wegtommen, bis die Zugeftändniffe aufhören, 
er Eönne gefährlich fein. Ich habe Eigenthumsrechte daran und 
werde diefe feftgalten. Sind Andere unzufrieden darüber, fo mögen 
fie auch Dächer über ihre Kirchenflühle machen, und der befte 
Probierftein in einer derartigen Sache ift das, zu warten, wer es 
am Iängften treibt. Senefa Neweome z. B. würde eine ſeltſame 
Figur machen, wenn er in einem bevachten Kirchenftuhl ſäße. So⸗ 
gar fein sigener Anhang würde ihn verlachen, und dieß will, meine 
ich, mehr heißen, als fie fich mir gegenüber getrauen. “ 

Martha machte eine unzufriedene Miene, ließ aber den Gegen- 


253 


Rand fallen. Zunächſt befprachen wir und nun über unfere Kleinen 
Privatangelegenheiten, wobei allerlei Unbedeutendes verhandelt 
wurde. 

„Und wen ift jene fchöne Kette zugedacht, Hugh?" fragte 
Batt lachend. „Ich glaube jet gerne den Worten des Haufirerg, 
als er ſagte, fie ſei deiner Fünftigen Gattin vorbehalten. Aber 
wer wird diefe fein — foll fie Henrietta oder Anne heißen?“ 

„Barum frag du nicht au), ob ihr Name nicht vielleicht 
Mary fein würde? — warum eine von deinen Freundinnen aus⸗ 
ſchließen, während du der beiden andern Erwähnung thuft?” 

Patt war betroffen, denn dieſe Erwiederung ſchien fie nicht 
erwartet zu haben. Ihre Wangen glühten, und ich bemerkte, daß 
Die Freude in ihren Gefühlen vorherrfchend war. 

„Komme ich vielleicht zu ſpät, um dieſes Kleinod mit meiner 
Kette in Berbindung zu bringen?” fragte ich halb im Scherz, 
halb im Emtt. 

„Zu früh wenigftens, um es durch den Reichtum und die 
Schönheit deines Zieraths zu feſſeln. Es gibt im ganzen Lande fein 
. Nnatürlicheres und uneigennübigeres Mädchen, als Mary Warren.“ 

„Sei offen gegen mich, Martha, und fprich dich unverholen 
aus. Hat fie irgend einen begünftigten Bewerber?” 

„In der That, du fcheinft die Sache ernfthaft zu nehmen!" 
rief meine Schwefter lachend. „Uber um dich aus deinen Nöthen 
zu erlöfen, will ich dir antworten: dab ich nur von einem ein- 
zigen weiß. Einer iſt zuverläffig vorhanden, oder der weibliche 
Scharfiinn müßte ſich ganz und gar auf einem Irrwege befinden.“ 

„Aber ift diefer Eine begünftigt? Du kannſt nicht glauben, 
wie viel für mic) von deiner Erwiederung abhängt." 

„Du magft dir jelbft ein Urtheil darüber bilden. Der Freier 
it Seneky Neweome, wie er hier herum genannt ift — der Bruder 
der bezaubernden Opportunity, welche e8 noch immer auf dich ab⸗ 
gejehen hat.“ 


264 


Während man die Vorbereitungen zu unferem Unterfommen 
traf, bemerkte ich, daß Joſh Brigham, wie der antirentifch gefinnte 
Zaglöhner Millers hieß — für Alles, was gefchah oder gefprochen 
wurde, Auge und Ohr offen hielt. Bon allen Menfchen auf Erden 
ift der Amerikaner diefer Klaffe am mißtrauifchften, und er thut 
fih fogar etwas darauf zu Gute, daß fein Argwohn im Augenblick 
gewect ift. Der Indianer auf dem Kriegspfad — die Schildwache, 
die eine Stunde vor Tagesanbruch in der Nähe des Feindes auf 
einem in Nebel gehüllten Poſten fteht — ein eiferfüchtiger Gatte 
oder ein parteigängerifcher Pfaffe — feiner von allen diefen if 
auch nur um ein Haar erfinderifcher in feinen Vorftellungen, Muth⸗ 
maßungen oder Behauptungen, als ein Amerikaner von gemeinem 
Schlag, wenn er „mißtrauifch” geworden iſt. Diefer Brigham nun 
war ein wahres beau ideal aus der Sippfchaft des Argwohns — 
eben jo neidtfch und boshaft, als verfchmigt, lauernd und habgierig. 
Schon der Umstand, daß er in Verbindung mit den „Inſchens“ 
fand — wie fi fpäter wirklich herausstellte — trug dazu bei, 
feinen natürlichen Hang durch das Bewußtfein der Schuld zu ſtei⸗ 
gern und ihn doppelt gefährlich zu machen. Die ganze Zeit, die 
mein Onfel und ich darauf verwendeten, jedem von ung ein Stüb- 
hen, und wenn ed auch die fchlechtefte Kammer wäre, zu erwirfen, 
verwandte er fein Auge von ung, und feine mißtrauifchen Blicke be= 
fundeten, daß unfere Bewegungen jedenfalld feine Neugierde, wo 
nicht entfchiedenen Argwohn, weten. Nachdem alle Einleitungen 
getroffen waren, folgte er mir nach dem Kleinen Hof vor dem Haufe, _ 
von wo aus ich die mir fo wohl befannte Landichaft im Lichte der 
untergehenden Sonne betrachten wollte, und begann die Art feiner 
Muthmaßungen durch feine Sprache zu verrathen. 

„Der alte Mann," er meinte damit Onkel Ro — „muß viel 
goldene Uhren bei fih haben,” ſagte er, „daß er fo höllifch beſon— 
der wegen feines Betts ift. Denk' wohl, e8 muß in einigen Gegen- _ 
den ein kitzliches Gewerb fein, ſolche Dinge zu verhaufiren. ” 


265 


„An manden Orten if’3 freilich gefährlich, obſchon ich nicht 
glaube, daß man in diefem guten Land etwas zu beforgen hat," 
erwiederte ich in gebrochenem Engliſch. 

„Barum hat ſich's denn der alte Kerl jo angelegen fein laſ⸗ 
jen, diejes Stübchen für fich zu gewinnen und Euch unter das Dach 
Hinaufzufchieben? Wir, die wir im Taglohn arbeiten, mögen mit ' 
dem Dach nichts zu fchaffen haben, weil's dort im Sommer gar 
heiß iſt.“ 

„In Dſcharmany hat Jedermann ein eigenes Bett,“ antwortete 
ich, da mir angelegentlich darum zu thun war, auf dieſen Gegen⸗ 
ſtand nicht weiter einzugehen. 

Dies war allerdings ein wenig geprahlt, denn ich wäre der 
Wahrheit näher gekommen, wenn ich gelagt hätte: ‚hat Jedermann 
ein halbes Bett‘, obſchon vielleicht die zweite Hälfte ſich in einem 
andern Zimmer befindet. 

„ob, dieg iſtss alfo? Na, ich kann mir denken, daß jedes 
Land feine befondern Weifen hat. Dicharmany muß ein defperat 
ariftofratifches Land fein, ſchätz' ich." 

„Sa, man findet noch viel von der alten Feudalgefebgebung 
und von den Feudalbräuchen in Dſcharmany.“ 

„Grundherrn die Menge, kann ich mir denken, wenn man die 
Sache beim Licht betrachtet. Pachtverträge fo lange als mein Arm, 
rechne ich!” 

„Sn Dſcharmany glaubt man, je länger ein Pachtvertrag fei, 
defto beffer fei der Pächter daran.” 

Da dieß eine rein deutfche Anficht war, welche nicht im Ge⸗ 
ringften mit den Begriffen harmonirte, die von unfern Staate- 
männern unter den Amerikanern verbreitet wurden, fo fuchte ich fie 
durch meinen Dialekt wo möglich noch deutfcher zu machen. 

„Das ift ein Euriofer Einfall! Wir hier meinen, daß ein 
Pachtvertrag etwas Schlimmes fei; und je weniger man von einem 
Uebel bat, defto befler iſt's.“ 


4‘ 


266 


„Sch weiß nicht, was ich hiezu fagen foll, da ich die Sache nicht 
recht verſtehe; aber was läßt fih wohl anfangen, um fie zu ändern?“ 
„oh, die Gefepgebung wird Alles zurecht bringen. Es ift die 
Rede davon, daß ein Gefeß erlaffen werden foll, welches Fünftighin 
alle Pachtverträge verbietet.” 
„And wird fich das Volk dieß gefallen laffen? Jedermann fagt 
mir, Amerika jei ein freies Land; und kann man den Leuten ver⸗ 
bieten, Ländereien zu pachten, wenn fie Luft dazu haben?” 

„Sa, feht Ihr, wir wünfchen nur den Grundbefigern ihre ge- 
genwärtigen Pachtverträge zu entleiden. Hat man's einmal fo weit 
gebracht, jo kann das Gefeß gelegentlich fehon wieder weich geben.” 

„Aber ift dieß recht? Das Gefep follte gerecht fein und nicht 
bald anziehen und bald wieder weich geben, wie Ihr's nennt.” 

„Sch merke ſchon, Ihr verfteht mich noch nicht. Nein, wir 
haben die nettefte und rundefte Gejebgebung von der Welt, und hier 
muß es gerade wieder wie bei dem Bankeruttgeſetz zugehen." 

„Und wie iſt's denn damit zugegangen, wenn ich fragen darf? 
Sch kann mir nicht denken, was Ihr meint, da ich nichts von der 
Sache verftehe.” 

„Wirklich nicht? Ei, es that Wunder für einige von ung, 
fann ih Euch fagen. Es zahlte unfere Schulden und half ung 
auf, als wir am Boden lagen. Glaubt mir, dieß ift wahrhaftig 
feine Kleinigkeit. Ich hab’ jelbft zu dem „Benefiz‘ gegriffen, wie 
man's nannte.” | 

„Ihr? Wie kommt Ihr dazu, zu dem Benefig eines Bante- 
ruttgefeßes zu greifen? Ihr, der Shr als Dienfimann auf diefer 
Farm lebt?" 

„Ja wohl; warum nicht? Unter jenem Gefeb brauchte man 
weiter nichts, als ungefähr ſechszig Schillinge, um Durch die Mühle 
zu kommen, und wenn Einer fo viel zufammenfcharren Eonnte, hin= 
derte ihn nichts, das Kerbholz jo lang werden zu laſſen, als er 
wollte. Sch hatt! mich in eine Spekulation eingelaflen, und das 


267 


‘macht oder ruinirt ein Gefchäft, kann ich Euch fagen. Gut, ich 
ſtehe ungefähr um vierhundert Dreiundzwanzig Schillinge, zweiund- 
zwanzig Cents fchlechter, als auf Nichts; aber da ich etwa neunzig 
Schillinge in der Hand habe, gehe ich durch die Mühle, ohne daß 
ein Zahn auch nur den Heinften Zehen erwiſcht! Ich denke, man 
macht ein gutes Gefchäft, wenn man mit zwanzig Gent einen 
ganzen Dollar Schulden zahlen kann.“ 

„Und mit diefem guten Gefchäft habt Ihr Euch abgegeben ?” 

„Ihr dürft mir dieß nachfagen; und nun hab’ ich im Sinn, 
mir durch die Antirenterei wohlfeil zu einer Farm zu verhelfen — 
das heißt, was ich wohlfeil nenne. Nicht dreißig oder vierzig 
Schillinge für den Acre, Tann ih Euch jagen!" 

Sch Hegriff volltommen, daß Mr. Joſhua Brigham dergleichen 
öffentliche Gewaltmaßregeln für nichts anderes, als für pragma- 
tifche Sanctionen hielt, welche die Atmofphäre der Moral jowohl, 
als die des Nechts vor jeder, auch der mindeften Schwierigkeit, die 
in der Form veralteter Anfichten noch vorhanden war, zu fäubern, 
damit er in dem einen Falle leicht feiner Schulden ledig, im andern 
aber plößlich reich werden koͤnne. Wahrfcheinlich Tonnte man mir 
meine Betroffenheit anfehen, als ich fo mit einem Male die Ent- 
deckung machen mußte, daß ich Angeficht in Angeficht einem gemei- 
nen Schurfen gegenüber ftand, der ſich mit der wohlüberlegten Ab- 
fiht trug, mich einer Farm zu berauben. Auch Sofhua ſchien mein 
Benehmen aufzufallen, denn er Iud mich ein, mit ihm einen Kleinen 
Spaziergang die Straße hinunter zu machen, und benügte ſodann 
die Gelegenheit, die moralifchen Bedenken, die mir etwa noch zu 
haften machten, durch eine weitere Erörterung des Gegenftandes 
zu befchwichtigen. 

„Ja ſeht,“ nahm Joſhua wieder auf, „ih will Euch fagen, 
wie e8 fteht. Die Littlepage’s haben dieſes Land lange genug ge= 
habt, und es ift Zeit, auch den armen Leuten eine Ausſicht zu 
geben. Der junge Schwenffelder, welcher fich herausnimmt, alle 


268 


die Farmen, welche Ihr nah und fern ſeht, für fein Eigenthum gu: 
erklären, bat fein ganzes Leben nie etwas‘ dafür gethan, und fein 
ganzer Vorzug befteht darin, daß er feines Baters Som if. Nun 
aber iſt's meine Unficht, der Menſch müffe auch etwas -thun für 
fein Land und dürfe es nicht bloß der Natur zu verdanken haben. 

Dieß if ein freies Land, und welcher Einzelne foll da mehr Recht 
haben, an Grund und Boden, als ein Anderer 2" 

„Dder an fein Hemd, an feinen Tabak, an feinen Rod, oder 
wie fonft fein Eigenthum heißen möge?" 

„Nein, fo weit will ich gerade nicht gehen. Jeder hat ein 
Recht an feine Kleider — meinetwegen auch an ein Noß oder an 
eine Kuh, aber fo weit gehen feine Gerechtfame nicht, daß er alles 
Land in der Schöpfung anfprechen kann. Eine Kuh muß man 
Einem laffen, und dieſe kann Einem nicht einmal durch den Aus— 
pfänder genommen werden." 

„And gibt das Gefeb nicht auch ein Recht an den Landbeflg? 
Ihr werdet Euch fehwerlich auf diefes berufen dürfen, wenn Ihr 
ausreichen wollt." 

„Wir haben’s gern, wenn wir das Gefeß fo viel wie möglich 
auf unfre Seite Eriegen können. Die Amerikaner find Freunde der 
Gefepmäßigkeit, und Ihr könnt's in allen Büchern Tefen, — in 
unfern Büchern, meine ich, die in Amerika gedrudt find, — daß 
die Amerikaner das gefeglichfte Volk auf Erden feien, und daß fie 
für's Geſetz mehr thun, als man von irgend einem andern Volk weiß.“ 

„Der Tauſend, dieß iſt's nicht, was man den Amerikanern in Eu⸗ 
ropa nachſagt. Nein, nein, man hat eine andere Anficht von ihnen.” 

„And glaubt Ihr etwa nicht, daß es fo ſei? Haltet Ihr nicht Ame⸗ 
rifa für das größte und auch für das gefeglichfte Land auf der Erde?" 

Sch weiß da wahrhaftig nichts zu Tagen. Das Land ift eben 
Land, und Ihr werdet einfehen, daß es nichts weiter fein Tann, als 
was es iſt.“ 

„Run ja, dent! wohl, Ihr werdet ſchon noch meiner Denk⸗ 


269 


weife werben, wenn wir einander beffer verſtehen.“ Nichts iſt Teich- 
ter, als einen Amerikaner durch die Gutachten, die ſie von den 
Fremden verlangen, irre zu führen; denn in dieſer Beziehung ſind 
ſie das verblendetſte Volk auf Erden, obſchon fie in anderer Be- 
ziehung ficherlich unter die verfchmikteften gehören. „So geht's 
immer beim Anfang von neuen Bekanntſchaften; man verfteht ein- 
ander nicht immer recht, und dann kommt Ihr auch nicht fonderlich 
mit der Sprache fort. Doc jetzt wollen wir auf die Hauptfache 
übergehen, Freund — aber Ihr müßt mir zuerft ſchwören, daß Ihr 
mich nicht verrathen wollt.“ 

„5a, ja, ich begreife; ich fol ſchwoͤren, daß ih Euch nicht 
verratben wolle. Dieß ift gut." 

„Nun fo hebt Eure Hand auf. Halt; von welcher Religion 
feid Ihr?” 

„NRatürlih ein Chriſt. Ich möcht fein Zude fein — nein, 
nein; aber ich bin ein fehr ſchlimmer Chriſt.“ 

Bas dieß betrifft, find wir Alle fchlimm genug, und ich lege 
feinen fonderlichen Werth darauf, Ein bischen vom Teufel in einem 
Menſchen ift gerade recht, um ung in diefer unferer Geſchichte fort- 
zubelfen. Aber Ihr müßt ein wenig mehr fein, als ein Chriſt, denk 
ich, denn in unferem Lande nennen wir dieß noch Feine Religion. 
Was habt Ihr noch für einen Beihilfsglauben?" 

„Beihilfsglauben? Nein, dieß verftehe ich wahrhaftig nicht. 
Was ift der Beihilfsglaube? Kommt er von Melanchthon und 
Luther — oder kommt er vom Pabſt her? . Erklärt mir zuerft die 
Bedeutung diefes Wortes.” 

„Run ja, welche Religion patronifirt Ihr? Patronifitt 
Ihr die ftehende Ordnung oder die Enieende Ordnung — oder viel- 
leicht Feine von beiden? Einige Leute find fogar der Anficht, es fei 
am beften, wenn man beim Gebet niederliege, da hiedurch die Ge⸗ 
danken am wenigften zerftreut werden.” 

„Auch dieß kann ich nicht recht begreifen. Doch laſſen wir 


i 270 


bie Religion und kommen wir zu der Hauptfache, von der Ihr ge⸗ 
fprochen habt.“ 

„Gut alfo, zur Hauptfache. Ihr feid ein Deutfcher und könnt 
die Ariftofraten nicht Leiden; deßhalb will ich Vertrauen in Euch 
ſetzen. Dieß aber fage ih Euch, wenn Ihr mich verrathet, fo habt 
Ihr in diefem oder in irgend einem andern Lande am längften Muſik 
gemacht! Iſt's Euch etwa darum zu thun, ein Inſchen zu werden, 
fo trefft Ihr morgen auf eine fo gute Gelegenheit, wie fie nur je 
irgend Einem in den Weg kömmt. 

„Ein Infhen? Welchen Vortheil hätte ich davon, wenn ich 
ein Infchen werden wollte? Ich habe geglaubt, es fei in Amerika 
beffer, ein weißer Mann zu fein.“ 

„Ob, ich rede nur von einem Antirenten-Inihen. Wir haben 
die Sachen jebt jo nett eingerichtet, daß man ohne allen Anſtrich 
ein Infchen fein Tann; man braucht fich nicht mehr zu waſchen und 
zu fegen, fondern Kann jeden Augenblid in zwei Minuten fich wie- 
der in die vorige Berfon umwandeln. Der Lohn ift gut und Arbeit 
leicht; dann kommen auch recht hübſche Gelegenheiten in den Kram⸗ 
läden und auf den Barmen herum. Unſer Gefeg lautet, ein Inſchen 
müſſe haben, was er braucht, und da hilft Feine Widerrede; auch 
tragen wir Sorge dafür, daß dag Bedürfniß groß genug ift. Wenn 
Ihr dem Meeting anwohnen wollt, fo will ih Euch jagen, wie Ihr 
mich erkennen koͤnnt. 

„Sa, ja, — dieß ift gut; ich werde mich zuverläffig bei dem 
Meeting einfinden. Wo wird e8 abgehalten?” 

„Im Dorf drunten. Diefen Nachmittag Fam das Aufgebot, 
und wir werden um zehn Uhr allefammt auf dem Platz fein.“ 

„Wird's wohl zu einem Gefecht kommen, dag Ihr Euch fo 
pünttlich und mit fo viel Eifer einzuftellen gedenkt?“ | 

„Sefeht? O Himmel, nein. Ich möchte doch wiſſen, gegen 
wen's zu einem Gefecht kommen jollte? Wir miteinander find ein 
hübſches Häuflein gegen Die Littlepage's, und von Diefen ift Niemand 


271 


auf dem Gut, als zwei oder drei Weibsbilder. Ich will Euch fa- 
gen, wie die Sache abgemacht if. Das Meeting ift zufammenbe- 
rufen zu einem Befreiungs- und Freiheitsunterflügungsplan. Den?’ 
wohl, Ihr wißt, daß wir in diefem Lande alle Arten von Meetings 
haben ?* 

„Nein. Ich kann mir zwar denken, daß es Meetings für Po⸗ 
litik gibt, bei welchen fih das Volk verfammelt; von andern aber 
weiß ich nichts, 

„Iſt's möglih?. Wie, Ihr habt Feine „Entrüftungsmeetinge‘ 
in Zfharmany? Wir halten fehr viel auf unfere Entrüftungsmee- 
tings, und beide Seiten haben fie im Ueberfluß, wenns einmal warm 
herzugehen anfängt. Unſer morgiges Meeting gilt der Befreiung 
und den Freiheitsgrundfägen im Allgemeinen. Vielleicht erlaffen 
wir einige Entrüftungsrefolutionen über die Ariftofraten, denn in 
unferm Landftrich mag Niemand diefe Kreaturen leiden, kann ich 
Euch fagen.” 

Da diefes Manufeript in Hände gerathen fönnte, welche die 
wahren Berhältniffe der New-Morker-Befellichaft nicht Kennen, fo 
wird hier wohl die Erklärung am Ort fein, daß in der Sprache 
des Landes unter dem Ausdrud „Ariſtokrat“ nichts Anderes verftan- 
den ift, ald ein Mann von Bildung und Gefhmad, der gebildeten 
Umgang liebt. Unter der Ariftofratie des Staates gibt es ebenfo= 
gut, wie unter andern Menfchen, Abftufungen. Wer z.B. in einem 

Weiler als Ariftofrat gilt, kann in einem Dorf als ſehr demokra⸗ 
tiſch erfcheinen, und der Dorfariftofrat findet vielleicht in einer Stadt 
durchaus Feine Anerkennung, objchon in den Städten in der Regel 
— ja fogar, wenn die Bevölkerung nur im mindeften den Charaf- 
ter einer Stadt trägt — immer dergleichen Unterfcheidungen auf- 
hören, weil die Leute ruhig in dem Geleife einer civilifirten Gefell- 
[haft fortgehen und nur wenig an dergleichen Dinge denken oder 
davon fprechen. Um alfo die fehreienden Uebelftände der amerifant- 
fchen Ariftofratie zu fehen, muß man in’s Land bineingehen, und da 


272 


trifft man nun freilich allerlei. Findet fi etwa ein Dann, deffen 
Eigenthum um fünfundzwanzig Procent höher befteuert if als dag 
feiner Nachbarn — der das Recht fo klar auf feiner Seite haben 
muß wie eine wolfenlofe Sonne, wenn er ein Verdikt für ſich ge- 
winnen will — der für alles, was er Tauft, fünfzig Procent 
mehr zahlen muß, und für feine verkäuflichen Waaren fünfzig Pro- 
cent weniger erhält, als ein Anderer — der mitten in einem ſcheinba⸗ 
ren Frieden von erbitterten Seinden umgeben ift — dem man jedes 
Wort im Munde verdreht, mit Zugaben bereichert und mit Lügen 
ausftattet, — den man allenthalben verläumdet, weil er fpäter zu 
Mittag it, als „das übrige Volt” — der nicht gebückt, fondern 
grade einhergeht — der fih herausnimmt, zu bezweifeln, ob Ame- 
rifa im Allgemeinen und feine eigene Stadtmarkung im Befondern 
der Brennpunkt der Givilifation ſei — der ein Bedenken trägt, 
jede fchlagende Probe von Unwiffenheit, ſchlechten Gefhmad und 
noch fchlechterer Moral, vie feine Nachbarn in der Form einer Pe- 
tition, Vorftellung oder Refolution aufzufegen für gut halten, mit 
zu unterfchreiben — findet fih fol’ ein Mann, fo ift er zuder- 
läfftg ein entfeglicher Ariftofrat — ein Menfch, der um feiner vie- 

Ten Vergehungen und um der Art willen, wie er über feine Neben- 
menſchen den Herrn fpielen möchte, verbannt zu werden verbient. 
Ich bitte den Lefer um Verzeihung, daß ich Joſhuas Rede fo plöß- 
lich abgebrochen habe, aber es beitehen in verfchiedenen Theilen 
der Welt fo mancherlei Vorſtellungen über den Ausdrud Ariſtokrat, 
daß ich wohl die Erläuterungen hierorts einfchalten mußte, um al- 
Ienfallfigen Mißverftändniffen zu begegnen. Da fällt mir eben ein 
— ich habe ein Merkzeichen diefer Zunft vergeffen, welches viel- 
leicht wefentlicher ift, als alle übrigen und daher nicht übergangen 
werden darf.Gibt e8 zufälligeriveife einen Mann, der ein zurüd- 
gezogenes Leben mehr liebt, als das öffentliche, und fich nicht um 
„Bopularität” kümmert, jo ift diefer gleichfalls der unverzeihlichen 
Sünde des Ariſtokratismus ſchuldig. Das „Volk“ wird ihm Tieber 


ı 


273 


alles Andere vergeben, als dieſes, obſchon man auch Leute genug 
findet, welche e8 für das untrüglichfte Wahrzeichen eines Ariftofra- 
ten halten, wenn Einer nicht Tabak kaut. Wenn ich übrigens jetzt 
nicht wieder auf Joſhua zurückkomme, fo wird fich wohl der Leſer 
beichweren, daß ich ihn jo lange aufhalte. 

„Nein, nein,” fuhr Mr. Brigham fort, „man bleibe mir nur 
mit den Ariftofraten vom Halſe, denn ich haffe fehon den Namen 
dieſes Schlangengezüͤchts, und wünjchte nur, daß auch nicht ein Stüd 
davon im Lande wäre. Wir werden morgen einen berühmten An- 
tirentenvorlejer aus. 

„Bas habt Shr da für einen Mann genannt?" 

Einen Borlefer — Ihr begreift wohl, einen Mann, der über 
Antirenterei, Mäßigkeit, Ariftofratie, Regierung oder was immer 
für eine andere Befchwerde, die zufällig gerade an der Tagesordnung 
it, Vorträge hält. Habt Ihr in Tſcharmany Feine Vorlefer?" 

„Sa, — ja, namentlich werden auf den Univerfitäten viele 
Borlefungen gehalten.”. 

„Sp? Nun, wir haben fle bier univerfell und befonder, wie 
wir fie eben brauchen. Wie ich mir jagen laffe, Ertegen wir morgen 
Einen, den gewiptefien Kerl, der je in der Sache aufgetreten ift. 
Er treibt’8 ftark, und die Inſchens gedenken, ihm mit Gefchrei und 
Lärm aller Art den Rüden zu deden. Euer Leierfaften da ift nur 
ärmliches Stümperwerf gegen die Muſik, welche unfer Stamm ma⸗ 
hen Tann, wenn wir einmal unfere Kehlen anftrengen.” 

„Dieß ift wahrhaftig kurios. Ich habe mir fagen laſſen, die 
Amerikaner feien lauter Philofophen, und was fie thäten, geichehe 
in überlegter nüchterner Weile. Da muß ih nun aus Eurem 
Munde hören, ihre Beweisführungen bedürften des Gefchreis, wie 
bei den Indianern.” 

„Ganz richtig! Sch wollte nur, Ihr wäret zur Zeit des ſchwe⸗ 
ren Mofts und der Blodhütten bier geweſen; da hättet Ihr ein 
Stückchen von Bernunft und Philofophie fehen können, wie Ihr's 

Ravensneit. AR 


274 

nennt! Ich war jenen Sommer ein Whig, wurde aber in lebter 
Zeit ein Demokrat. Es gibt unferer ungefähr fünfhundert in dieſer 
County, und diefe machen die meiften Dinge aus, Tann ih Euch 
fagen. Was nügt Einen ein Botum, wenn man nichts damit ge⸗ 
winnen kann? Aber morgen werdet Ihr ſehen, wie in diefem Welttheil 
auf die fhönfte Manier Geſchäfte abgethan und Sachen in's Reine 
gebracht werden. Wir wiffen recht wohl, auf was wir's abgefehen 
haben, und find entfchloffen, bis an's Ziel durchzudringen.“ 

„Und auf was habt Ihr's denn abgeſehen?“ 

„Nun ja, da Shr vom rechten Schlag zu fein ſcheint und viel- 
leicht felber auch das Infchenhemd anzieht, fo will ih Euch Alles 
fagen. Wir möchten die guten alten Farmen unter günftigen Be⸗ 
dingungen erwerben. Auf dieß muß es hinauslaufen. Dem Bolt 
wird's ernft, und was das Volk will, muß es haben. Dießmal iſt's 
ihnen um Farmen zu thun, und fie werden’ nicht ruhen, bis die 
Sache durchgefegt iſt. Wozu nüßte auch eine Volksregierung, wenn 
das Volk der Farmen entbehren müßte? Wir haben mit den Renf- 
jelärs, mit den eifernen Pachten, mit den Bürgfchaftsverfäufen und 
den Zinshühnern angefangen; aber damit fol’s noch lange Fein 
Ende haben. Was wäre auch damit gewonnen? Man will auch et» 
was davon haben, wenn man fich auf dergleichen Dinge einläßt. Wir 
wiffen, wer unfere Freunde und wer unfere Feinde find. Könnten 
wir nuneinigeMänner von meiner Befanntfchaft auf die Gouverneurs- 
poften bringen, fo würde fchon im nächften Winter Alles Elar ablaufen. 
Den Grundbefitern tüchtig Steuern aufgelegt und ihnen fo oder 
fo Prozeffe an den Hals gehängt — dieß würde fie fo zahm ma⸗ 
hen, daß fie gewiß gerne die lebte Ruthe ihrer Ländereien verkauf: 
ten — und noch obendrein wohlfeil, fag’ ih Euch!“ 

„Und wem gehören denn die Farmen, die ich landauf und 
landab ſehe?“ 

„Wie das Gefeb jetzt fleht, fo eignet fie der junge Littlepage: 
aber es wird ſchon anders kommen, fobald wir an der Gefeß- 


275 


gebung genug gefegt haben. Können wir's nur fo weit treiben, daß 
die Legislatur auf dem Hauptpunkt beharrt, jo werden wir Alles 
kriegen, was wir wollen. Wer ſoll's wohl glauben? — wie ich 
höre, will der Menſch nicht eine einzige Farm verkaufen, fondern 
möchte fie gern fammt und fonders für fih behalten! Kann man 
ſich dieß in einem freien Land gefallen laffen? Denk wohl, fogar 
in Eurem Tſcharmany würde e8 hart genug hergeben, und ich 
verachte einen Kerl, den fein ariftofratifcher Hochmuth fo weit treibt, 
daß er nichts verkaufen mag.“ 

„Ich weiß nicht, aber in Tſcharmany hält man fih an Die 
Geſetze, und das Eigenthum wird in den meiften Ländern geachtet. 
Hoffentlich möchtet Ihr doch nicht das Recht des Eigenthumes zer- 
flören, felbft wenn Ihr könntet?" 

„Nein, das nicht. Wenn Einer eine Uhr, ein Roß, oder eine 
Kuh eignet, fo bin ich dafür, daß das Gefeb den armen Mann 
in diefem feinem Eigenthum fchüße, fogar gegen den Auspfänder, 
Wir haben für dergleichen Punkte gar gute Gefeße in dem alten 
Dorf, kann ich Euch fagen. Ein armer Mann, mag er auch noch 
fo verfchuldet fein, kann fih heutzutage noch an eine Maffe von 
Kniffen halten und dabei alle Gerichtshöfe in's Geficht hinein aus- 
lachen. Ich habe Burfche gekannt, die für zweihundert Dollars 
[huldig waren, und fie behielten gute dreihundert Dollars für ſich, 
obſchon die meiften ihrer Schulden von denfelben Gegenftänden her⸗ 
rührten, die man ihnen nicht mehr abnehmen durfte!” 

Welch’ ein Gemälde ift dieß! Und doch — iſt es nicht nach dem 
Leben gezeichnet? Ein Zuſtand der Gefellfhaft, in welchem man 
einerfeits zu Nuß und Frommen des Haushalts eine Schuld für . 
eine Kuh contrahiren, und den Gläubiger, wenn er Bezahlung fucht, 
auslachen kann, andererfeits die Gefeßgeber und Berwaltungbeam- 
ten fih zu Werkzeugen einer Bande hergeben, die, allen fchriftlichen 
Verträgen zum Trotz, eine Klaſſe von Mitbürgern ihrer Eigen- 
thumsrechte berauben will! Dieß heißt wahrhaftig die. Mücken 


an» 


276 


feigen und das Kameel verfhluden — und hiefür kein anderer 
Grund, als das Haſchen nah Stimmen! Kann da wohl wirklich 
Jemand im Ernf erwarten, daß eine Gemeinſchaft unter dem Schuß 
einer weifen gerechten Borfehung lange zu beftehen vermöge, wenn 
derartige Dinge nicht nur Taltblütig verfucht, fondern auch ausge- 
führt werden? Es ift Zeit, daß die Amerikaner anfangen den 
Stand ihrer Verhätniffe zu fehen, wie er in der Wirklichkeit if, 
nicht wie er fih in den Reden der Gouverneure, in den Ergüffen 
des vierten Juli und in den Wahladreffen ausnimmt. Ich weiß, 
daß ich mit Wärme fehreibe; aber ich fühle aud warm und ſchreibe 
wie ein Dann, welder fühlt, daB dem fchändlichen Verſuch, ihn 
zu berauben, von den Machthabern fogar Vorſchub geleiftet wird, 
während es doch, der viel gerühmten Moral und Einfiht des Lan— 
des zufolge, ihre Heilige Pflicht wäre, einem derartigen Unweſen 
mit der ganzen Gewalt ihres Anſehens entgegenzutreten. Ein Fluch 
— ein ſchwerer Fluch muß in ehefter Zeit alle Diejenigen treffen, 
welche bei einer folhen Krifis die ernſten Obliegenheiten ihres Am» 
te8 verabfäumen. Ja, felbft Diejenigen, welche unter ſolchen Um— 
fänden ihre Zwede erreichen — wenn es anders fo weit fömmt — 
werden zuleßt Verwünfchungen häufen auf die Werkzeuge, die ih— 
nen zu ihrem Siege halfen *). 

„Er Hält ausgezeichnete Vorträge über Futtalverhältniſſe“ 


277 


(Zofhua nahm e8 mit jener Sprache nicht fonderlich genau, obfchon 
er tm Wefentlichen fo gut wußte, was er ſprach, wie Manche, die 
hohe Stellen einnehmen) Zinshühner und Frohntage. Wir erwar- 
ten ſehr viel von dieſem Mann, der für ſeinen Beſuch gut bezahlt 
wird. 

„Und wer zahlt ihn wohl? — Der Staat?" 

„Rein, — fo weit haben wir's bis jest noch nicht gebracht, 
ohfchon Einige glauben, im Lauf der Zeit werden derartige Leiſtun⸗ 
gen dem Staat zufallen. Borderhand werden die Pächter nad) 
Maagabe ihrer Rente um fo und fo viel für den Dollar oder fo 
und fo viel für den Acer befteuert, und in diefer Weife bringt 
man das erforderliche Geld zufammen Allerdings meinte einer 
unferer Borlefer vor einiger Zeit, das Geld fei gut angelegt, und 
Jeder follte über feine Zahlungen ein Buch führen, denn die Zeit 
fet nicht fern, wann er e8 mit doppelten Intereffen zurückerhalten 
werde. Jetzt zahlt Ihr für eine Reform, fagte er, ‚und ift fie 
errungen, fo wird fich ohne Zweifel der Staat gegen ung Alle jo 
tief verpflichtet fühlen, daß er die vormaligen Grundherrn fort und 
fort befteuert, bis wir all’ unfer Geld und noch mehr Dazu wieder 
zurückhaben.““ 

„Das wäre eine recht artige Speculation. Ja, ſo müßte ſich's 
recht ſchon ausnehmen.“ 

„Freilich; die Operation iſt nicht ſchlecht, und man zehrte da= 
bei vom Feind, wie man ſagen koͤnnte. Und ſo iſt's auch recht, 
denn unſer Volk iſt nicht ſo einfältig, vom eigenen Fett zehren zu 
wollen, kann ich Euch ſagen. Hätten fie dieß im Sinn, fo brauch— 
ten fie feine Gefellichaften. Nein, wir haben einen Zwed, und 
wenn man einen Zweck hat, fo ift man gemeiniglich fcharf dahinter 
her. Natürlich laffen wir nicht Alles, was wir möchten und mei- 
nen, in die Deffentlichkeit Eommen, und Ihr werdet Leute unter 
ung finden, die ftandhaft in Abrede ziehen, daß die Antirenters 
etwas mit dem Inſchenſyſtem zu jchaffen haben. Doch Nies 


278 


mand muß glauben, daß der Mond ganz von Käfe fei, wenn 
er nicht Luft dazu hat. Einige unter und verlangen, Nie- 
mand folle mehr als taufend Acres Land befiken, während 
Andere der Anficht find, die Natur habe hier felbft das Ge- 
feb gegeben, und Niemand folle mehr eignen dürfen, als er 
brauche.“ 

„Und welcher Seite wendet Ihr Euch zu? Habt Ihr Euch 
für eine von diefen Anfichten entfchieden ?" 

„Richt gerade — ich nehm's nicht fo genau damit, wenn ich 
nur eine gute Farm kriege. Am liebften wäre mir ein Gütchen 
mit bequemen Hauseinrichtungen und in einem Stande, daß man 
auch etwas darauf erzielen kann. Für dieſe zwei Grundfähe wollte 
ich, glaube ich, einftehen; ob's aber vierhundert Acres oder vierhun⸗ 
dert fünfzig, meinetwegen auch fünfhundert fein follen, — in dies 
fem Stüde will ih mich nicht unrecht finden laſſen. Ich denke, 
: alle derartige Schererei wird ein Ende haben, wenn’ einmal zur 
Theilung fömmt; mit der Theilung ſelbſt aber mag ich mich nicht 
befaffen. Denk' wohl, die Stadtbeamtung und was fonft noch bei- 
tragen mag, läßt die Reihe auch an mich kommen, und Hilft mir 
zu meinem Recht. Ich bin dann fat mit jeder Farm zufrieden, 
die der junge Littlepage hat, obſchon mir eine im Hauptthal da lic- 
ber wäre, als eine abgelegenere. Doch, wie gefagt, ich bin in die- 
ſem Stücke nicht gerade eigen." 

„Und wenn man Euch die Wahl läßt, was glaubt Shr denn 
Mr. Littlepage für die Farm bezahlen zu müſſen?“ 

„Dieß hängt von den Umftänden ab. Die Infchens insge- 
ſammt hoffen wohlfeil wegzufommen. @inige Leute meinen, es fei 
am beften etwas zu bezahlen, da man, wenn's einmal fo weit kommt, 
das Gefeß eher für fi gewinnen kann, während Andere nicht ein⸗ 
jehen fönnen, zu was das Zahlen eigentlich dienen fol. Diejeni- 
gen, welche ſich mit Geld abfinden wollen, vechnen meift auf Erle- 
gung des Kapitals für die erften Renten.” 


279 


„Ih kann mir nicht denken, was Ihr unter Erlegung des Ka— 
yitals für die erften Renten verfteht." 

8 if einfach genug, wenn Ihr nur erſt die Sachlage Eennt. 
Diefe Ländereien wurden, als man fie dem Urwalde entreißen 
mußte, zu ſehr niedrigem Preis erlaffen, damit nur die Leute 
kamen, um fich bier anzufiedeln. Dieß üt fo die Art, wie man's 
in Amerika machen muß, jonft kommen die Leute nicht. Biele 
Pächter haben ſechs, acht oder zehn Jahre gar Feine Rente bezahlt; 
dann aber entrichteten fie für die Dauer von drei Leben, wie man's 
nennt, nur ſechs Pence für den Acre oder ſechs und einen Viertel— 
dollar für Hundert Acres. Ihr feht, dieß gefchah blos deßhalb, um 
die Leute zum Herkommen zu reizen, und aus dem Preiſe, der 
bezahlt wurde, könnt Ihr entnehmen, welche harte Zeit die Leute 
gehabt haben müſſen. Nun find Einige von unferem Volk der 
Meinung, die ganze Zeit müfje gezählt werden — die rentenfreie 
eben fo gut wie die, in der bezahlt wurde — in welcher Weife ? 
dieß will ich Euch erklären: denn Ihr müßt wiffen, daß ich mid 
nicht in diefe Sache eingelaffen habe, ohne vorher genau nach dem 
Rechten und Unrechten zu ſehen.“ 

„Sp erklärt es denn. Ich bin auf Eure Erklärung begierig 
und Ihr dürft mir fie nicht vorenthalten.” 

„Ei, Ihr habt's ja gewaltig eilig, Freund Griefenbach, oder 
wie Ihr heißen mögt. Aber die Erklärung follt Ihr haben, wenn 
Ihr es wünſcht. Nehmen wir nun einen Pachtvertrag an, der 
nach dreißig Sahren abgelaufen ift — in zehn wurde nichts bezahlt, 
und in zwanzig betrug die jährliche Rente ſechs Pence. Gut; hun— 
dert ſechs Pence machen ſechs Schillinge, und zwanzigmal fünfzig 
macht taufend. Dieß ift die ganze Rente, welche in dreißig Jahren 
bezahlt wurde. Theilt man nun taufend durch dreißig, fo bleiben 
dreiunddreißig Schillinge und ein Bruchtheil" — Joſhua rechnete 
gleich den Amerikanern feiner Klaffe ſchnell und richtig — „als 
Durchfcehnittsrente von dreißig Jahren, Nehmen wir die dreiund- 


280 


dreißig Schillinge zu vier Dollars an, denn der Unterſchied ift ver- 
dammt Klein, fo haben wir die Intereffen, welche zu fieben Prozent 
aus einem Kapital von mehr als fünfzig und weniger als fechszig 
Dollars fließen. Da man in folhen Dingen nah freifinnigen 
Grundlagen handeln muß, fo jagt man, Littlepage folle die fünf- 
zig Dollars nehmen und eine Verfaufsurfunde über die hundert 
Acres ausftellen.” 

„Und wie hoch mag fich nunmehr die Rente von hundert Aeres 
belaufen? Ich denke, er könnte heutzutage wohl mehr als ſechs 
Pence erzielen." 

„sa wohl. Die meiften von all’ den Farmen laufen mit dem 
zweiten und einige mit dem dritten Vertrag ab. Bier Schillinge 
für den Acre geben, wie die Umftände fich verhalten, ungefähr die 
Durchſchnittsrente.“ 

„Ihr glaubt alſo, der Grundherr ſolle die Rente eines ein- 
zigen Jahrs als Kaufpreis für die ganze Farm annehmen?" 

„Ich betrachte die Sache nicht in diefem Licht. Er erhält 
fünfzig Dollars für hundert Acres. Ihr vergeßt, daß die Pächter 
ihre Farmen mit lauter Renten oft und oft jchon bezahlt haben. 
Seht Tpüren fie, daß es einmal genug ift, und daß man hohe 
Zeit hat, mit dem Zahlen Einhalt zu thun.” 

So außerordentlich dieſes Raifonnement auch den meiften Per⸗ 
fonen erjcheinen mag, habe ich doch feitdem gefunden, daß die An- 
ficht unter den Antirenters ſehr beliebt iſt. „Sollen wir fo fort« 
machen und in ale Ewigkeit Renten zahlen?” fragen fie mit lo⸗ 
gifcher und tugenphafter Entrüftung.” 

„Und was mag in diefem Landestheile der Durchfchnittswerth 
einer Farm fein, die hundert Acres zählt?" fragte ich. 

„Bon zweifaufend fünfhundert, bis dreitaufend Dollars. Er 
könnte noch höher ftehen, aber die Pächter mögen feine guten Ge⸗ 
bäude auf die Farmen ſetzen, weil der Grund und Boden doch 
nicht ihr Eigenthum iſt. Ich hörte einmal einen unjerer Haupt- 


281 


haͤhne fich beklagen, daß er nicht vorausgefehen habe, was für 
günftige Zeiten kommen würden, ſonſt hätte er, flatt fein altes Haus 
auszubeflern, ein neues gebaut. Doc man kann nicht Alles vorher- 
wiſſen, und wahrfcheinlich find auch jeßt noch Viele dieſer Anficht. “ 

„Ihr meint alfo, Herr Littlepage follte für ein Grundflüd, 
das zweitaufend fünfhundert Dollars werth ift, fünfzig Dollars 
nehmen? Dieß ſcheint mir ſehr wenig zu fein.“ 

„Ihr vergeßt die bezahlte Rente und die Arbeit, welche der 
Pächter auf der Farm geleiftet hat. Zu was könnte man fie auch) 
brauchen, ohne den Fleiß, der auf fie verwendet wurde?” 

„Sa, ja — ich verftehe. Und zu was würde die Arbeit gut 
fein ohne das Land, auf welchem fie verrichtet wurde?" 

Dieß war eine etwas unvorfichtige Frage einem fo mißtraui- 
hen und verfchmigten Mann gegenüber, wie Jofhua Brigham war. 
Der Kerl warf mir einen lauernden, argwöhnifchen Bli zu; aber 
eh’ er noch Zeit zu einer Antwort fand, rief ihm Miller, vor dem 
er gewaltigen Reſpekt hatte, zu und forderte ihn auf, nach den 
Kühen zu fehen. 

Ich hatte alfo Gelegenheit gehabt, in Betref eines fo intereſ⸗ 
fanten Gegenftandes, ald mein Recht an meine eigene Habe war, 
die Anfichten eines Miethlings zu hören, der mit meinem Gelde 
bezahlt wurde. Ich habe feitdem die Weberzeugung gewonnen, daß 
dergleichen Grundfäße in den „angeftedten Diſtrikten“ eifrig in 
Umlauf gefeßt worden find und bei dem „Mark” des Landes großen- 
theil8 in dem Geruche fehr vernünftiger Doftrinen ftehen, obſchon 
die Regierung in ihren Verhandlungen fie ganz außer Acht läßt, und 
die ganze Sache eben behandelt, als jeien die Pächter nichts als 
Märtyrer harter Bachtverhäftniffe, die Grundherren aber ihre Zucht- 
meifter, die gegen ihre Untergebenen bald mit größerer, bald mit 
geringerer Milde verfahren. Natürlich wechfelt das Raifonnement 
einigermaßen, je nachdem dieß durch Umflände oder Thatjachen be- 
endigt wird. Aber ein großer, ein fehr großer Theil der Pächter ift 


282 


ganz und gar von Joſhua Brighams Geifte Durchdrungen, und dem⸗ 
gemäß, was ich bereits gefehen und gehört habe, Tann es feinem 
Zweifel unterliegen, daß es quasi Geſetzgeber unter und gibt, 
welche, ftatt über einen folchen Gegenftand einer männlichen, einzig 
heilbringenden Doktrin das Wort zu reden und die verblendeten 
Leute beſſer zu belehren, gerade den Unftand, daß dergleichen An= 
fihten beftehen, für einen Grund angeben, es jet durchaus nöthig, 
Zugeftändniffe zu ertheifen, um den Frieden auf die wohlfeilfte 
Weiſe zu fihern. Diefer wohlweife Grundſatz einer Gefebgebung, 
welche fih zu Aufrechthaltung der Ruhe des Rechtes begibt, if 
bewundernswürdig geeignet, Verbrecher zu erzeugen, und wenn er 
zum beften Aller, die zufälligerweife ein Gelüft haben an ihres 
Nachbars Eigenthum, zur Ausführung kommt, fo muß in Furzer Zeit 
unfer Staatenverband fih zu einem wahren Paradies von Schur- 
fen umgeftalten. | 

Was Joſhua Brigham betrifft, jo ſah ich ihn denfelben Abend 
nicht wieder, da er mit Einbruch der Nacht Urlaub nahm und Die 
Farm verließ. Wohin er ging, weiß ich nicht; aber zu weldem 
Zwede er fih von ung entfernte, Eonnte mit nicht länger ein Ge— 
heimniß jein. Da fih die Familie zeitig zur Nuhe begab und 
auch wir uns jehr ermüdet fühlten, fo hatten alle Hausgenoffen 
ſchon um neun Uhr ihr Lager aufgefucht, und erfreuten fi, wenn 
ich von mir felbf einen Schluß auf Andere ziehen darf, bald eines 
tiefen Schlafes. Bevor ich übrigens Miller „gute Nacht” fagte, 
erzählte er mir von dem Meeting des nächften Tages, und theilte 
mir feine Abficht mit, demfelben anzuwohnen. 


Dreizehntes Kapitel. 
„Er kennt dad Spiel; wie richtig er fein Luv hält!“ 
„Still, ſag' ich!““ 
König Heinrich VI. 


Nachdem wir am andern Morgen bei Zeiten das Frühſtück 
eingenommen hatten, bereitete ſich die Familie zum Aufbruch vor; 
denn nicht nur Miller, ſondern auch ſein Weib und ſeine Tochter 
gedachten nach Little Nee" hinunterzugehen — fo hieß nämlich in 
dieſem Bruchtheil des Univerſums faſt allgemein der kleine Weiler, 
um ihn von dem eigentlichen „Neeft” zu unterſcheiden. Ich fand ſpäter, 
wie in den ontroverfen fogar diefer Umftand gegen mich aufgeführt 
und es mir als ein crimen laesae majestatis gedeutet wurde, daß 
ein Privathaus den Major des Schluſſes monopolifirte, während 
ein ganzer Ort fih mit dem Minor begnügen mußte — und noch 
obendrein ein Ort, mit zwei Wirthshäufern, welche ausfchließlich 
Eigenthum des Volks waren: denn es gibt unter dem Volk fo gut 
eine Ausfchließlichkeit, wie unter den Ariftofraten, namentlich bei 
allen Dingen, bei welchen Gewalt oder Vortheil in Frage kümmt. 
In Beziehung auf die beiden letzteren Punkte. war fogar Joſhua 
Brigham weit ariftofratifcher, als ich, und es muß zugeflanden 
werden, daß die Amerikaner ein fehr humaner Menfchenfchlag find, 
fingemal man wohl nirgends ein Volk findet, welches der Anficht 
ift, daß ein Bankerutt Anfpruch an öffentliche Gunft verleihe *). 


2) So ungemein ed auch erjcheinen mag, fo ift bieß a eine Wahrheit, 
weldye ihren Grund fogar in einem achtbaren Zuge hat — nämlid in dem Wunſch, 


284 


Was die beiden „Nefter” betrifft, fo wäre ohne Zweifel der 
Borrang der Namen wirklich als eine Frage von Belang aufge- 
griffen worden, wenn fich’S bei der Agitation nicht um weit wich- 
tigere Gegenflände gehandelt hätte. Ich habe einmal in Frankreich 
von einem Prozeß über einen Namen gehört, welcher in jenem Lande 
fo lange ſich einer Berühmtheit erfreute, daß fein Urfprung, wie ſich 
aus der Controverſe ergab, weit über dag Alter aller Urkunden zurüd- 
reichte — Über einen Namen, der auch in den Annalen unferer eige- 
nen Republik fich einen hohen.Ruf erwarb. Ich meine damit das 
Haus de Graffe, welches vor der Revolution eine Stadt im füd- 
lichen Theil des Königreich& bewohnte und vielleicht auch noch jetzt 
bewohnt. Diefe Stadt führt den Namen Graffe und ift durch 
die Verfertigung von Lurusartikeln faft eben fo befannt, wie die 
Familie durch ihre Waffenthaten. Bor ungefähr einem Jahrhun⸗ 
dert foll der Marquis de Graffe gegen feine Nachbarn in einen 
Prozeß verwidelt worden fein, in welchem ſich's um Herftellung 
des Ihatbeftandes handelte, ob die Familie der Stadt oder die 
Stadt der Familie den Namen gab. Der Marquis behauptete in 
dDiefem Kampfe das Feld, obichon durch diefen neuen Sieg fein 
Bermögen fehr gefehmälert wurde. Da mein Haus oder vielmehr 
der Vorgänger deffelben gebaut wurde und feinen Namen erhielt, 
als das nunmehrige LittleNeft noch jungfräulicher Urwald war, 
fo follte man glauben, feine Anfprüche an die Priorität des Be⸗ 
fißes feien über allen Zweifel erhoben, obſchon vielleicht bei ges 
richtlicher Verhandlung die Sache fich anders herausftellen dürfte. 
Es gibt unter und zwei Arten der Gefchichtichreibung, je nachdem 
auf öffentliche oder Privatverhältniffe Rücficht genommen werden 
ſoll; die eine ift nahezu fo wahr, als gewöhnlidy, die andere aber 
ſtets eine Ausgeburt der menfchlichen Einbildungsfraft. Alles hängt 
dem ‚m Mnglüdlichen fortzuhelfen. Es ift übrigend_zuverläffig ein großer Irrthum, 


‚man bei einer Erwählung für öffentliche Stellen ein anderes Motiv gelten 
läßt. als die Befähigung. D. 8. 


285 


jo jehr von Majoritäten ab, daß diejenige Meberlieferung als die 
bündigfte erfcheint, welche von den meiften am liebften geglaubf. 
wird; denn unter dem Syſtem der Zahlen nimmt man wenig Rüd- 
fiht auf die triftigeren Momente, als da find, Sachkenntniß und 
Sorfchungseifer, weil in Allem nur die Stimmen gezählt: wer- 
den, und drei Lügner mehr Gewicht haben, als zwei Wahrheits⸗ 
freunde. Daß diefe Afterhiftoriographte auch in der Antirenten- 
Controverſe jehr häufig in Anwendung Eömmt, Tann man oft ge= 
nug bemerken, denn mit jedem Tag tauchen Thatfachen auf, die 
längft in den Gräbern der Vergangenheit gefchlafen haben. Diefe 
Thatfachen follen den ganzen Rahmen für die Gefchichte des 
Staats und der Kolonie geben, färben aber jchwarz, wo der 
Pinfel urfprünglich weiß aufgetragen, und bringen die Schlag 
lihter an, wo man vordem fletd nur Schatten gefehen hatte. 
Mit einem Worte, man trägt feine Mährlein vor, wie fie am 
beften mit den gegenwärtigen Anfichten zufammenftimmen, ohne fich 
darum zu fümmern, ob fie auch im Einklang mit dem Sachverhal⸗ 
ten ſtehen. 

Es war die Abficht Tom Millers, mir und Onkel Ro einen 
einfpännigen Wagen zu geben, während er, fein Weib, Kitty und 
eine Magd in einem zweifpännigen Fuhrwerk, das fich beffer für 
eine ſolche Fracht eignete, nach dem „Little⸗Neeſt“ zu fahren 
gedachte. Nachdem diefe Einleitungen getroffen waren, verließen 
wir, als die Uhr über der Farmhausthüre eben neun ſchlug, ins⸗ 
gefammt den Platz. Ich Ienkte mein Roß ſelbſt — und mein 
war ed in der That; denn jeder Huf, das Fuhrwerf, die Ader- 
baugeräthihaften, Kurz Alles in der Neflfarm gehörte den alten 
Geſetzen zufolge mir fo gut an, wie der Hut, den ich auf meinem 
Kopf trug. Allerdings waren die Miller nun ſchon fünfzig Jahre 
oder drüber, ja faft jechzig im Befiß, und nad) der neuen Deu- 
tungsmethode mögen wohl Einige glauben, wir hätten für Be- 
arbeitung des Feldes und für Benützung des Viehs und der Uten⸗ 


286 


filien fo lange Lohn bezahlt, daß im moralifchen Sinn der Rechts⸗ 
titel für mich verloren gegangen fei, um an Zom Miller zu gelan- 
gen. Wenn die Benübung ein Recht bedingt, warum follte dieß 
nicht eben fo gut von einem Wagen und einem Pferde, als von 
einer Farm gelten? 

Als wir den Platz verließen, blickte ich begierig nach dem 
Nefthaufe hin, in der Hoffnung, ich möchte irgend eine theure 
Geftalt am Fenfter, auf dem Rafen oder auf der Piazza zu 
Geficht bekommen; aber e8 erjchien Feine Seele, und wir trab- 
ten in kurzer Entfernung hinter dem andern Wagen die Straße 
hinab, uns über Dinge unterhaltend, wie fie ung eben zu Sinne 
famen. Die Entfernung mochte ungefähr anderthalb Wegftun- 
den ausmachen, und die Borlefung, welche die große Ange⸗ 
legenheit des Tages war, follte um eilf Uhr beginnen. Wir 
brauchten daher nicht fehr zu eilen, und ich wollte Lieber das 
Thier langſam feinen eigenen Gang gehen laſſen, als es an- 
treiben und vielleicht ein paar Stunden früher anlangen, als 
erforderlich, war. In Folge unferes Tangfamen Fahrens verloren 
wir daher Miller und feine Familie bald aus dem Gefiht, da un⸗ 
feren Wirthen darum zu thun war, den Tag fo viel wie möglich 
zu benüpen. 

Natürlich war der Weg mir und meinem Onkel vollfommen 
bekannt; aber felbft wenn auch Dieß nicht der Fall gewefen wäre, 
hätten wir doch Fein Berirren zu beforgen gehabt, da wir nur 
der allgemeinen Richtung des breiten Thales, durch welches er Tief; 
zu folgen brauchten. Außerdem bat auch Miller uns fehr rüd- 
fichtsvoll belehrt, daß wir an zwei Kirchen, oder an einer Kirche 
und einem Meetingshaus vorbeifommen müßten, deren Thürme, 
weil fie auf dem Weg faft immer zu fehen waren, uns als Weg» 
zeiger dienten. In Beziehung auf den Ausdrud „Meetinghaus" 
wirft fich die Frage auf: Tiefert er nicht an fich fchon einen maaß⸗ 
gebenden Beweis von der thörichten Inconſequenz jenes weifeften 


287 


aller Erdenweſen, des Menfchen? Cr wurde eingeführt im Widers 
ſpruch und als Oppofition gegen den vermeintlichen Gößendienft, 
welchen man mit dem Gebraud des Worts „Kirche” in Verbin⸗ 
dung zu bringen beliebte, und zu einer Zeit, als gewiſſe Sekten 
Anſtoß daran nahmen, die Orte ihrer Gottesverehrung in lebterer 
Weiſe bezeichnen zu hören, während heutzutage diefelben Sektirer 
gute Luft haben, die ausfchliegliche Führung des vorgefchriebenen 
Worts durch Eonventikel, welche es ſtets beibehalten haben, für 
höhft anmaßend, und fogar für ein wenig „ariſtokratiſch“ zu 
erklären. Ich fürchte beinahe, daß unſere Ultras in der Politik, in 
der Religion, in der Breiheitsliebe und in anderen menjchlichen 
Bortrefflichkeiten einigermaßen geneigt find, in ihrem ercentrifchen 
Kreifen dergleichen in fich zurücdgehende Bahnen zu machen, um 
zuleßt ziemlich in der Nähe der Plätze wieder anzulangen, von 
denen fie ausgegangen find. 

Der Weg zwiichen dem Nefthaus und dem Dörflein Littleneft 
ift ländlich und ganz fo angenehm, wie man ihn gewöhnlich in 
Landestheilen findet, die weder Wafferpartien, noch eine Gebirgs⸗ 
feenerie bieten. Die Gegenden New-Morks find, wenn man fie mit 
den edeln Landichaften vergleicht, die man in Stalien, in der 
Schweiz, in Spanien und in den fchönern Theilen Europa’s findet, 
felten — ja ich kann wohl fagen, nie großartig; indeß haben wir 
doch fehr viele Striche, die in ihren künſtlichen Beigaben nur eini⸗ 
ger Vollendung bedürften, um ungemein lieblich zu werden. Das⸗ 
jelbe ift nun der Ball bei dem Hauptthale von Ravensneft, wel- 
ches in jenem Augenblide, als wir. durch daffelbe hinfuhren, ung 
ein überraſchendes Bild ländlichen Ueberfluffes und Ländlicher Ge⸗ 
mächlichfeit bot, wie man Beides felten in der alten Welt fieht; 
denn die Abwefenheit der Einzäunugen und die in den Dörfern 
zufammengehäuften Wohnungen geben dort den Feldern ein nacktes, 
verddetes Anjehen, wie gut fie auch angebaut fein, und wie üppig 
ihre Ernten daftehen mögen. 


„Dieß if ein Beſitzthum, für das man wohl einen Kampf 
wagen darf," fagte mein Onkel, als wir langfam dahintrotteten, 
„obichon es bisher nicht jonderlich ergiebig für feinen Beſitzer war. 
Das erfte halbe Jahrhundert eines derartigen amerifanifchen Eis 
genthums trägt dem Grundherrn felten viel weiter ein, als Mühe 
und Berdruß.” 

„Und nach diefer Zeit kommt der Pächter her, um es als Lohn 
für feine Mühe zu einem ihm beliebigen Preis an fih zu reißen.“ 

„Ach, welche Beweife allenthalben, wo immer das Auge ruht, 
von der Selbftfucht des Menfchen und von feiner Unfähigkeit, 
ohne Zügel die Angelegenheiten der Gefammtheit zu ordnen! In 
England ftreitet man fich mit den Grundherrn, die eine wirkliche 
Ariſtokratie bilden und in der Gefehgebung fihen, über die Art, 
wie diefe fich und den Ertrag ihrer Länderei ſchützen, während hier 
der wahre Eigenthümer des Bodens fich gegen die Macht der Zah⸗ 
len, gegen das Volk, welches bei ung die einzige Ariftofratie bil- 
det, wehren muß, um fein Eigenthumsrecht in der einfachiten und 
nadteften Form zu erhalten. Diejen beiden Bedrückungen liegt ein 
gemeinfames Lafter zu Grund — das Lafter der Selbſtſucht.“ 

„Aber in welcher Weife find Mißbräuche, wie dieienigen, über 
welche wir ung bier beklagen — Mißbräuche von der Tchändlichften 
Art, da der Unterdrüder fo viele find, und fie durch ihre Zahl ſich 
aller Berantwortlichkeit entheben — zu vermeiden, wenn man dem 
Volk das Recht gibt, fich felbft zu beherrſchen?“ 

„Gott fei dem Lande gnädig, wo ein foldhes Selbftregiment 
im buchftäblichen Sinne des Worts befteht, Hugh! Der Ausdrud 
ift blos conventionell und bedeutet, im geeigneten Lichte betrachtet, 
eine Regterung, in welcher die Quelle der Gewalt in der Ge- 
jammtheit der Nation liegt und nicht von einem einzelnen Sou⸗ 
veräne ausgeht. Wenn ein Volk, das feinen Erfahrungen eine 
paſſende Erziehung verdankt, ruhig feine Geihäftsführer wählt 
und ohne Borurtheil an's Werf geht, um eine Reihe von Prinzipien 


289 


aufzuftellen, welche das Grundgefeb oder die Bonftitution bilden 
ſollen, fo ift die Mafchine auf dem rechten Wege und wird ihrem 
Zwede gut genug entjprechen, jo lange fie auf demfelben erhalten 
werden Tann; aber dieſes Kortrennen, dieſes Aendern der Grund« 
ſätze, fo oft eine politijche Partei Rekruten braucht, gibt zu einer 
Tyrannei in der fchlimmften Form Anlaß — zu einer Tyrannei, 
weldhe für die wahre Freiheit eben fo gefährlich if, wie die Heu- 
chelei für die Religion.” 

Wir näherten und nun der St. Andrews⸗Kirche und der Rec- 
torei mit ihrer Scholle Landes, welche hart an den Kirchhof oder 
— wie die Amerikaner fi ausdrüden — an den „Gräberhof" 
grängte. Seit ich das Pfarrhaus mit feiner Umgebung zum lebten- 
mal gejehen, hatte es augenjcheinlich weientliche Berfchönerungen 
erfahren. Es war Gefträuch angepflanzt, die Berzäunungen befan- 
den fich in guter Ordnung, der Garten war zierlich und gut bear- 
beitet, die Felder fahen trefflich aus, und Alles deutete darauf hin, 
daß der „neue Herr auch eine neue Ordnung gebracht hatte.” Sein 
Borgänger war ein weinerlicher, unzufriedener, engherziger, ſelbſt⸗ 
füchtiger und träger Pfaffe gewefen — ein Charakter, der fat auf 
einer eben fo niedrigen Stufe fteht, wie der des offenfundigen Ber 
brechers; aber Mr. Warren erfreute fich des Rufs eines frommen, 
wahren Chriften, der fein heiliges Amt mit inniger Freudigkeit er⸗ 
füllte und feinem Gott diente, weil er ihn liebte. Ich weiß voll- 
kommen zu würdigen, wie befchwerlich das Leben eines Landgeiſt⸗ 
lichen if} und mit welch’ einem dürftigen Gehalt er fich gemeiniglich 
behelfen muß, während er doch unendlich mehr verdiente, wenn feine 
Belohnung nach zeitlichen Dingen zu ermeffen wäre. Wie jedes 
andere, hat übrigens auch dieſes Gemälde feine verjchiedenen Set- 
ten, und hin und wieder treten Menſchen aus Beweggründen in den 
Kirchendienft, die nicht in entfernter Beziehung zu denjenigen ſte⸗ 
hen, welche den eigentlichen Impuls dazu: geben jollten. 

„Mr. Warren hat feinen Wagen vor der Thüre ſtehen,“ be- 

Ravensneft. | \S 


290 


merkte mein Onkel, ald wir an der Rektorei verbeifamen. „Er 
wird doch nicht bei einer folchen Gelegenheit auch das Dorf be- 
fuchen wollen ?” " 

„Wenn das Zeugniß, welches ihm Patt gibt, richtig iſt, fo 
finde ich dieß fehr wahrfcheinlich," entgegnete ih. „Sie fagt mir, 
er laſſe fih’8 eifrig angelegen fein, den Geift der Habfucht zu be- 
fhwören, der im Lande immer weiter greift, und habe fogar — 
zwar in allgemeinen Ausdrüden, aber doch mit Kühnheit — gegen 
die Grundfäge gepredigt, welche bei Gelegenheit der Antirenten- 
frage aufgetaucht feien. Wie ich höre, ftrebt der Geiftliche im Dorf 
nah Popularität und hält’s in feinen Predigen fowohl, als in fei- 
nen Gebeten mit den Antirenters. ” 

Es wurde jebt nichts mehr gefprochen, fondern wir fuhren 
weiter und gelangten bald in einen breiten Streifen Gehölz, ber 
mit dem jungfräulichen Urwald zufammenhing. Diefer Wald, der 
wohl taufend Acres Landes bededte, erftredte fich von den Bergen 
herunter über unebnes und nicht fehr werthvolles Land, welches 
von der Art-verfchont blieben war, damit es den Bedürfniſſen 
fpäterer Zeiten Rechnung trage. Es war daher im vollftien Sinne 
des Worts mein Eigenthbum, und fo auffallend es auch fcheinen 
mag, wurde unter den Anfchuldigungsgründen gegen mich und meine 
Vorfahren auch der vorgebracht, Daß wir es abgelehnt hätten, 
diefen Strih zu verpachten. So wurden wir aljo einer- 
ſeits verläftert, weil wir unfer Land in Pacht gegeben hatten, und 
anvererjeit8 machte man ung den Borwurf, daß dieß von ung nicht 
geichehen fei. Die Sache ift übrigens erklärlih: man erwartete 
von mir, wie von allen größeren Grundbefitern, daß wir unfer 
Eigenthbum fo viel al8 möglich zum Beften anderer Leute benügen 
follten,, fintemal dieſe andere Leute der Meinung find, fremde Habe 
fei nur da, um ihnen Bortheil zu bringen. 

Wir mußten etwa eine Biertelftunde durch den Wald fahren, 
bis wir wieder in's Freie gelangten, von wo aus wir noch eine 


291 


Bleine Stunde Wegs bis nach dem Dörflein hatten. Zur Linken 

Son uns erftredte fih das Gehölz nicht weiter als auf etwa hun⸗ 
Wert Ruthen, und endigte dann an dem Ufer des Flüßleins oder des 

Bächleins — wie es unpaffender Weife genannt wird, da es nur 

Hundert Fuß breit it — welches unter dem bergigen Grund, der 

ch hieher ausdehnte, dahinfloß. Rechts aber lief der Wald eine 
gute Strede weiter, bis er fich mit anderen Theilen des Forfteg, 
die zu den angrängenden Farmen gehörten, vermifchte. Wo Wege 
durch ein Gehölz gehen, ift es in Amerika nicht ungewöhnlich, daß 
zu beiden Seiten der Straße ein zweiter Baumwuchs aufſchießt, 
und fo war es auch hier der Fall; diefer Waldweg war nach feiner 
ganzen Länge mit großen Büfchen von Fichten, Schierlingstannen, 
Ahorn und Kaftanien gefäumt. An einigen Stellen liefen diefe faft 
bis an den Pfad vor, während an andern der Raum auf eine 
ziemliche Breite frei war. Wir wanden und durch dieſes Gehölz 
und hatten faft deffen Mitte erreicht, von der aus man nach Feinem 
von den mindeftens eine Viertelftunde entlegenen Häufern binfehen 
konnte. Die Ausficht nach vorn und hinten war in jeder Richtung 
auf ſechs oder acht Ruthen hin durch die jungen Bäume begrängt, 
und wir betrachteten ung eben die Stelle, als ein gedämpftes jchril- 
les, banditenartiges Pfeifen an unfere Ohren fchlug. Ich geftehe, 
daß mir bei diefer Unterbrechung durchaus nicht wohl zu Muth 
war, da ich an die Unterhaltung der vorigen Nacht dachte. Mein 
Onkel ſprang plöglih auf und griff inftinftartig nach der Stelle, 
wo eigentlich hätte ein Piſtol ſtecken follen, um einer folchen Erifis 
zu begegnen — eine Geberdung, aus welcher ich entnahm, daß au 
er glaube , er befinde fich bereits in den Händen der Philifter. 

Eine halbe Minute reichte übrigens zu, um uns über das 
wahre Sachverhalten zu belehren. Ich hatte kaum das Pferd ge- 
zügelt, um mich umgufchauen, als eine Reihe von Männern, ſämmt⸗ 
lich bewaffnet und verkleidet, in einer einzelnen Zeile aus dem Ge- 
büſch hervorkam und fich quer in dem Wege aufftellte. Es waren 


—X 


292 


ſechs jogenannte Inſchens, von denen jeder eine Büchſe, ein Pul- 
verhorn, einen Kugelbeutel und fonftige Fampffertige Ausſtattung 
bei fih führte. Die Verkleidung war fehr einfach, indem fie nur 
aus einer Art weiten Ealicojagdhemds und aus Beinkleidern beftand, 
fo daß die Perfon des Trägers volllommen verhüllt war. Den 
Kopf dedte eine Art Kaputze oder Maske, gleichfalls aus Ca⸗ 
lico, die mit Einfchnitten für die Augen, die Nafe und den Mund 
verfehen war. Ein fo ausftaffirter Menſch war natürlich nicht zu 
erfennen, wenn er fich nicht etwa durch ungewöhnliche Größe oder 
Kleinheit auszeichnete; jedenfalld war ein Mann von mittlerer 
Statur vollkommen fiher, fo lange er nicht redete und die Maske 
beibehalten werden konnte. Wie ich übrigens bald fand, veränder- 
ten Diejenigen, welche fprachen, ihre Stimmen und bedienten ſich 
dabei eines Jargons, welcher das unvollfommene Englifch der ein- 
gebornen Eigenthlimer des Bodens nachahmen follte. Obſchon wes 
der ih noch mein Onkel je zuvor einen von der Bande gefehen 
hatten , jo wußten wir doch im Augenblid, daß wir in diefen Per⸗ 
jonen die viel befprochenen Störer des öffentlichen Friedens — denn 
ih kann fie mit feinem andern Ausdrud Dezeichnen — vor uns 
hatten. Unter den Berhältniffen, in denen wir ung befanden, _ 
tonnte ohnehin nicht wohl ein Irrthum ftatt finden ; aber wenn wir 
fie auch anderswo getroffen hätten, jo würden die Tomahawks, 
welche ein paar diefer Leute mit fich führten, die Art, wie fie mar- 
ſchirten, und der fonftige Zubehör ihrer Mummerei ung augenblid- 
lich belehrt haben, womit wir e8 hier zu thun hatten. 

Mein erfter Gedanke war, den Wagen umzufehren und zu ver- 
fuchen, ob ich den trägen Gaul nicht in Galopp peitjchen könne. 
Zum Glüd blickte ich, ehe ich dieſen Verſuch machte, zurüd, um 
zu ſehen, ob für ein ſolches Kunftftüd Raum genug vorhanden fei, 
und nun bemerkte ich, daß ſechs andere von dieſen Inſchens hinter 
ung quer in der Straße aufgezogen waren, Unter ſolchen Umſtänden 
war es wohl das Klügfte, zur Sache eine gute Miene zu machen 


293 


und das Pferd dreift vorwärts gehen zu laffen, bis es von einem 
aus der Bande, der es am Zügel nahm, angehalten wurde. 

„Sage, Sago,” rief Einer, der den Häuptling zu ſpielen fchien 
und den ich als folchen bezeichnen will, in feiner natürlichen Stimme, 
obſchon er die indianifche Ausfyprache nachzuahmen verfuchte. „Wie 
gehen, wie gehen? — Wo komm’ Ihr ber, be? Wohin gehen, he? 
— Was Ihr jagen — leben Rent oder nieder mit Rent, he?“ 

„Wir find zwei Tſcharmans,“ entgegnete Onkel Ro in feinem 
verzweifeltften Dialeet; und die Abgejchmadtheit von Männern, 
welche der gleichen Zunge angehörten, aber ihre Sprache zu Zweden 
der Zäufchung entftellten, kam mir jo feltfam vor, daß ich mich 
gewaltig verfucht fühlte, den Kerlen in's Geficht zu lachen. „Wir 
find zwei Tſcharmans, die einen Mann über's Rentenzahlen fpre- 
chen hören, und bei Ddiefer Gelegenheit Uhren verkaufen wol- 
In. Sind feine Liebhaber für Uhren unter Euch, Shr guten 
Schentlemang?” 

Obgleich die Kerle, jo weit unfere angenommenen Rollen 
gingen, ohne Zweifel wußten, wer wir waren, und wahrjcheinlich 
auf unjere Ankunft gewartet hatten, fo verfing doch diefer Köder, 
denn es entitand jegt eine allgemeine Unruhe und Rührigkeit unter 
ihnen, woraud wohl zu erfehen war, daß diefer Vorſchlag ihnen viel 
Bergnügen machte, In einer Minute hatte fich der ganze Haufen 
nebft acht oder zehn weiteren, die aus dem nächften Gebüfche zum 
Borfchein kamen, um ung verfammelt, und wir wurden mit fanfter 
Gewalt, durch welche Die Burfche ihre Ungeduld an den Zag leg- 
ten, aus dem Wagen gehoben. Natürlich erwartete ich, daß alle 
die Schmucdfachen und Uhren, die nur von geringem Werth waren, 
augenblicklich verfchwinden würden; denn wer hätte auch daran 
zweifeln jollen, daß PBerfonen, die mit fo großartigen Raubver- 
fuchen umgingen, Bedenken tragen würden, auch in Eleinerem Maß⸗ 
ab ein Gejchäftchen mitlaufen zu laffen, wenn fich eine fügliche 
Gelegenheit dazu zeigte. Sch war jedoch im Irrthum, denn eine 


294 


Art unbegreiflicher Mannszucht hielt Diejenigen, welche vielleicht 
Luft dazu gehabt haben würden, und deren es wahrfcheinlich et⸗ 
liche in den Haufen gab, in jeweiliger Ordnung. Der Gaul blieb 
— hocherfreut, daß er ausruhen durfte — mitten in der Straße 
fteben, während man uns nach einem in der Nähe liegenden gefal- 
lenen Baumftamm hinwies, Damit wir daſelbſt unfere Raritätentrube 
aufftellten. Ein Dugend Uhren befand fich fchnell in den Händen 
eben fo vieler fcheinbarer Wilden, die über das blanke Ausſehen 
derjelben eine große Freude an den Tag legten. Während diefer 
Auftritt, der halb Mummerei, halb Natur war, vor fich ging, 
winfte mir der Häuptling nah einem Siß auf dem andern 
Ende des Baums, und während mich noch ein paar weitere 
Inſchens umringten, begann er mich folgendermaßen in's Verhoͤr 
zu nehmen: 

„Merk wohl, ich will Wahrheit," fagte er in nicht fehr ges 
Iungener Nachahmung des Indianer Englifh. „Dieß Zlitzſtrahl,““ 
er legte dabei die Hand auf feine Bruft, damit ich mich nicht in 
der Perſon des Kriegers irre, welcher-einen fo ausgezeichneten Ti⸗ 
tel führte; „nicht gut lügen ihn — wiffen alle Ding’, bevor er 
frag’; nur frag für Spaß — was thun hier, he?” 

„Wir find gekommen, um die Inſchens und die Leute im 
Dorf zu befuchen, weil wir hoffen, daß fie uns Uhren abkaufen 
werden." 

„Das Alles — gewiß? — kann Ihr ruf: ‚nieder mit Rent,“ eh?" 

Dieß ift fehr leicht. ‚Nieder mit Rent, eh!” 

„Auch gewiß Zicharman, eh? Ihr Fein Spion? Zhr nidt 
hieher gejchidt von Gubbernöhr, eh? — Grundherr Euch nicht 
zahlen, eh?" 

„Wie könnt ich ein Spion fein? Da ift nichts zu erfpioni- 
ren, ald Männer mit Ballicogefihtern. Warum. fürchtet Ihr Euch 
vor dem Gouverneur? Ich denke, der Gouverneur ift ein guter 
Freund der Antirenters?“ 


295 


„Richt, wenn wir jo handeln. Schild Roß, ſchick Fußvolt 
nah uns dann. Denken auch gut Freund, aber er nicht dürfen.“ 

„Mög ihn der Teufel holen!” yplärrte einer aus dem Stamm 
in fo gutem ländlichem Englifch, als nur je eines aus dem Munde 
eines Bauernferld kam. „Wenn er unfer Freund ift, warum fchidt 
er Artillerie und Reiterei an den Hudfon herunter? — Und war= 
um hat er den großen Donner vor feine böllifchen Gerichtshöfe 
gezogen? Mög’ er verdammt fein!” 

An Betreff diefes Gefühlserguffes war eine Mißdeutung uns 
möglich, und fo fchien auch Blisftrahl zu denken, denn er flüfterte 
einem von dem Stamm etwas zu. Diefer ergriff fofort den derb 
englich fprechenden Anfchen bein Arm und führte den Kerl fort, 
der noch immer vor fich hin brummte und grollte, gleich dem mehr 
und mehr fich entfernenden Donner, wenn ein Gewitter vorüberges 
zogen if. Was mich ſelbſt betrifft, jo zog ich aus diefem Vorgang 
mehrere erfprießliche Betrachtungen hinfichtlich des unausbleiblichen 
Schickſals Derjenigen, welche es verfuchen, Gott und dem Mam- 
mon zugleich zu dienen. In diejer Antirentenfrage lag einem 
Gouverneur nichts Anderes ob, als eine einzige Nichtung zu 
verfolgen — nämlich durch Unterdrüdung der Gewaltthätigfeit 
dem Gefeß Achtung zu verfchaffen und die Perſonen, welche fich 
über ihre Pachtverträge beichwerten, mit ihren Klagen an die 
Gerichtshöfe zu weifen, wie man ed gewöhnlich bei Mißhellig- 
feiten über Kontrafte zu halten pflegt. Ein Regiment ift nur 
ärmlich, wenn es nicht beiden Theilen Gehör ſchenkt. Mancher 
Grundherr hat für fich felbft einen ſehr nachtheiligen Vertrag ein- 
gangen, und es ift mir namentlich ein Fall befannt, in welchen 
ſchon feit langer Zeit einer Familie die zwedimäßige Benützung 
eines fehr werthvollen Eigenthums bitter verfümmert wird, blos 
weil ein fchwachköpfiger früherer Beſitzer der, Liegenichaften Seelen 
für das Paradies zu gewinnen vermeinte, wenn er feine armen, 
die er blos dem Namen nach mit einer Rente beſchwerte, unter der 


Bedingung, daß jeber Pächter, zweimal eine befondere Kirche be⸗ 
ſuchen müffe, auf die Dauer von neunundzwanzig Jahren vergabte ! 
Run ift es fonnenklar, daß der Bürger, welcer der Eigenthümer 
vieler derartig verliehener Farmen ift, unter einer weit größeren 
Benachtheiligung leidet, als der Pächter einer einzelnen Farm, felbft 
wenn die Bedingungen befchwerend find, und fchon nach allgemei⸗ 
nen Grundfäßen hätte der fragliche Grunpbefiger weit mehr Ans 
ſpruch auf Abhilfe, fintemal ein Einzelner, über den viel ergeht, 
eher Mitleid verdient, als Viele, von denen jeder nur wenig leidet. 
Was würde wohl ein Gouverneur fagen, wenn der Grundbefiger, 
den ich im Auge habe, mit feinen Befchwerden fi) an die erecutive 
Gewalt wendete und die Erklärung vorbrädhte, diefelbe Vertrags- 
bedingung, welche feinen Borgänger zu dem Irrthum veranlaßt habe, 
alfo feine Mittel zu vergeuden, finde eine offene Mißachtung — die 
Farmen, welche einen Werth von vielen taufend Dollars befäßen, 
feten nun faſt ein Jahrhundert lang für bloje Nominalrenten von 
den Pächtern benübt worden — der wahre Eigenthümer des Lan« 
des habe jetzt Gelegenheit, fein Beſitzthum vortheilhaft zu verwen- 
den u. |. w.? Würde der Gouverneur in einem folchen Falle einen 
legislativen Act in Vorfchlag bringen? Würde die lange Dauer 
eines folhen Vertrags ihn veranlaflen, darauf anzutragen, Daß 
fortan Fein Pacht mehr für länger, als für fünf Jahre einge- 
gangen werden Eönne? Würden die Grundbefiter, welche ein 
Corps von Inſchens auf die Beine bräcten, um die Pächter 
durch Plackereien zum Abtreten von ihren Farmen zu vermögen, 
Gegenftände des Mitleids werden? — Und würde bei Anftif- 
tung von Rebellion und Raubzügen, wenn fie von folder 
Seite ausgingen, das Geſetz gleichfalls Jahre lang fchlummern, 
bis etwa zwei oder drei Mordthaten die öffentliche Entrüftung 
gewedt hätten? Mag diefe Frage beantworten wer kann; fo viel 
it übrigens gewiß, daß ich mich als Grundbefiker nicht gerne 
Dem Hohn ausſetzen möchte, der zuverläffig auch nur eine öffent- 


297 


liche Beichwerde über derartige Benachtheiligungen begleiten würde, 
Mit fpöttifchem Lachen würde man mich an die Gerichtshöfe ver- 
weifen — bier folle ich Abhilfe fuchen, wenn ich Abhilfe brauche, 
und der ganze Unterfchied zwiichen dem „Wenn und dem Wenn“ 
in den beiden Fällen beftände einzig darin, daß der Grundbefiger 
nur eine einzige, die Pächter aber Zaufende von Stimmen abzu= 
geben haben *), 

„Der Teufel ſoll ihn holen!” murmelte der aufgebrachte In⸗ 
hen, jo lange ich noch etwas von ihm hören konnte. 

Nachdem er übrigens völlig bejeitigt war, nahm Blitzſtrahl 
fein Berhör wieder auf, obſchon man ihm anfehen Tonnte, daß 
ihn der undramatifche Charakter der Unterbrechung einigermaßen 
verdroß. 

„Gewiß kein Spion eh? — gewiß Gubbernör Euch nicht jend, 
eh? — gewiß kommen zu verkaufen Uhr, ch?" 

„Wie ich Euch bereits gefagt habe, komme ich, um zu fehen, 
ob fih mit unfern Uhren nichts machen laffe. Bon dem Gouver- 
neur weiß ich nichts, und habe überhaupt den Mann in meinem 
Leben nie gefehen.” Da Alles dieß der Wahrheit gemäß war, fo 
fonnte ſich mein Gewiffen vollfommen beruhigt fühlen, wenn aud) 
einige Zweideutigkeit in der Neußerung liegen mochte. 

„Bas denfen die Leute da drunten von Infchen, eh? — Was 
fagen Leute von Antirent, eh? — Hör fie viel jprech’ davon?” 

„O ja, Einige meinen, die Antirenterei fei gut, und Andere 
glauben, fie fei ſchlecht. Jeder denkt eben, wie er's gerne hätte." 

Ein leifes Pfeifen ließ fich jebt die Straße herunter oder 
vielmehr aus dem Gebüfch her vernehmen, und fämmtliche Inſchens 
waren im Nu auf den Beinen. Jeder gab übrigens ehrlich die 


*) Diefe Angabe ift Feinedwegd erbichtet, ſondern buchſtäblich aus dem Leben ge 
griffen, und der erauägeber kann fie um jo mehr bezeugen, da er Kaafane ei 
einem Eigenthum erbeiligt ift, welches fich in ſolcher Lage befintet. Allerdings ift 
ed ihm noch nicht eingefallen, bei dem gejeggebenden Körper Abhilfe juchen zu wollen. 

Der Heraudgeber. 


298 


Uhr, die er in den Händen hatte, zurück, und nach weniger als einer 
halben Minute faß ich mit meinem Onkel allein auf dem Baum- 
ſtamm. Diefe Bewegung war fo plötzlich, daß wir über die paf= 
fende Art, wieder fortzufommen, nicht fonderlich im Zweifel zu fein 
brauchten. Mein Onkel packte Faltblütig feine Schäße wieder in 
die Truhe, und ich begab mich nach dem Pferde hin, welches fein 
Kopfzeug abgefchüttelt hatte und ruhig im Wege graste. Wir 
mochten etwa ein paar Minuten in diefer Weife befchäftigt geweien 
fein, als das Traben eines Pferdes und das Geraffel von Rädern 
die Ankunft eines jener Fuhrwerke, die faft national geworden 
find — eines Dearborn oder eines einfpännigen Wägelchens 
ankündigten. Sobald daffelbe hinter einen Schirm von Gebüfch, 
das eine Krümmung des Weges fäunte, hervorfam, bemerkte ich, 
daß es Mr. Warren und defjen holde Tochter enthielt. 

„Da der Weg nur ſchmal war und unfer Fuhrwerk in der 
Mitte deffelben ftand, fo Fonnten die neuen Antömmlinge nicht 
fortfahren, wenn wir nicht bei Seite rückten, und der Geiftliche 
zog deßhalb die Zügel an, fobald er die Stelle, wo wir uns 
befanden, erreicht hatte. 

„Guten Morgen, Gentlemen,” jagte Mr. Warren herzlich, 
fi eines Wortes bedienend, das wie ich wohl fühlte, in feinem 
Munde Alles ausprüdte, was es bedeutete. „Guten Morgen 
Gentlemen. Spielt Ihr den Waldnymphen eine Händeljche 
Paffage vor, oder declamirt Ihr Hirtengedichte?” 

„Keines von beiden, Herr Paſtor. Wir find bier mit Kunden 
zufammengetroffen, und fie haben ung eben erft verlaffen, antwor- 
tete Onkel Ro, der zuverläffig feine Rolle mit vollfommenen Aplomb 
fpielte, und mit einer bewundernswürdigen Mimik begleitete. 
Guten Tag, guten Tag. Will der Herr PVoftor vielleicht nach dem 
Dorf gehen?” 

„Wir find auf dem Wege. Wie ich höre, ſoll dafelbft von 
den irregeleiteten Menichen, welche ſich Antirenters nennen, ein 


299 


Meeting abgehalten werden, und vielleicht find einige meiner Pfarr- 
finder dabei anweſend. Bei einer folchen Gelegenheit halte ich es 
für meine Pflicht, mich unter meinen Leuten zu zeigen und ihnen 
ein Wort des Rathes zuzuflüftern. Zwar bin ich der Anficht, daß 
es fi für einen Geiftlichen durchaus nicht ſchicke, fich in politifche 
Angelegenheiten zu mengen; aber hier handelt ſich's um eine Sache, 
welche die Moralität betrifft, und der Diener Gottes vernachläffigt 
feine Pflicht, wenn er fih von Orten fernhält, wo ein Wort der 
Ermahnung einen wanfenden Bruder vielleicht abhalten kann, eine 
ſchwere Sünde zu begehen. Diefe Nüdficht hat mich bewogen 
einen Schauplag zu befuchen, den ich unter andern Umſtänden 
herzlich gern vermeiden würde," 

„Dieß mag volltommen in der Ordnung fein," ſagte ich zu 
mir felbft, „aber was hat deine Tochter auf dem Schauplape zu 
ihaffen? Iſt der Geift von Mary Warren am Ende um kein 
Haar beffer, als der ihrer gewöhnlichen Landsmänninnen, und Tann 
fie eine Freude haben an derartigen öffentlichen Meetings oder an 
der Aufregung, welche durch folche Volksreden herworgerufen wird?" 
Es gibt Keinen beffern Probierftein der Bildung, als die Art, wie 
fe gleichjam in Folge innerer Eingebung zurüdbebt vor einem un⸗ 
nöthigen Verkehr mit Liebhabereien und Grundfäßen, die unter 
ihrem Niveau flehen. Hier aber war das Mädchen, in das ih — 
ih will nur fo wenig als möglich jagen — bereits halb verliebt 
war, und fand im Begriff, nach dem „Littleneſt‘ hinunterzugehen, 
um dafelbft einen wandernden Borlefer feine unverdauten Broden 
über Staatsökonomie ausframen zu hören, den Spektakel im Dorf 
mitanzufehen, und fich zugleich anfehen zu Taffen! Ein fchmerzliches 
Gefühl getäufchter Erwartung bemächtigte fich mieiner, und ich hätte 
in jenem Nugenblide gern die befte Farm meines Beſitzthums hin- 
gegeben, wenn es anders gewejen wäre. Der Bemerkung nach, 
welche fich jegt mein Onfel erlaubte, mußten ihm wohl ähnliche 
Gedanken in den Kopf herumgegangen fein. 


„Und ift es der Jungfrau auch darum zu thun, die Inſchens 
zu fehen und fih zu überzeugen, daß fie ein fehr gottlofes Volt 
feien?" 

Als das Wägelchen anhielt, war, wie es mir vorfam, Ma- 
rys Geficht ein wenig blaß geweſen; aber jet goß fich eine hohe 
Scharlachröthe darüber aus. Sie ließ fogar den Kopf ein wenig 
finfen, und ich bemerkte nun, daß fie einen ängftlichen, bittenden 
Blick auf ihren Vater warf. Ich kann nicht fagen, ob fie damit 
eine ſtumme unmwilltürliche Berufung beabfichtigte; fo viel aber ift 
gewiß, daß der Vater, ohne auch nur des Blickes gewahr zu wer- 
den, für feine Tochter das Wort ergriff. 

„Nein, nein," fagte er haftig, „das liebe Mädchen thut allen 
ihren Gefühlen, mit Ausnahme eines einzigen, Gewalt an, indem 
fie e8 wagt, einen folchen Plab zu beſuchen. Ihre Eindliche Liebe 
ift flärfer geworden, als ihre Befürchtungen, und als fie fand, daß 
ih mich nicht abhalten Ließ, fo Eonnte feine Borftellung von meiner 
Seite fie bewegen, zu Haufe zu bleiben. Gebe Gott, daß fie 
e8 nicht bereue!“ 

Das Roth wich noch immer nicht von Marys Gefichte; aber 
der Ausdruck deffelben verklärte fih, als fie fand, daß ihre wahren 
Beweggründe Anerkennung fanden, und fie lächelte jogar, obſchon 
ihre Lippen fehwiegen. Meine eigenen Gefühle erlitten jegt eine 
abermalige plögliche Ummandlung. Alfo nicht der Mangel an je- 
nen Angewöhnungen und Neigungen, welche allein die Jungfrau 
einem Mann von Gefühl anziehend machen können, fondern ein 
hohes moralifches Gefühl und der Drang der Eindlichen Liebe hat- 
ten fie bewogen, fich felbft zu überwinden und dem, was fie für 
ihre Pflicht hielt, ein jchweres Opfer zu bringen. Allerdings war 
es nicht fonderlich wahrſcheinlich, daß fich an jenem Zage etwas 
zutragen Eonnte, wag Mary Warrend Anmefenheit auch nur im 
mindeften nöthig oder nüßlich machte; aber ihre Eindliche Anhäng- 
lichteit machte einen ſehr Lieblichen Eindrud auf mich, und ich freute 


301 


mich fogar darüber, daß fie unter obwaltenden Umfländen nicht ans 
ders denken Eonnte. 

In demſelben Augenblide übrigens bemächtigte fich meiner 
fowohl, al8 meines Onkels eine andere, weit weniger angenehme 
Borftellung. Das Gefpräh wurde nämlich fehr laut oder doch 
wenigftens laut genug geführt, um in einiger Entfernung verflanden 
werden zu Fönnen; denn das Pferd und ein Theil des Wagens 
trennte die Sprecher, und es war daher unabweislich, daB Einige 
von Denen, welche in den Büſchen fledten, alle unfere Worte 
hörten und vielleicht ernftlichen Anftoß daran nahmen. In diefer 
Beforgniß forderte mich mein Onkel auf, unfer eigenes Wägelchen 
fo weit als möglich bei Seite zu bringen, damit der Geiftliche 
vorfahren Eönne Mr. Warren war ed übrigens biemit nicht fo 
eilig zu thun, denn er wußte nichts von der Zuhörerfchaft, die er, 
hatte, und hegte gegen uns jenes Gefühl, welches Männer von 
freifinniger Bildung fo gern unterhaften, wenn fie andere, die eine 
ähnliche Erziehung genofjen haben, in der Bedrängniß des Unglücks 
jehen müflen. Er wünfchte daher, ung feine freundliche Theilnahme 
fund zu geben, und wollte nicht weiter fahren, ſelbſt nachdem wir 
ihm den Weg geöffnet hatten. 

„Es iſt ſchmerzlich,“ fuhr Mr. Warren fort, „finden zu müf- 
fen, daß die Menjchen irrthümlicherweife in ihrer Habgier nichts 
als das Wirken der Freiheitsliebe jehen; und doch kann der ver- 
fländige Mann mit Händen greifen, daß dieſe Antirentenbewegung 
blos eine Raubfucht ift, die ihren Urquell in dem Vater des Böfen 
hat. Ihr werdet unter diefen Leuten Männer finden, welche fich 
einbilden, fie unterftügen durch ihre Theilnahme an den Umtrieben 
die Sache unferer freien Inftitutionen, während fie in Wahrheit 
Allem aufbieten, um fie in Migfredit zu bringen und für Die Folge 
ihren ficheren Sturz herbeizuführen.” 

Dieß brachte uns in große Berlegenheit; denn wären wir näher 
binangegangen, um ihn in leifer Stimme zu warnen und jo eine 


302 . 
Beränderung im Gefpräch herbeizuführen, fo hätten wir ung ſelbſt 


verrathen und und möglicherweife in eine ſehr ernflliche Gefahr ge⸗ 


flürzt. Zudem bemerkte ich in demſelben Augenblid, in welchem 
der Geiftliche alfo fprach, daß der maskirte Kopf des Blitzſtrahls 
zwifchen einigen niedrigen Fichten, Die in kurzer Entfernung hinter 
dem Wägelchen flanden, zum Borfchein fam — eine Stellung, 
welche den Lauſcher befähigte, jede Sylbe von unferem Geſpräch auf- 
zufangen. Sch ſcheute mich, auf eigene Verantwortlichkeit etwas zu 
thun, und verließ mich deßhalb auf die größere Erfahrung meines 
Onkels. Ob dieſer den angeblichen Häuptling auch bemerkt hatte, 
wußte ich nicht; er Fam jedoch zu dem Entſchluſſe, das Geſpräch 
feinen Fortgang nehmen zu laffen und fih eher auf die Antirenten- 
Seite der Frage zu halten, da auf diefe Weife Fein ernfllicher 
Nachtheil herbeigeführt, wohl aber unfere eigene Lage gefichert wer- 
den konnte. Es ift kaum nöthig, zu jagen, daß und diefe Betrach- 
tungen fchnell genug durch den Kopf fchoßen, um eine läftige und 
Berdacht erregende Paufe in der Unterhaltung zu vermeiden. 

* „Vielleicht zahlen fie eben die Rente nicht gerne,” entgegnete 
mein Onfel mit einer Rauhheit in feinem Wefen, die ganz im Ein⸗ 
Hang mit den Worten felbft fand. „Ich kann mir denken, daß die 
Leute ihr Land lieber umfonft haben, als Rente dafür zahlen." 

„Sn diefem Falle follen fie hingehen, wo fie fih Land Faufen 
tönnen. Liegt es nicht in ihrer Abſicht, die Rente zu bezahlen, 
warum haben fie fich dazu anheifchig gemacht ?" 

„Rag fein, daß ihnen ein anderer Sinn gewachſen if. Wenn 
Einem heute etwas gut dünkt, fo ift dieß noch Keine Folge, dag es 
morgen eben fo fein muß.” 

„Ihr mögt hierin wohl recht haben; aber wir find nicht be- 
fugt, durch unfern Wankelmuth andere Leute in Nachtheil zu brin- 
gen. Ich glaube wohl auch, daß es beffer für den ganzen Staats- 
- verband wäre, wenn ein jo großer Randftrich, wie der des Herrenguts 
Henfjelaerwyd zum Beifpiel, welcher noch obenprein im Herzen 


303 


des Staats liegt, fich in den Händen der Bebauer befände und Die 
Intereſſen darauf nicht fo getheilt wären; hieraus folgt aber noch 
nicht, Daß der Wechfel durch Gewalt oder durch betrügliche Mittel 
herbeigeführt werden darf. Aus jedem dieſer beiden Fälle erwächst 
für die ganze Gemeinfchaft ein weit größerer Nachtheil, ald wenn 
die gegenwärtigen Bachtverhältniffe noch taufend Zahre fortbeftin- 
den. Ohne Zweifel läßt fich der größere Theil dieſer Barmen durch 
eine mäßige Abichlagszahlung an dem wahren Geldwerth erwerben, 
und dieß ift die einzige Art, wie man Über die Schwierigkeit weg- 
fommen kann; dagegen ift es Unrecht, wenn man die Beflter durch 
Einfhühterung aus ihrem Eigenthum verfcheuchen will. Iſt der 
Staat der Anfiht, daß es von großer politifcher Wichtigkeit fei, 
die Bachtverhältniffe abzufchaffen, fo fol er ſelbſt in's Mittel tre= 
ten und durch ein annehmbares Erbieten feinerjeits diejenigen Of- 
ferten, welche die Pächter machen wollen, unterftüßen. Ich ſtehe 
dafür, die Grundbefiger werden nicht fo ſehr gegen ihr eigenes In⸗ 
terefje handeln, um gute Preiſe abzuweifen. " 

„Aber es Könnte vielleicht der Fall flattfinden, daß fie ihre 
Ländereien gar nicht verfaufen, fondern lieber für fich ſelbſt behal- 
ten wollten.” 

„Sie haben das Recht, Ja oder Nein zu fagen; uns aber 
fteht durchaus nicht die Befugniß zu, fie durch Umtriebe oder durch 
den Mißbrauch der Gefeßgebung aus ihrem Eigenthum zu verdrän- 
gen. Die Legislatur des Staats hat in lepter Zeit eine der be» 
dauerlichften Anfichten Fund gegeben, die mir während meines ganzen 
Lebens vorgekommen find. Monate lang kämpfte fie fih ab, um 
einen Ausweg zu finden, vermöge deffen fie Die entjchiedenen Ver⸗ 
fügungen der Geſetze und Gonftitutionen umgehen Könnte, und auf 
was ift fie verfallen? Man will die Rechte einiger Weniger zum 
Opfer bringen, um fich die Stimmen des großen Haufens zu fichern.” 

„In Wahlzeiten find Stimmen etwas Gutes, ha, ha, ha!“ 
rief mein Onfel mit rohem Lachen. 


304 


Mr. Warren bite überrafcht und mit gekränkter Miene auf. 
Das rohe Wefen, welches mein Onkel angenommen hatte, erreichte 
zwar feinen Zwed bei den Inſchens, vernichtete aber beinahe Die 
gute Meinung, welche der Geiftliche von uns gehabt hatte, und warf 
die Vorftellung, die er von unferer Bildung und unfern Grundfäßen 
unterhalten, ganz über den Haufen. Wir hatten übrigens feine 
Zeit, und auf weitere Erklärungen einzulaffen, denn wie mein On⸗ 
fel mit feinem derben „ba ba ha" zu Ende gefommen war, ließ ſich 
ein ſchrilles Pfeifen im Gebüfch hören, und vierzig oder fünfzig 
Inſchens Tprangen fchreiend aus ihrem Verfted hervor, nach allen 
Richtungen bin unfere beiden Fuhrwerke umringend. 

Ob dieſem erfchredenden Auftritt ſtieß Mary Warren einen 
leichten Schrei aus, und ich bemerkte, daß fie mit einer Art unwill- 
fürlicher Bewegung ihren Arm um den ihres Vaters ſchlang, als 
wolle fie ihn gegen jede drohende Gefahr ſchützen. Dann fchien 
fie fich wieder zu faffen, und von diefem Augenblide an gewann 
‚ihr Charakter eine Thatkraft, einen Ernft, einen Muth und eine 
Unerfchrodenheit, wie ich etwas Aehnliches nie von ihrer milden 
Außenfeite und von ihrem wirklich fo lieblichen Charakter erwar- 
tet hätte. 

Doh hiefür hatten die Inſchen Fein Auge. Sie folgten eben 
der Eingebung des Augenblids, und ihr erfter Schritt beftand darin, 
daß fie Mr. Warren und feiner Tochter aus dem Wagen fleigen 
halfen. Dieß geſchah in ziemlich anfländiger Weife und gewiß 
nicht ohne einige Achtung vor dem heiligen Anıt des Vaters, wie 
auch vor dem Gefchlecht der Tochter. Das Ganze ging jchnell 
und fäuberlich vor ih, und im Nu ftanden wir alle, Mr. Warren, 
Mary, mein Onkel und ih, von etlich und fünfzig Iuſchene um⸗ 
ringt, mitten in der Straße. 


Vierzehntes Kapitel. 


„Hier gibt es feine Mühe zum BVerzagen, 
Tprannen Fre du und Sklaven nicht; 
Und feine Zar’ mit unerſchöpftem Magen 

Herricht hier, die nur dad Hungeräbrod und bricht. 


Der am Schluffe des vorigen Kapiteld bemerkte Akt war fo 
plöglih vor fih gegangen, daß wir faum Zeit gefunden hatten, 
ung darüber zu befinnen. Gleichwohl gab es einen Augenblid 
— ich meine den, al8 zwei Inſchens Mary Warren vom Wagen 
berunterhoben — welcher mein Sneognito mit großer Gefahr be- 
drohte. Als ich übrigens bemerkte, daß die junge Dame mit Feiner 


“ fonderlichen Achtungswidrigkeit behandelt wurde, fo zwang ich mich 


zur Ruhe, wechſelte aber gleichwohl fchweigend meine Stellung fo 
weit, daß ich in ihre Nähe Fam und ihr einige Worte der Er- 
muthigung zuflüſtern konnte. Mary dachte jedoch nur an ihren 
Bater und hatte keine Beforgniß für ih. Blos für ihn hatte fie 
Angft, blos für ihn zitterte fie, und blos für ihn ſchwebte fie in 
Furcht und. Hoffnung. 

Was Dagegen Mr. Warren betraf, fo verrieth er keine Ver- 
wirrung, und fein Benehmen hätte nicht ruhiger fein können, felbft 
wenn er eben im Begriffe gewefen wäre, auf die Kanzel zu fleigen. 
Er ſchaute umher, um fich zu überzeugen, ob er nicht etwa einen 
der ihn umringenden Inſchens zu erkennen vermöge; dann aber 
wandte er plöglich den Kopf ab, als falle ihm ein, wie bedenklich 

Ravensneft. 20 


des Wo 





V 


wenn RT 


m⸗raehen 


au de Tom ws 


xſonen o 


307 


im Stantsgefängniß vorgefchrieben ift, und die Pflicht meines heili- 
gen Amtes fordert mich dazu auf, euch vor den Folgen zu warnen. 
Die Erde ift an fich nur einer von den Tempeln Gottes, und feine 
Diener brauchen nie Anſtand zu nehmen, wenn es gift, auf was 
immer für einen Theil deffelben Seine Gefebe zu verkündigen.“ 

Es war augenfällig, daß der ruhige Ernſt des Geiftlichen, 
ohne Zweifel durch feinen bewährten Ruf unterftügt, auf die Bande 
Eindrud übte, denn zwei von den Kerlen, welche noch immer feinen 
Arm fefthielten, ließen ihn jebt Io, und es bildete fich ein Kleiner 
Streis, in defien Mittelpunkt er fland. 

„Wenn ihr mir mehr Raum geben wollt, meine Freunde,“ 
Fuhr Mr. Warren fort, „fo will ich euch hier von dieſer Stelle 
aus anreden und euch meine Gründe mittheilen, warum ich glaube, 
Daß euer gegenwärtiges Benehmen durchaus nicht — —“ 

„Nein, nein — nichts predigen hier,” unterbrach ihn plößlich 
Blisftrahl; „gehen zu Dorf, gehen zu Meetinghaus — dort pre= 
Digen. — Zwei Prediger dann. — Bringt Wagen und febt ihn 
hinein. Marſch, Marſch, Plab machen!” 

Obgleich dieß nur eine „Inſchen-Nachahmung“ der indiani- 
chen Kürze und fie daher ziemlich Tarrifirt war, fo verftand doch 
Jedermann gut genug, was der Sprecher Damit meinte. Mr. War- 
ren leiftete feinen Widerftand‘, ſondern Tieß fih in Miller Wagen 
feßen, und auch mein Onkel wehrte fih nicht, als man ihn gleich- 
falls an die Seite des Geiftlichen packte. Seht Dachte übrigens Lep- 
terer an feine Tochter, welche die ganze Zeit über keinen Augen- 
blick aufgehört hatte, an ihn zu denken. Nur mit Mühe war es 
mir gelungen, fie zurüdzubalten, daß fle nicht in das Gedränge 
flürzte und fih an feine Seite anklammerte. Mr. Warren fand 
auf, lächelte ihr ermuthigend zu, bat fie, fich zu beruhigen, und 
hieß fie außer Furcht fein; fie folle nur wieder in ihren eigenen 
Wagen fleigen und nach Haufe zurüdfehren, da er ihr nachfolgen 
werde, jo bald er fich feiner Pflicht im Dorfe entledigt habe, 

DI” 


308 


„Wir haben hier Niemand, der das Pferd lenken könnte, mein 
Kind, als deinen jungen deutfchen Bekannten. Die Entfernung ift 
nur furz, und wenn er mir einen Gefallen erweifen will, fo kann 
er ja mit dem Wägelchen in das Dorf fahren, fo bald er did 
wohlbehalten an unferer Thüre abgefebt hat.” 

Mary Warren war gewohnt, die Wünfche ihres Vaters zu 
achten, und fügte fi) num fo weit, daß fie mir geftattete, ihr in 
den Wagen zu helfen und an ihrer Seite Plab zu nehmen. Ich 
muß fagen, daß ich mit flolger Freude die Peitfche ergriff, nun eine 
jo Eoftbare Bürde meiner Obhut vertraut war. Nachdem Diefe 
Vorbereitungen getroffen, begannen die Inſchens ihren Marſch; 
etwa die Hälfte ging voraus und die Uebrigen folgten dem Wagen, 
der ihren Gefangenen barg, während zu jeder Seite vier nebenher - 
gingen, um fo jede Möglichkeit einer Flucht zu vereiteln. Alles 
dieß ging ohne Lärm und ohne viel Worte vor fih, da die Befehle 
hauptjächlich durch Zeichen und Signale ertheilt wurden. 

Unfer Wagen blieb ruhig flehen, bis der Infchenhaufen we- 
nigftens hundert Schritte von ung abgefommen war und Niemand 
weiter auf unfere Beweggründe achtete. Ich hatte in doppelter 
Abficht fo lange gewartet: einmal, um zu fehen, wie ed die In- 
jchen weiter trieben, und dann, um Raum zu gewinnen, damit ich 
an einer weiter nach vorn liegenden Stelle ded Weges, die breiter 
al8 gewöhnlich war, befler umkehren Eonnte. Nach diefem Punkt 
bin ließ ic) nun das Pferd laufen und war eben im Begriff, dem 
Kopf des Thiers die erforderliche Richtung zu geben, als ich be= 
merkte, daß Mary's Heine Hand haftig in Die Zügel griff und 
bemüht war, das Pferd im früheren Gange zu erhalten. 

„Nein, nein," fagte das bezaubernde Mädchen in angelegent- 
lihem Zone, als beftehe fie entfchieden auf ihrem Vorhaben. „Wir 
wollen dem Bater nach dem Dorf folgen. Sch will, darf und 
ann ihn nicht verlaffen !" 

Zeit und Ort waren in jeder Hinfiht günftig, und ich ber 


309 


ſchloß nun, Mary willen zu laflen, wer ich war. Hiedurch konnte 
ih ihr in einem Augenblid der Bekümmerniß Zutrauen zu mir 
einflößen und fie zugleich mit der Hoffnung ermuthigen, daß ich 
mich auch gegen ihren Vater ald Freund erweilen werde. Jeden⸗ 
falls war ich fer entichloflen, in ihren Augen wenigftens nicht 
länger als ein herumgiehender deutfcher Muſikant zu gelten. 

„Miß Mary, Miß Warren,” begann ich vorfichtig und mit 
ſchüchternem Stoden, wie dieß bei der Beklommenheit meiner Ge- 
fühle nicht anders möglih war. „Ich bin nicht, was ich fcheine 
— das heißt, ich bin Fein Mufifant." 

Die Betroffenheit, der Blick und die Unruhe meiner Gefährtin 
— Alles dieß war jo natürlicy und ſprach beredter, ald ed durch 
Worte möglich geweſen wäre. Sie hatte ihre Hand noch immer 
in den Zügeln und zog diefe num mit einem Male jo ftraff an, daß 
das Pferd fteben blieb. Es Fam mir vor, al8 beabfichtige fie aus 
den Wagen zu Springen, weil fie denfelben nicht länger für einen 
Plag hielt, der für fie paßte. 

„Erſchreckt nicht, Miß Warren,” fuhr ich haftig und — wie 
ih glaube — mit einer Angelegentlichkeit fort, die ihr wohl 
einiges Vertrauen einflößen mochte. „Ihr werdet Feine Ichlechtere 
Meinung von mir gewinnen, wenn Ihr findet, daß ich Fein Aus- 
länder, fondern Euer Landsmann, Fein Mufifant, fondern ein 
Gentleman bin. Sch werde Alles thun, was Ihr von mir ver- 
langt, und bin bereit, Euch mit meinem Leben zu ſchützen.“ 

„Dieß ift fo außerordentlih — fo ungewöhnlich! —- wahr- 
baftig, das ganze Land fcheint aus den Fugen gegangen zu fein! 
Entfhuldigt, Sir, aber wenn Ihr nicht die Perfon feid, für die 
Ihr Euch ausgegeben habt, wer feid Ihr dann?” 

„Ein Mann, der Eure Eindliche Liebe eben fo jehr, wie Euren 
Muth bewundert und Euch um beider willen ehrt. Ich bin der 
Bruder Eurer Freundin Martha — ih bin Hugh Littlepage.” 

‚Die kleine Hand ließ nun die Zügel 108, und das theure Mäd- 


310 


hen wandte fich auf dem Polſter ihres Sites halb gegen mich um, 
mir in flummem Staunen in’s Geficht jehend. So oft ich mit 
Mary Warren zufammengefommen war, hatte ich ſtets aus tieffter 
Seele die ſchlichten Haarwilche ver unfeligen Perüde verwünfcht, 
die ich zu tragen gezwungen war, weil fie mich unnöthigerweife 
aufs Schmählichfte entftellte, denn ich hätte ſtatt Diefer garftigen, 
unſcheinbaren Verkleidung etwa fo gut eine anftändigere wählen 
können. Ich zog deßhalb meine Mübe ab, und die Perüde folgte _ 
ihr, fo daß mein Geficht nur noch in dem Kranze meiner eigenen 
krauſen Loden erfchien. 

Als mih Mary fo ſah, ftieß fie einen leifen Ausruf aus, und 
der Zodtenbläffe ihres Antlitzes folgte ein glühendes Erröthen. 
Auch ein Lächeln umfchwebte ihre Lippen, und es fam mir vor, 
als fühle fie fich jeßt weniger unruhig. 

„Habe ih Eure Verzeihung, Miß Warren?” fragte ih, „und 
werdet Ihr mir als dem Bruder Eurer Freundin Anerkennung zu 
Theil werden laſſen?“ 

„Weiß Martha — weiß Miſtreß Littlepage davon?" fragte end⸗ 
lich das bezaubernde Mädchen. | 

„Beide find davon unterrichtet. Ich bin fo glücklich geweſen, 
meine Großmutter und meine Schwefter zu umarmen. Erftere hat 
Euch geftern aus dem Zimmer genommen, damit ich eben zu die— 
ſem Zwed mit der Letzteren allein fein könne.” 

„Ah, nun begreife ih Alles. Es fiel mir ſchon damals auf, 
obfchon ich der Ueberzeugung lebte, daß in feiner von Mrs. Little- 
page's Handlungen eine Ungebühr liegen könne. Und die theure 
Martha — wie gut fie ihre Rolle gefpielt Hat — und wie be— 
wundernswürdig fie Euer Geheimniß bewahrte!" 

„Dieß ift auch fehr nöthig. Ihr kennt den Zuftand des Lan- 
des, und werdet einfehen, daß es fehr unklug von mir gehandelt 
wäre, wenn ic — fogar auf meinem eigenen Befigthum — offen 
erfcheinen wollte. Zwar bin ich durch fchriftliche Verträge ermäch- 


311 


tigt, jede Farm in der Nähe von ung zu befuchen und nach meinen 
Interefien zu fehen; indeß dürfte fich’8 doch fragen, ob ein der= 
artiger Schritt auch nur auf einer derfelben gerathen wäre, jo 
lang die Geifter der Unorvnung und der Habgier ihr ſchlimmes 
Werk üben." 

„Nehmt hurtig Eure Verkleidung wieder auf, Mr. Littlepage, 
fiel mir Mary haftigin’s Wort. „ Schnel—zögertkeinen Augenblid!" 

Sch entiprach ihrer Aufforderung, und Mary fah mir mit theil- 
nehmenden Bliden zu, objchon fie zu gleicher Zeit einige Heiterkeit 
nicht zu unterdrüden vermochte. Dann aber Tam es mir vor, als 
thue e8 ihr eben fo leid, wie mir ſelbſt, daß vie fchlichthaarige, 
Ihuftige Perücke wieder Dienfte leiften mußte. 

„Bin ich jegt wieder in fo guter Ordnung, wie zur Zeit, als 
wir ung zum erften Mal trafen, Miß Warren?“ fragte ih. „Sehe 
ich wieder wie ein wandernder Mufifant aus?" 

„Sch bemerfe Eeinen Unterfchied," entgegnete das holde Mäd- 
chen lachend. Und wie muſikaliſch, wie Tieblich Elangen mir nicht 
die Töne ihrer Stimme in diefem Kleinen Ausbruch füßer weiblicher 
Heiterkeit. „Wahrhaftig, ich glaube, nicht einmal Martha Eönnte 
jegt die Perfon in Euch erkennen, die Ihr vor einem Augenblid 
zu fein ſchienet.“ 

„Die Berkleidung ift aljo vollkommen. Ich lebte einigermaßen 
der Hoffnung, meine Freunde würden mid wenigftens erkennen, 
wenn ich auch vor meinen Feinden auf's Wirkjamfte verborgen blieb.” 

„Ob, lebteres ift gewiß der Fall. Und nun ich weiß, wer Shr 
jeid, finde ich's auch nicht fchwer, in Eurem Gefichte eine Aehnlich- 
feit mit Eurem Portrait zu finden, welches im Neft unter den Bil- 
dern der Familien-Gallerie aufgehangen ift. Die Augen laffen fich 
ohne Eünftlihe Brauen nicht ändern, und diefe habt Ihr nicht." 

Die Berficherung Klang ſehr tröftlih für mich, und diefe 
ganze Zeit über blieben Mr. Warren und feine und vorausge- 
zogenen Begleiter völlig vergeffen. Vielleicht ließ fih’S von einem 


312 

Paar junger Berfonen in unferer Lage, die ſich nunmehr jchon feit 
einer Woche kannten, entfchuldigen, wenn fie mehr von dem in Ans 
fpruch genommen wurden, was zur Zeit in dem Wagen vorging, 
als vom Marfch des Inſchenſtammes und feinen politifchen Zweden. 
Indeß fühlte ich Doch die Nothwendigkeit, meine Begleiterin über 
unfere künftigen Bewegungen zu Rath zu ziehen. Mary hörte mir 
mit augenfcheinlicher Befangenheit zu, und fie ſchien nicht zu wif- 
jen, was fie fagen follte, denn fie wechjelte unter jedem neuen Im—⸗ 
puls ihrer Gefühle die Farbe. 

„Wenn Eines nicht wäre,” antwortete fie nach einer gedanfen- 
vollen Baufe, „jo würde ich auf dem urfprünglichen Plane, meinem 
Bater zu folgen, beharren.“ 

„Und welcher Grund könnte Euch veranlaffen, das frühere Vor— 
nehmen zu ändern?" 

„Wird es mohl für Euch gerathen fein, Mr. Littlepage, 
Euch abermals unter dieje irregeleiteten Männer zu wagen?" 

„Auf mich braucht Shr Feine Rücdficht zu nehmen, Miß War- 
ven. Ihr feht, ich bin bereit unentdedt unter ihnen gewefen, und 
es liegt in meiner Abficht, wieder unter fie zu gehen, felbft wenn 
ih Euch zuerft nach Haus bringen müßte. Faßt daher immerhin 
Euren Entſchluß, ohne auf mich Bedacht zu nehmen.” 

„Sp will ich denn meinem Bater folgen. Wenn ich anwefend 
bin, fo werde ich vieleicht das Mittel, ihm eine Berunglimpfung 
zu erfparen.” 

Ich freute mich über diefen Entfchluß aus zwei Gründen, von 
denen mir der eine vieleicht zur Ehre gereichte, obſchon ich leider 
fagen muß, daß der andere etwas felbftfüchtig war. Die treue 
Anhänglichkeit des lieben Mädchens an ihren Vater entzückte mid), 
aber eben fo glüdlich fühlte ih mich auch, wenn ich mich Diefen 
Morgen fo lang als möglich ihrer Gefelfchaft erfreuen Fonnte. 
Ohne übrigens in eine genaue Zergliederung der Beweggründe ein- 
zugeben, fuhr ich weiter und ließ das Pferd nur in fehr langſamem 


313 


Schritt gehen, weil mir nicht fonderlich darum zu thun war, meine 
Ihöne Gefährtin fo bald zu verlieren. Es kam nun zwifchen mir 
und Mary zu einem freien — ja, ich kann fagen, in gewiſſem 
Grade zu einem vertraulichen Geſpräch. Ihr Benehmen gegen mich 
hatte fi ganz geändert; denn obſchon fie fortwährend die Befchei- 
denheit und retenue ihres Gefchlechtes und ihrer Stellung beibe- 
hielt, fo entfaltete fie doch auch viel von jenem Freimuth, der eben 
fo ſehr eine natürliche Folge ihres vertrauten Umgangs mit den Be⸗ 
wohnern des Neftes, als auch, wie ich mich feitdem überzeugt habe, _ 
eine Frucht ihres edlen Wefens war. Zudem entfernte der Umftand, 
daß fie fich jebt in der Gefellfchaft eines Mannes wußte, welcher 
ihrer eigenen Klaſſe angehörte, folglich auch in Betreff feiner Denk⸗ 
und Lebensweife ihr nahe ftand, eine Bergeslaft von Gezmungen- 
heit, und fie konnte nun der ganzen natürlichen Leichtigkeit ihres 
Weſens Raum geben. ch glaube, daß wir zu dem kurzen Weg 
nad dem Dorfe, der fich zu Fuß in einer halben Stunde hätte zu⸗ 
rüclegen laffen, eine volle Stunde brauchten, und in diefer Friſt 
wurden wir Beide, ich und Mary Warren, beffer mit einander be- 
fannt, als unter gemöhnlichen Umftänden vielleicht in einem Jahr 
möglich gewefen wäre. 

Zuerft theilte ich ihr mit, warum und wie ich fo unerwartet 
ſchnell nach Haufe zurücgefehrt war, wobei ich natürlich auf die 
Beweggründe zu fprechen kam, welche mich veranlaßt hatten, mein 
Beſitzthum in der Eigenfchaft eines wandernden Muſikanten zu be- 
ſuchen. Dann jprach ich von meinen fünftigen Abfichten und von 
meinen Entfchluß, gegen jeden Verſuch einer Beeinträchtigung mei- 
ner Rechte bis auf den letzten Augenblid Stand zu halten, gleich- 
viel, ob ich die offene Gewaltthätigfeit und die gewiffenlofen Plane 
des Pöbelhaufens oder die eben jo grundfaßlofen Entwürfe von 
oben her bekämpfen müßte. Der falfche Freiheitsfchwindel und die 
politifchen Radotagen der Zeit feien mir eben fo verächtlich, wie fie 
es jedem verftändigen, unabhängigen Mann fein müffen, und ich 


314 


habe durchaus nicht im Sinn, mich Überzeugen zu laſſen, daß ich 
ein Ariftofrat jet, blos weil mir die Gewohnheiten eines Gentle= 
mans anhaften, während ich doch zu gleicher Zeit weit weniger poli= 
tifchen Einfluß befiße, als die gedungenen Arbeiter in meinem Dienft. 

Mary Warren entfaltete einen Geift und eine Einficht, die 
mich überrafchten. Sie drüdte ihren feften Glauben aus, die ge⸗ 
ächteten Klaffen des Landes brauchten blos fich felbft treu zu fein, 
um ihre Rechte wieder zu gewinnen, und fie hätten Dabei nur den= 
felben Grundfaß zu befolgen, der fie jetzt mit dem Verluſt ihrer 
Habe bedrohe. Die Anfihten, welche fie bei diefer Gelegenheit 
äußerte, verdienen hier eine Erwähnung. \ 

„Alles, mas in diefer Richtung gefchehen iſt,“ fagte das edle, 
‚ bewunderungswürdige Wefen, „gründete ſich bisher auf ein Prin- 
zip, welches eben jo falfch und verderblich ift, wie dasjenige, aus 
welchem die Bedrüdung ſtammt. Es ift in letzter Zeit viel über 
eine Bereinigung der Wohlhabenden gejchrieben und gefprochen 
worden, aber man firebt dabei fo augenfcheinlich, und zwar in jo 
gemeiner und verderblicher Weife auf ein Geld-Regiment bin, daß 
fich Leute, denen das Herz am rechten Fleck fißt, ſolchen Umtrieben 
nicht.anfchließen können. Indeß ſcheint mir, Mr. Littlepage, wenn 
fich die Gentlemen von New-Nork zu einer Affociation verbänden, 
welche nichts Anderes, als die Bertheidigung ihrer Rechte beabfich- 
tigte, und die Erklärung abgäbe, daß fie fich nicht mir nichts dir 
nichts wolle berauben laſſen, fo fände ſich gewiß eine hinreichende 
Anzahl zufammen, welche im Stande wäre, dieſes Antirenten-Pro= 
jekt fchon durch die blope Macht der Zahlen zu ſtürzen. Zaufende 
würden fi fchon um des Grundfaßes willen anfchließen, und das 
Land Fönnte ſich der Früchte feiner Freiheit erfreuen, ohne daß es 
nöthig hätte, fie einem politifchen Gefalbader verdanken zu müflen. 

Dieß ift eine treffliche Idee und könnte leicht zur Ausführung 
gebracht werden; denn fie fordert nichts, als einige Selbftverläug- 
nung und die Ueberzeugung, daß es nöthig if, Etwas zu thun, 


315 


wenn anders der Berfall der Staaten durch eine mildere Bes 
wegung, als durch einen Bürgerkrieg und eine Revolution erzielt 
werden foll, welche ben Defpotismus in feiner unmittelbaren Form 
einführen würde. Ich fage in feiner unmittelbaren Form, denn es 
iſt augenfällig genug, daß die mittelbare unter ung fräftigen Be- 
ftand hat. 

„Sb babe von einem Antrag an bie Geſehgebung gehört, 
welche die Beſtellung von beſonderen Kommiſſären fordert,” bemerkte 
ich. „Dieſe ſollen die Zwiſtigkeiten zwiſchen den Grundbeſitzern und 
Pächtern beilegen, und es gibt Leute, welche ſich von dem Ergebniß 
einer ſolchen Maßregel viel verſprechen. Was Übrigens mich be⸗ 
trifft, jo fehe ich darin nur Eines von den vielen Projekten, die 
erionnen wurden, um die Geſetze und Inftitutionen des Landes, 
wie fie jet noch immer Beſtand haben, zu umgehen.” 

Mary Warren jchien fih für eine kurze Weile in Rachfinnen 
zu vertiefen; dann aber Härte fich plölich ihr Auge und Geficht 
auf, als fet ihr mit einem Male ein Gedanke gekommen. Sie er- 
röthete hoch und wandte fih darauf an mich, als ob fie halb An— 
ftand nehme, halb aber doch wünjche, der Idee, von welcher fie er- 
füllt war, Worte zu geben. 

„Ich ſehe Euch an, daß Ihr etwas zu jagen wünjcht, Miß 
Warren,” nahm ich ermuthigend das Wort. 

„‚Vielleicht ift e8 nur ein fehr thörichter Einfall, und ich hoffe, 
Ihr werdet es bei einem Mädchen nicht als Pedanterie deuten; 
aber es jpricht mich wahrhaftig jo an: welcher Unterfchied würde 
wohl zwifchen einer folchen Kommilfion und dem Sternfammer- 
gericht der Stuarte flattfinden, Mr. Littlepage?“ 

„Den allgemeinen Grundfägen nach ficherlich Kein fonderlicher, 
da beide Werkzeuge der Tyrannei wären, aber doch ein fehr bedeu- 
tender in einem hochwefentlichen Punkte. Die Sternfammerge- 
richtshöfe waren gefeglich, während diefe Kommiſſion auf's ſchreiendſte 
legal fein würde; denn nur fo kann man die Aufbietung eines 


316 


fpeziellen Zribunals bezeichnen, welches die Aufgabe hat, gewiſſe 
Zwede durchzuführen, die fowohl dem Buchflaben, als dem Geift 
der Gonflitution widerfprehen. Doch das Projekt fommt von 
Menfchen, welche viele Worte machen über ven „Geil der Inſti⸗ 
tutionen‘, obfchon fie augenſcheinlich hierunter nichts Anderes, als 
ihren eigenen Geift verftehen.” 

„Ich hoffe, die Borfehung wird fo verzweifelte Berfuche, ein 
Unrecht durchzuführen, nicht begünfligen,“ bemerkte Mary Barren 
in feierlihem Zone. 

„Bir dürfen unfern menfchlihen Maaßſtab nicht an die uner- 
forfchlihen Rathfchlüffe einer Macht legen, deren Beweggründe 
unferem Bereih jo weit entrüdt find. Die VBorfehung läßt viel 
Uebles gefchehen, und hält es, wie Friedrich von Preußen meinte, 
gerne mit flarken Heerhaufen — jo weit wenigftens der menjchliche 
Geſichtskreis zu dringen im Stande ift. So viel ift übrigens bei 
mir zur feften Ueberzeugung geworden, daß für Diejenigen, welche 
jeßt mit der meiften Gier darauf erpicht find, zu Erreichung ihrer 
Zwede Alles über den Haufen zu werfen, eine Zeit der bittern 
Neue kommen wird, mögen nun fie ſelbſt oder ihre Nachkommen 
davon betroffen werden.” 

„Mein Bater fagt, dieß fei e8 eben, was man unter dem 
Heimgefuchtwerden der Sünden der Väter an den Kindern bis in’s 
dritte und vierte Glied zu verftehen habe. Doch dort ift der Hau⸗ 
fen mit feinen Gefangenen, er zieht eben in’d Dorf ein. Wer ift 
Euer Begleiter, Mr. Littlepage? Habt Shr ihn gedungen, damit 
er Euch in Eurer Rolle als Beiftand diene ?" 

.„Es iſt mein Onfel. Ohne Zweifel habt Ihr oft von Mr. 
Roger Littlepage gehört?” 

As Mary dieß hörte, ftieß fie einen leichten Ruf aus, und fie 
konnte fich einer Anwandlung von Lachluft kaum erwehren. Nach 
einer kurzen Paufe überflog ein hohes Roth ihr Antlig, und 
fie wandte fih mit den Worten an mid: 


317 


„Und wir Beide, mein Vater und ich, Eonnten glauben, daß der 
Eine ein Hauſirer, der Andere ein Straßenmuſikant fei!” 

„Aber Haufirer und Muſikanten von guter Erziehung, die um 
ihrer politifchen Anfichten willen aus dem Vaterland flüchtig wur⸗ 
den,” entgegnete ich wieder in gebrochenem Englifch. 

Gebt lachte fie laut hinaus, denn das lange und freimüthige 
Zwiegefpräch, in dem wir und ergangen hatten, ließ ihr diefe Ab- 
wechslung in einem Lichte erfcheinen, als hätte fich eine dritte Per- 
.. fon uns angefchloffen. Ich benüßte diefe Gelegenheit, um den theu⸗ 
ren Mädchen zuzufprechen, daß fie fi beruhigen und wegen ihres 
Vaters keine Beforgniß fühlen follte, fintemalen es nicht wahrfchein- 
lich fei, Daß einem Diener des Wortes Gewaltthat drohete, während 
jo viele Perfonen ſich im Dorf verfammelt hätten, unter denen er 
ohne Zweifel nicht wenige warme und anhängliche Freunde zähle. 
Zugleich erlaubte ich ihr, ja ich bat fie fogar, Mr. Warren meine 
und meines Onkels Anwefenheit mitzutheilen und ihm die Gründe 
unferer Berkleidung anzugeben. Gefahr konnten wir hiebei nicht 
laufen, denn das holde Mädchen nahm an unferer Sicherheit fo 
fichtlichen Antheil, daß ich ihr zutrauen Konnte, fie werde unaufges 
fordert die nöthige Warnung, über die Sache das größte Still- 
fhweigen zu bewahren, beifügen. Wir waren eben mit unjerer 
Unterhaltung zu Ende gefommen, als wir in das Dorf einfuhren, 
‚wo ich meiner ſchönen Begleiterin ausfteigen half. 

Mary Warren beeilte fich jebt, ihren Vater aufzufuchen, während 
ich zurüdblieb, um das’ Pferd in meine Obhut zu nehmen. ch be- 
feftigte den Zügel des letzteren an einen Zaun, der auf eine weite 
Strede am Weg hin bereits mit Roflen und Wägelchen gejäumt war. 
Man ſieht heutzutage in diefem Lande erflaunlich wenig Berfonen 
reiten, während man, troß des gewaltigen Unterfchieds in der Be⸗ 
völferung vor vierzig Jahren auf den Landftraßen des Staats vier- 
zig Berittenen begegnen konnte, bis man in unferer Zeit auf einen 
einzigen Reiter trifft. Das wohlbefannte Dearborn mit feinen vier 


318 


Teichten Rädern und einer bloßen Nußfchale von einem Kaften ift gegen- 
wärtig fo allgemein im Gebrauch, dag faft alle übrigen Fuhrwerke 
dadurch verdrängt wurden. Kutichen und Karoffen findet man nur 
noch in den Städten, und felbft der englifche Gefellfchaftswagen, ver 
fonft jo gewöhnlich war, hat nunmehr einer Art von Omnibus Platz 
gemacht, die bei unferem Volk fehr in Gnaden fieht. Meine Groß- 
mutter, welche fich in der Stadt einer hübfchen, elegant ausfehenden 
Equipage zu bedienen pflegte, hatte auf ihrem Landfitz auch nur 
den vorerwähnten Wagen, und es fragt fich jehr, ob die Hälfte der 
Bevölkerung des Staats die früheren Fuhrwerfe auch nur bei 
Namen zu nennen wüßte, wenn ihr diefelben vorkämen. 

Der Bolkshaufen, welcher ſich bei der gedachten Gelegenheit 
in Littleneft verfammelt hatte, war natürlich in Dearbornd beige- 
führt worden, von denen wohl zwei bis dreihundert an den Zäunen 
und in den Wagenfchuppen der beiven Wirthshäuſer flanden. Der 
amerikanifche Bauer im eigentlichen Sinne dieſes Worts ift in 
vielen jeiner Anfichten noch vollfommen ländlich, obgleich er fich im 
Ganzen viel befjer ausnimmt, als fein europäifches Gegenftud; in 
der Regel aber muß er noch lernen, daß die Eleinen Freiheiten, 
welche in einem dünn bevölkerten Diftrikt angehen und unter folchen 
Umftänden nicht fehr in Betracht kommen, läftig und verdrieglich 
werden, wenn fie an vielbefuchten Orten in Anwendung kommen. 
Außerdem Hilft die Gewohnheit dazu, daß die Leute ſich dem Glau—⸗ 
ben hingeben, was in irgend einem Theile des Landes Jedermann 
thue, Eönne nicht viel ſchaden. Es Tag vielleicht im Einklang mit 
diefer Tendenz der Inftitutionen, daß jehr viele von den gedach⸗ 
ten Fuhrwerken an fehr unpafjenden Plätzen aufgeftellt waren, die 
Fußwege verfperrten und den Eingang durch die Thüren hinderten; 
auch waren da und dort, ohne daß man zuvor um Erlaubniß ge- 
fragt hätte, die Sperrflangen. weggenommen worden, und Obf- 
gärten fowohl, als Waidegründe mit einfpännigen Wägelchen an- 
gefuͤlt. Damit beabfichtigte man nabitrlich nichts weiter, als 


319 


Bferde und Fuhrwerke auf eine Weife unterzubringen, welche dem 
Eigenthlümer die wenigfte Unbequemlichkeit machte. Doch wie dem 
auch fein mochte, zwifchen den Inſtitutionen und diefen Kleinen 
Freiheiten fand ein gewiffer Zufammenhang ftatt, von dem vielleicht 
manche Staatsmänner glauben moͤgen, daß er im Geiſte der 
erſteren begründet ſei — freilich ein großer Mißgriff, ſofern dieſer 
Geiſt in den Geſetzen zu ſuchen iſt, welche alle derartigen Eingriffe 
verbieten und mit Strafe bedrohen, ausdrücklich in der Abficht, den 
Tendenzen der menjchlichen Natur einen Zügel anzulegen. Ontel _ 
Ro hat volltommen recht, wenn er fagt, nichts fei unter Umftänden 
ſich unähnlicher,, al8 der Geift der Inftitutionen und ihre Ten⸗ 
denzen. 

Ih fühlte mich nicht wenig überrafcht, als ich bei dieſem 
Anlaffe zu Littleneft faft eben fo viele Frauen als Männer ver- 
ſammelt ſah. Was die Infchens betraf, jo hatten fie Mr. Warren 
bis nach dem Dorf begleitet, als wollten fie ihn hiedurch in be- 
deutungsvoller Weife an ihre Anweſenheit erinnern, und ihn dann 
ruhig nach feinem Belieben ziehen lafien. Es wurde Mary nicht 
fhwer, ihn aufzufinden, und fo bald ich das Pferd angebunden 
hatte und den Weg hinunter kam, fand ich fie an feiner Seite, 
augenjheinlich im Gefpräh mit Opportunity und ihrem Bruder 
Seneka begriffen. Die Inſchens hielten fich ein wenig in der Ent- 
fernung und hatten meinen Onkel in ihrer Mitte — nicht als einen 
Sefangenen, denn e8 war Ear, daß ihn Niemand für etwas An- 
deres, als für einen Haufirer hielt. Er hatte feine Uhren wieder 
ausgekramt, und faft die ganze Hälfte der Bande fchien im Handel 
begriffen zu fein, objchon es mir vorfam, als ob Einige darunter 
ängftlich und mißtrauif ch feien. 

Es war ein auffallender Anblick, einen jo großen Menſchen⸗ 
haufen in offenem Troß gegen das Geſeb, das fie gewaltſam mit 
Füßen zu treten beabfichtigten, verfammelt zu ſehen — Menſchen, 
die allen Reicheren gegenüber ein Gejchrei über Ariftofratie erhoben, 


320 


obſchon die von ihnen Berfolgten kein einziges Vorrecht, nicht ein 
Titelchen von Gewalt befaßen, das nicht jeder Andere im Lande 
mit ihnen theilte. Was übrigens das Schaufpiel noch peinlicher 
machte, war der Umſtand, daß ein großer Theil der Inſchens, wie 
man aus der ganzen Haltung der Bande entnehmen-tonnte, aus 
blutjungen Burfchen befand, die von ſchurkiſchen, argliftigen Män- 
nern angeführt wurden und das Ganze als einen Witz betrachteten. 
Wenn die Gefebe fo fehr in Mißachtung gerathen, daß man fie 
zum Gegenftand folder Späfle macht, fo ift es doch an der Zeit, 
die Verwaltung derjelben einer Unterfuchung zu unterwerfen. Kann 
wohl Jemand glauben, daß fünfzig Grundbefiger im Stande ge- 
wefen wären, in diefer Weife einem neu erlaffenen Verbot zum 
Trotz zu handeln und offen ein mit fchwerer Strafe bedrohtes Ber- 
brechen zu begehen — dieß noch obendrein unter Umftänden, welche 
die Abſicht deutlich erkennen ließen, und eine fo lange Zeit, daß die 
Behörden fih wohl in der Lage befunden hätten, eine zureichende 
Streitmacht zu fammeln, um derartige Kundgebungen zu unter- 
drüden? Ich bin der Anftcht, wenn Mr. Stephen Renffelaer, 
Mr. William Renffelaer, Mr. Harry Livingston, Mr. John Hunter, 
Mr. Daniel Livingston, Mr. Hugh Littlepage und fünfzig Andere, 
die ich nennen könnte, bewaffnet und verkleidet betroffen worden 
wären, jelbft wenn fie dabei blos die Abficht gehabt hätten, Die 
Eigenthumsrechte zu vertheidigen, die durch unfere Snftitutio- 
nen feierlich verbürgt find, und deren Befeitigung nach der Anficht 
mancher Leute in dem „Geift derfelden” Liegen ſoll — fo müßten 
wir Alle insgefammt in die Staatögefängnifle fpazieren, ohne daß 
die Legislaturen ſich damit behelligen würden, ein Geſetz zu unferer 
Befreiung zu erlaffen! Dieß iſt wieder einer von den außerordent- 
lihen Zügen der amerifanifchen Ariftofratie, welche den edleren 
Theil der Gemeinfchaft jogar der alltäglichen Wohlthat des Geſetzes 
berauben. Es dürfte wohl der Mühe werth fein, einen Augenblid 
auf die Unterſuchung des Prozeſſes zu verwenden, der jo befremdliche 


321 


Nefultate herbeigeführt hat; indeß ift es glücklicherweiſe unnöthig, 
weil das Prinzip im Lauf der Gefchichte feine volle Entwides 
lung findet. 

Aus dem Benehmen Derjenigen, welche zufanmengelommen 
waren, um diefem Meeting anzumohnen, hätte fich ein Fremder 
wohl kaum einen Begriff von dem wirklichen Charakter der Zufam- 
mentunft bilden fönnen. Allerdings ftanden die „Bewaffneten und 
Berkleideten” in einem Haufen da und behaupteten einigermaßen 
den Schein, als gehörten fie nicht zu dem „Volke“; aber Viele, 
welchen diefes Prädikat unmwiderfprehlich zufam, machten bei den 
Berkappten Halt und flanden augenfcheinlih auf beftem Fuß mit 
denfelben. Sogar eine nicht geringe Anzahl Angehöriger des zar- 
teren Geſchlechts fchien in der Bande Bekanntfchaften zu haben, 
und ein Politiker von der andern Hemifphäre wäre ohne Zweifel 
höchlich überrafcht worden, wenn er mit angefehen hätte, wie das 
„Volk“ in folcher Weife mit Kerlen umging, welche ein von dem 
„Volke ſelbſt“ kürzlich erft erlaſſenes Gefeb fo offen mit Füßen 
traten. Unter unfern Politikern iſt's freilich anders, und fie hätten 
ſich mahrfcheinlich mit der Erklärung zu helfen gewußt, daß dieſer 
Widerſpruch im „Geift der Inftitutionen” begründet fei. Würde 
Jemand Hugh Littlepage erfuchen, die Schwierigkeit zu löfen, fo 
tönnte er wohl nichts Anderes antworten, als daß das „Volk“ von 
Ravensneft ihn zwingen wolle, die Güter, die er gerne felbft be- 
hielt, zu verkaufen; Vielen darunter fei e8 angelegentlih darum 
zu thun, an den erzwungenen Handel Preisbedingungen zu knüpfen, 
welche ihn einer guten Hälfte feiner Habe beraubten, und die Als 
bany-Philofophen fähen den „Geift der Inſtitutionen“, in einem 
Verhältniß, das in Wahrheit nur win „Geift des Teufels” ei, 
welcher doch vermöge felbiger Inftruftionen ausdrüdlich im Zaum 
gehalten werden follte. 

Wie man aus den paarweifen PrivatsUnterredungen entneh- 
men konnte, gingen im Freien allerlei Verhandlungen vor, die mit. 

Ravensneft. YaN 


322 


dem fogenannten , Pferdſchuppen“⸗Prozeß in Verbindung ftanden. — 
Wie ich höre, ift das Verfahren, welches diefen Namen führt, unter 
uns wohl befannt und erſtreckt fich nicht nur auf die Politik, fondern 
auch auf die Verwaltung der Gerechtigkeit. Ein regelrechter „Pferde- 
ſchupper“ macht ſich's zum Gefchäft, die Wirthshäufer zu befuchen, 
wo er Gefchworne finden kann, und läßt vor ihnen Winfe über den 
Gehalt von Prozeßſachen fallen, die, wie er weiß, auf dem Ka⸗ 
lender ftehen. Vielleicht weiß er e8 einzuleiten, daß er in ein Zim- 
mer mit ſechs oder acht Betten kommt, wo möglicherweije einer 
oder auch zwei Gefchworene in einem Bett zufammenliegen, und 
nun fängt er ganz ungezwungen über einen Prozeß zu fprechen an, 
bei welcher Gelegenheit er die eine Partie lobt, über die andere 
aber dunkle Wolken fallen läßt, die ein VBorurtheil gegen fie 
wecken müflen. Zugleich ftelt er die Thatfachen nach feiner eige- 
nen Weife dar und freut feinen Samen aus, fo daß er moralifch 
überzeugt fein darf, er werde Wurzel faffen und Keime treiben. 
Diefe ganze Zeit über unterhält er ſich nicht mit einem Gefchwo- 
renen — bei Leibe nicht; er übernimmt nur von vorneherein das 
Amt des Richters und zergliedert den Zeugenbeweis, noch ehe er 
abgegeben ift — natürlich nur unter vier Augen und einem guten 
Freund gegenüber. Allerdings ift ein Geſetz vorhanden, welches 
derartige Umtriebe mit Strafe bedroht, und in gleicher Wetje ver- 
hängt das Geſetz Beſtrafung über den Herausgeber einer Zeitung, 
welcher etwas veröffentlicht, was die Antereffen prozeßführender 
Parteien beeinträchtigen könnte. Im Auge des Geſetzes ift das 
„Pferdeſchuppen“ als eine fchreiende Bosheit angefehen, welche 
auf eine Zerftörung faft aller guten Früchte im Zury-Syftem ab- 
ziele, aber troß alledem bricht fich der „Geift der Anftitutionen” 
Bahn, und man mißachtet die erwähnten Verbote, wie auch Die 
ewigen Grundlagen des Rechts ebenjo, als ob fie gar nicht vor- 
handen feien, oder als ob ein freier Mann über dem Gefeb ſtehe. 
Er macht ja das Geſetz — warum follte er es nicht auch brechen 


323 


dürfen? Wir haben hier eine weitere Wirfung von dem Geift ber j 
Inftitutionen. 

Endlich läutete die Glode und die Menge begann fich nad 
dem Meetinghaus hin in Bewegung zu feßen. Diefes Gebäude 
war nicht das, welches urjprünglih an diefer Stelle geflanden 
hatte und bei deſſen Errichtung meine liebe alte Großmutter, da 
. mals ein liebliches, geiftwolles Mädchen von neunzehn Jahren, dem 
Bernehmen nad eine intereffante Probe ihrer Ruhe und ihres ge⸗ 
ſunden Urtheils an den Tag gelegt hatte. Das alte Haus war im 
Geifte des höchſten Diſſenterthums hergeftellt worden — in einem 
Geifte, der feine Anhänger bewog, gegen den guten Gejchmad 
eben fo fehr, wie gegen die religiöfen Dogmen zu Feld zu ziehen, 
um die Kluft ja jo weit als möglich zu machen — während in der 
neueren Struktur den Anfichten der Zeit einige Rechnung getragen 
war. Ich erinnere mich noch fehr gut des alten Meetinghaufes 
in Littleneſt, denn ich war eben ſechszehn Jahre alt, als e8 nie= 
dergeriffen wurde, um feinem anfpruchsvolleren Nachfolger Platz zu 
machen. Eine Schilderung beider dürfte nicht am unrechten Orte 
fein, um den Lefer in das Geheimniß unferer Ländlichen Kirchen⸗ 
architektur einzumweihen. 

Das „alte” Neft-Meetinghaus beftand, wie das fpäter erbaute, 
aus einem Balfengerüft, das mit tannenen ‚Schindeln bededt und 
weiß angeftrichen war. Die Farbe mußte jedoch nicht von befter 
Qualität gewejen fein, denn das Del ſchien, flatt in die Poren 
des Holzes einzudringen, zu verdunften, und der Farbftoff blieb als 
kreidige Zünche zurück, die durch Reibung abgewifcht und durch den 
Regen weggefpült wurde. Das Haus felbft war ein fleifes förmliches 
Parallelogramm und glich einem Mann mit hohen Schultern, der 
fih an Etwas zu halten fchien. Es hatte zwei Reihen Kleiner, un« 
Ihöner Fenfter, da eine ſolche Anordnung in der Periode feiner Er= 
richtung als ein Punkt der Orthodorie_ galt. Der Thurm war un 
geihlacht und Fonnte in dem einen Betracht zu groß, in einem 

21* 


324 


andern wieder zu Fein genannt werden, wenn fich anders biefer 
Widerſpruch vereinigen läßt — und es follte wohl angehen, da fich 
ja jonft auch in der Natur derartige Anomalien finden. Oben auf 
diefem Thurm befand fich ein Iangbeiniger Glodenftuhl, der eine 
ſehr gefährliche, gleichwohl aber oft vorkommende Neigung, fi) um— 
zulegen, verrieth. Diefe Abweihung von dem Loth hatte auf die 
Nothwendigkeit hingedeutet, ein neues Gebäude zu errichten — 
daſſelbe nämlih, in welchem heute die „Vorleſung“ über Beudal- 
weien und Ariftofratte gehalten werden follte. 

Das neue Meetinghaus zu Littleneft war weit anfpruchsvoller 
als fein Vorgänger; denn obfchon es auch nur aus Holz beftand, 
war doch an ihm eine Fühne Abweichung von den „erften Grund- 
ſätzen“ nicht nur in der phuftfchen, fondern auch in der morali- 
ſchen Kirche verfucht worden. In beiderlei Hinficht gehörte es der 
„neuen" Schule an. Was diefer Ausdrud im geiftigen Sinn be- 
deutet, weiß ich nicht genau; indeß vermuthe ich, es handle ſich 
dabei um eine Verbefferung irgend einer anderen Verbeſſerung in 
den älteren, ehrwürbigen Dogmen der Sekte, zu welcher fie ge= 
hört. Diefe Berbefferungen der Verbefferungen find ſehr gewöhn- 
lich unter ung und finden bei Vielen unter dem Namen des Fort- 
ſchritts großen Beifall, obgleich Derjenige, welcher in einiger Ent- 
fernung ſteht, in kurzer Zeit die Entdedung machen kann, daß die 
Fortſchrittsmänner fehr oft wieder auf denfelben Punkt fommen, 
von dem fie ausgegangen find. Was mich betrifft, fo finde ich in 
der Bibel eine fo tiefe Kenntniß der Menfchennatur und ihrer Ten⸗ 
denzen, fo viel Weisheit und fo umfaffende, fo fihere Rathſchläge, 
auch ausschließlich in Beziehung auf die Dinge dieſes Lebens, daß 
ich nicht glaube, Alles fei ein Fortfchritt in der rechten Richtung, 
weil wir ung auf Pfaden bewegen, die keine zweitaufend Jahre alt 
find! Ohne Zweifel hält fi das, was beibehalten zu werden ver⸗ 
dient, und das, mas man wegwerfen follte, die Wagfchaale, und 
obſchon ich zugebe, daß in der alten Welt unter dem Einfluffe des 


325 


„Geiftes ihrer Inftitutionen”, wie unfere Philofophen fagen würs 
den, unendlich viele Mißbräuche aufgewachfen find, fo Tann ich 
wahrhaftig au hier unter demfelben „Geift” eine gute Anzahl 
üppig wuchern jehen — wir brauchen fie beiderfeits, wie e8 der 
wahrhaft Weife flets thut, nur aus unferer gemeinfamen erbärm- 
lichen Wefenheit abzuleiten. 

Die Hauptabweichung von den erften Grundfäßen, wenn wir 
das Materielle in's Auge faflen, befland in der Zhatfache, daß das 
neue Meetingshaus nur eine Reihe von Fenftern hatte, und zwar 
von Senftern, die im Spitzbogenſtyl Eonftruirt waren. In früherer 
Zeit würde ein folches Gebäude ein wahres Schisma in der theo- 
logischen Welt hervorgerufen haben, und ich hoffe, daß man mit 
meiner Jugend und Unerfahrenbeit Nachficht haben wird, wenn ich 
mir mit aller Achtung die Andeutung erlaube, daß ein Spitzbogen 
oder überhaupt jeder andere Bogen in Holz wohlaud ein Schisma 
im Reich des Gefchmads veranlaffen dürfte. 

Wir gingen jept hinein, Männer, Weiber und Kinder — 
Onkel Ro, Mr. Warren, Mary, Seneka, Opportunity und Alles, 
die Inſchens ausgenommen; denn lebtere hatten aus irgend einem 
Grunde, welcher mit ihrer Politik zuſammenhing, fich vorgenom- 
men, außen zu bleiben, bis das ganze Auditorium in Grabes- 
flille beifammen faß. Der Redner befand fih in oder vielmehr auf 
einer Art von Gerüft, welches nach dem Neulichtfyftem in der Archi⸗ 
teftur errichtet war, und die alte unbequeme, häßliche Kanzel erfeßen 
mußte. Zu jeder Seite des Ehrenmannes ftand ein Geiftlicher, — 
zwei Männer, über deren befonderes Glaubensbefenntniß ich lieber 
ſchweigen will, denn e8 wird zureichen, wenn ich beifüge, daß Mr. 
Warren nicht dazu gehörte. Er und Mary hatten ihre Sige unter 
der Gallerie, ganz in der Nähe der Thüre genommen. Ich be= 
merkte, daß der Rektor unruhig wurde, fobald der Vorleſer mit fei- 
nen beiden Schildhaltern Die Nednerbühne betrat und auf dem Ge⸗ 
rüfte erfchien; endlich erhob er ſich, und verließ, von Mary beglei- 


326 


tet, plöglich das Gebäude. Im Nu war ich an ihrer Seite, denn 
ih kam auf den Gedanken, ein Unmwohlbefinden Eönne diefe felt- 
fame Bewegung herbeigeführt haben. Glüdlicherweife erhob fich 
jebt das ganze Auditorium in Maffe, und einer der Geiftlichen be— 
gann ein ertemporirtes Gebet. 

In dem gleichen Moment hatten fih die Inſchens um das 
Gebäude her aufgepflanzt, und flanden jet unter den offenen Fen— 
ftern, fo daß fie Alles hören Eonnten, was vorging. Wie ich fpä- 
ter erfuhr, war dieß im Einverfländnig mit denen im Haufe ges 
fchehen, weil einer von den Geiftlichen entfchieden ſich geweigert 
hatte, fich an den Thron der Gnade zu wenden, wenn einer aus 
dem Stamme anwefend fei. Wie wahr ift das Sprühwort, daß 
der Menfch oft die Mücken feigt und die Kameele verfchlingt! 


Fünfzehntes Kapitel. 


„3 fage dir, Sad Gabe, der Tuchmacher 
gedenft, dad Gemeinweſen hevauegufiulen. ed 
zu wenden und neue Haare daran hinzubürſten.“ 


König Seinrich VI. 


Da ih annahm, Mary müſſe ihren Vater meinen wahren 
Namen mitgetheilt haben, fo zögerte ich nicht, ihnen zu folgen, 
und fie zu fragen, ob ich ihnen in irgend Etwas Dienftlich fein 
fönne — eine Freiheit, die ich mir nicht wohl hätte erlauben dür- 
- fen, wenn man meine frühere Rolle für Wahrheit gehalten hätte, 
Nie ſah ich größere Betrübniß in dem Gefichte eines Menjchen 
ausgedrücdt, als dieß während meiner Annäherung bei Mr. Warren 
ber Fall war; ja, feine innere Aufregung ſprach fich jo lebhaft aus, 
daß ich mich ihm nicht aufzudringen wagte, fondern nur ftillfchwei- 
gend nachfolgte. Er und Mary gingen langfam neben einander über 
die Straße hinüber nach dem Stoup eines Haufes, deſſen gewöhn- 
liche Infaffen wahrfcheinlich Die entgegengefebte Richtung eingefchla- 
gen hatten. Hier ließ fih Mir. Warren nieder, und Mary nahm an 
feiner Seite Plaß, während ich in ihrer Nähe ftehen blieb. 

„Ich danke Euh, Mr. Littlepage,” fagte der Geiftliche mit 
einem fchmerzlichen Lächeln; „denn Mary fagt mir, daß ih Euch 
jo nennen müffe — ich danke Euch für diefe Aufmerkfamkeit, Sir; 
aber e8 wird in einer Minute vorüber fein. Ich fühle mich ſchon 
jebt beffer und werde mich bald wieder vollfommen faſſen können.” 


328 


Ueber die Urfache feiner Betrübniß wurde nicht weiter geipro- 
hen, und Mary hat mir fie erſt fpäter mitgetheilt. Als ihr Bater 
in das Meetinghaus ging, war es ihm nicht entfernt eingefallen, 
dag mit den Beremonien eines folhen Tages eine Art Gottesdienft 
in Verbindung gebracht werden könnte. Die beiden Geiftlichen auf 
dem Gerüft hatten ihm zuerft Unruhe eingeflößt, und ein ſchmerz⸗ 
licher Kampf ging in feinem Innern vor, denn er wußte nicht, 
follte er gehen oder bleiben und dem Boflenfpiel mit anwohnen, in 
welchem Bott mit Gebeten angerufen werden follte, und zwar von einer 
Berfammlung, die fich eingefunden hatte, um eines der einfachften 
feiner Gebote mit Füßen zu treten; denn ein Poffenfpiel mußte 
e8 um fo eher genannt werden, da verfappte Schurken das Ge⸗ 
bäude umringt hatten, um in der Mummerei die Hauptperfonen 
zu fpielen. Als Diener des Altars mußte er in erfterem alle den 
Schein auf fi laden, daß er Diejenigen verließ, welche fih im 
Gebet vereinigen wollten, und zwar noch obendrein unter Umflän- 
den, welche ihm gedeutet werden Eonnten, als verwerfe er jede 
Gottesverehrung, die nicht mit feinen eigenen Anfihten von der 
Wahrheit im Einklange ſtehe — eine Deutung, die ſich nothwendig 
nah und fern verbreiten und gegen feine eigene Pfarrgenoffen große 
BVorurtheile wecken mußte. Bei näherer Erwägung der Sache ge- 
wann er übrigens die Weberzeugung, daß er, wenn er blieb, an 
einer Art Gottesläfterung Theil nehme, weßhalb er unverweilt dem 
Impulſe feines Innern nachgab und den vorerwähnten entfchiedenen 
Schritt that; er wollte draußen bleiben, bis das regelmäßigere 
Geſchäft des Tages feinen Anfang genommen hätte. 

Mr. Warren hatte zuverläffig einem fehr edlen Antriebe Folge 
gegeben, indem er aus chriftlihem Gefühl und aus Ehrfurcht vor 
Gott keinen Theil nehmen wollte an einem Unterfangen, welches - 
den Allmächtigen unter folchen Umftänden mit Gebeten zu verhöh- 
nen gedachte; aber Durch eben dieſen Schritt verlor er vielen Ein⸗ 


fluß und gewann dafür eine Menge von Feinden. Daſſelbe Gefühl, 


329 


welches zu dem Geſchrei über Ariftokratie gegen jeden Gentleman 
Anlaß gegeben hatte, der in zureichend naher Berührung mit der 
Maffe fteht, um fich durch feine Lebensweife von feiner Umgebung 
zu unterfcheiden, — das Gefühl, welches die Einwanderer aus dem 
Dften, wo es keine großen Grundbefißer gibt, auf den Wahn bringt, 
fie müffen alle hieher bezüglichen Verhältniſſe niederreißen, weil ſie 
nicht ſelbſt Grundherren fein können, — und die Anficht, welche 
Dem Gejebgeber als Zriebfeder dient, aufzutreten und ohne Er⸗ 
xöthen in demfelben Augenblide von Feudalbräuchen zu fprechen, 
in welchem er Tund gibt, daß die Gleichheit des Rechts denen ver- 
fagt ift, welche er gern al Feudalherren brandmarken möchte — 
diefe Gefühle und Anfigten hatten fi) auch auf die Religion aus⸗ 
gedehnt, und die Kirche, welcher Mr. Warren diente, wird faft 
durchgängig felbft des Ariftofratismus geziehen. Diefe Befchuldigung 
rührt daher, weil fie Anfprüche erhebt, welche andere Kirchen ge= 
zierter Weife von fich ablehnen und als unmwefentliche Glaubens- 
teile verwerfen. Gleichwohl können fich letztere unter ihren eiges 
nen Dogmen nicht befriedigen, und mährend fie jubelnd fingen, fie 
hätten „eine Kirche ohne einen Biſchof“ gefunden, haffen fie die 
Kirche, die einen Bifchof hat, weil hier etwas ift, was fie felbft 
nicht befißen. Davon ift natürlich feine Rede, daß fie die verblen- 
deten Mitglieder einer folchen Kirche bemitleiden, wenn fie glau= 
ben, daß fie Unrecht hätten. Allgemein wird man dieß freilich 
nicht zugeftehen wollen; aber gleichwohl handelt ſich's hier um eine 
buchftäbliche Wahrheit, die fih auf hundert Arten und Weifen fund 
gibt. Man fieht dieß in dem Verſuche, die eigenen Priefter Bi- 
Ihöfe zu nennen, in dem Gefühle, welches fih fo augenfällig 
an den Tag legt, fo oft ein Gefchrei gegen die Bifchöflichen er- 
hoben werden kann, und in dem Geifte, in welchem die theologi- 
ſchen Streitigkeiten ftet3 geführt werden. 
- Wenn ich meine Kirche, wie fie in Amerika befteht, mit der- 
jenigen, aus welcher fie hervorgegangen ift, mit den fie umgeben- 


330 


ben Selten und mit den eigentlichen politifchen Verhäftniffen der 
beiden Hemifphären vergleiche, fo gibt fih mir eine genaue Ana= 
Iogie an die Hand. Durch Entfernung vieles Ueberflüffigen, durch 
Zurüdführen der geiftlichen Orden auf die urfprüngliche Zahl Drei 
— eine Maßregel, die fowohl in der Theorie als in der Praris 
durchgeführt worden iſt — und durch VBerwerfung aller Beziehung 
zu der Staatsgemalt hat der amerikaniſche Zweig der bifchöflichen 
Kirche eine Stellung gewonnen, die ich nur wünfchenswerth finden 
fann, da fie fo gut wie möglich die Einfachheit des apoftofifchen 
Zeitalters wieder herftellt, ohne die Vorfchriften und Bräuche der 
Apoftel ſelbſt zu mißachten. Sie hat fih nicht über das Alter- 
thum und lang herfömmliche Autorität erhoben, fondern im Gegen- 
theile fih Mühe gegeben, beides zu erhalten, ohne Übrigens den 
neueren Mißbräuchen Duldung zufließen zu laſſen. Ebenſo iſt's 
auch mit der Politik der Fall. Man hat keine Verſuche gemacht, 
in Amerika neue ſociale Gränzlinien zu ſchaffen, ſondern nur die— 
jenigen, welche von dem Beftand jeder civilifirten Geſellſchaft un⸗ 
zertrennlich find, von dem unpaſſenden Ineinandergreifen befreien 
wollen, das durch die Werkzeuge kriegeriſcher Bedrücker organifirt 
wurde. Die Weiſen unſeres Landes haben bei Schaffung der In- 
flitutionen eben fo wenig daran gedacht, die großen Grundbefiger 
abzuſchaffen, als es der Kirche einftel, fich ihrer Bifchöfe zu ent⸗ 
ledigen. Erftere wußten recht wohl, daß die Abflufungen im Befiß 
eine unvermeidliche Beigabe der Eivilifation feien — daß e8, wein 
vieleicht auch möglich, doch nicht Klug wäre, den Reichen zu hin- 
dern, feine Kapitalien auf Grund und Boden anzulegen, und daß 
letzteres fich nicht ausführen laffe, ohne dag das Syftem des großen 
Grundbefites im Verein mit dem Pachtverhältnig Fortbeftand habe. 
Dadurch, daß in anderen Theilen der Welt die Grundherren Bor- 
rechte beſitzen, die für den natürlichen oder einfachen Beftand des 
Charakters nicht nöthig find, war fein Grund gegeben, den Cha- 
rakter ſelbſt zu zerflören. Die Thatfache, daß die Bilchöfe won 


331 


England eine Autorität befiten, von welcher die Apoftel nichts 
wußten, Eonnte doch den amerikanifchen Zweig derfelben Kirche nicht 
vermögen, ein Amt ganz zu befeitigen, das von den Apofteln her- 
ſtammte. Neid und Eiferfucht laffen übrigens Niemand Zeit, über 
derartige Dinge nachzudenten, denn für ſolche Perfonen ift e8 einer- 
jeit8 genug, daß Andere Bifchöfe haben, ohne daß fie felbft ein 
Anrecht an ein derartiges Inftitut befiken, wenn fle nicht ihre ge- 
genwärtige Organiſation und ihre Dogmen aufgeben wollen, wäh- 
rend andererfeits Die Thatfache zureicht, Daß Leute Ländereien befigen 
und fich gefellfchaftlicher Stellungen erfreuen, die ihnen nicht zu= 
gänglich find. Deßhalb heißt es dann auch: „ich will mich dir ent- 
gegenftellen und in das Gefchrei Derjenigen einftinnmen, welche ums» 
fonft zu Farmen kommen möchten!” 

Sch habe mich über diefe Punkte mit einiger Ausführlichkeit 
verbreitet, weil mein und Mr. Warrend Benehmen bei dem vor= 
erwähnten Anlaß einen unmittelbaren Einfluß auf die Umftände 
übte, die bald in meiner Erzählung zur Sprache fommen werden. 
Wahrjcheinlich dachte an jenem Morgen die volle Hälfte Derjenigen, 
welche fih in dem Meetinghaus von Littleneft verfammelt hatten, 
als fie aufftand, und dem Gebet nur eine träge Aufmerkſamkeit 
ſchenkte — an nichts Anderes, als an die ſkandalöſe ariftofratifche 
Aufführung des Mr. Warren, der „das Meeting verließ, als Die 
Berfammlung eben zu beten anfangen wollte! „Gewiß waren nur 
Wenige zugegen, welche diefen Akt einem Beweggrund chriftlicher 
Liebe zufchrieben, und wahrfcheinlich Tonnte fich nicht Einer von den 
Anwefenden denken, daß die Beranlaffung dazu in einem der rein- 
ften und edelften Gefühle befand. So treibt die Welt ihren Hohn. 
Es unterliegt feinem Zweifel, daß von Stunde an ein boshafter 
hitterer Groll gegen den würdigen Rektor erwachte — ein Groll, 
der noch nicht nachgelaffen hat und auch wahrjcheinlich in vielen 
Hunderten nicht nachlaffen wird, bis einmal die Nähe des Todes 
die wahre Beichaffenheit von jo vielen ihrer Gefühle aufdedt. 


332 


Es fund einige Minuten an, ehe Mr. Warren feine ganze 
Baflung wieder gewonnen hatte. Endlich redete er mich in feiner 
gewöhnlichen milden und wohlwollenden Weife an, indem er mir 
über meine Rückkehr einige Komplimente fagte, zugleich aber feine 
Beſorgniß ausdrücte, daß ich und mein Onkel Ro fo unklug gewe⸗ 
jen feien, ung fo zu jagen in den Rachen des Löwen zu begeben. 

„Eure Verkleidung muß allerdings ausgezeichnet gut fein, 
fügte er Lächelnd bei, „da fie Euch bis jeßt fo wunderbare Dienfte 
geleiftet hat. Daß Mary und ich getäufcht wurden, kann nicht fehr 
in Frage tommen, da wir Beide Euch früher nie gefehen haben; 
aber die Art, wie Ihr Eure nächften Verwandten irre führtet, ift 
wirklich überrafchend. Gleichwohl ift aller Grund vorhanden, die 
größte Vorficht zu beobachten, denn der Haß und die Eiferfucht 
baden ein Auge, welches noch fchärfer ift, als das der Liebe." 

„Ih denke, wir find ficher, Sir,” antwortete ich, „da das Ver⸗ 
dot auf uns nicht in Anwendung kommen kann. Wir kennen un- 
ſere Hägliche ariftokratifche Lage zu gut, um und den Krallen des 
Geſetzes preiszugeben: denn wenn man uns als begüterten Adel 
betrachtet, fo find unfere Vorrechte fo ausgezeichnet, daß wir der 
moralifchen Ueberzeugung leben dürfen, Jeder von ung würde als 
Verbrecher in's Staatsgefängniß gefchidt werden, wenn wir ung zu 
Schulden tommen ließen, was dieſe Inſchens vollfommen ungeftraft 
begehen und auch in Zukunft begehen werden. Keine Stimme würde 
fih für uns erheben, und wir dürften darauf zählen, fo lange 
feftgehalten zu werden, als noch eine Thräne des Schmerzes Denen 
abgepreßt werden könnte, welche man der Ariflofratie beizuzählen 
beliebt. Nur die Demokratie findet eine Theilnahme unter den ge⸗ 
wöhnlichern Pflegern der amerikanifchen Gerechtigkeit!" 

„Ih fürchte, daß Eure Ironie nur zu viel Wahres enthält. 
Doch die Bewegung um das Gebäude her fcheint anzudeuten, daß 

das eigentliche Gefchäft des Tags feinen Anfang nimmt, und wir 

werden gut thun, wenn wir wieder in Die Kirche zurüdfehren. 


333 


„Jene verfappten Männer beobachten uns auf eine fehr 
mißliebige und beunruhigende Weife,” fagte Mary Warren — 
und ihre Wachfamkeit für mich entzüdte mich weit mehr, als 
ih durch die Thatſache, welche fie berichtete, beforglich gemacht 
wurde. 

Daß wir übrigens beobachtet wurden, ftellte fich, als wir ung 
dem Gebäude näherten, in dem Benehmen einiger der Infchens 
augenfällig genug heraus. Sie hatten die Seite der Kirche, wo fie 
während des Gebetes ihre Poften genommen, verlaffen, und unter 
Denen, welche uns am nächften ftanden, ging Kopf zu Kopf, oder 
um mid beffer auszudrücken, Balicobündel zu Galicobündel, da von 
der Form des Kopfes nirgends etwas zu fehen war. Mr. Warren 
und Mary blieben unangefochten und Eonnten unbeläfligt in das 
Meetinghaus gehen; aber zwei von den verfappten Ehrenleuten tra= 
ten vor mich hin, verfperrten mir mit ihren Büchfenläufen den Weg 
und ließen mich nicht weiter. 

„Wer Ihr?” fragte einer von den Beiden abgebrochen. Wo⸗ 
- bin gehen? — woher kommen?“ 

Mit meiner Antwort war ich ſchnell fertig, und ich hoffe, daß 
fie auch mit zureichender Feftigkett vorgetragen wurde. 

„Ich komme von Tſcharmany und will in die Kirche, wie man 
in meinem Lande zu fagen pflegt — in das Meetinghaus, wie Ihr 
es hier nennt.” 

Wer weiß, was noch gefolgt wäre, wenn ſich nicht eben Die 
laute, deklamatorifche Stimme des Vorlefers, welcher feinen Vor⸗ 
trag begann, hätte vernehmen laſſen. Dieß ſchien für den Stamm 
ein Signal zu einer Bewegung zu fein, denn die beiden Serie, 
welche mich angehalten hatten, entfernten fich wieder mit aller Ruhe, 
obſchon die Calicobuͤndel fich fortwährend zu einander hinneigten, 
während die Träger derfelben, augenfcheinlich fich ihre Argwöhnuns 
gen mittheilend, von binnen marfchirten. . Ich benügte das Auf- 
geben der Thüre und trat in die Kirche, wo ich mich durch das 


334 


Gedräng weiter arbeitete, bis ich an der Seite meines Onkels einen 
Platz gefunden hatte. 

Sch habe eben fo wenig Zeit und Platz, als Geneigtheit, den 
Bortrag des Sprecherd umfländlich zu zergliedern, der zwar fehr 
geläufig, aber auch in hohem Grade aufgeblafen, und nichts weni- 
ger als Iogifch redete. Er gerieth nicht nur mit fih felbft, fon- 
dern auch mit den Gefegen der Natur in Widerfpruh, und ich 
drauche den einfichtsvollen Lefer nicht erft darauf aufmerkfam zu 
machen, daß der Charakter der Rede im Allgemeinen blos eine 
Berufung an die Leidenfchaften und Interaffen des Auditoriumsg, 
nicht aber eine Appellation an ihre Vernunft war. Er verbreitete 
fih anfänglich über die befonderen Pachtverhältniſſe auf den alten 
Befipthümern der Kolonie, und kam dabei in der gewöhnlichen 
Weife auf die Bürgfchaftsverkäufe, Die Zinshühner, die Tagarbeiten 
und die ewigen Verträge zu fprechen. Auch der Vorbehalt der 
Minen wurde als eine tyrannifche Bedingung bezeichnet, als ob 
ein Grundbeſitzer verpflichtet ei, von den ihm zugehörigen Nech- 
ten mehr abzutreten, als er für pafjend hält, oder ein Pächter 
mehr anfprechen könne, als von ihm gemiethet wurde. Diefer Mann 
behandelte alle diefe Zweige feines Thema's fo, wie wenn dig Pächter 
durch Zeit und Benügung gewiſſe geheimnißvolle Sntereffen gewon- 
nen hätten, und überjah dabei ganz und gar die Thatfache, daß 
durch den nämlichen Prozeß die andere Partei fo gut einRecht ge= 
wonnen hatte, als die eine; denn die Bertragsurfunde ift ein In⸗ 
firument, welches durch den Lauf der Zeit unter beiden an Anfehen 
gewinnen muß. Iſt der eine Theil als Pächter alt geworden, fo 
wurde es der andere ald Grundbefiter. Es fam mir vor, als ob 
fih der Borlefer gar gerne auf die Manor-Berhältniffe beſchränkt 
hätte, da dieſe ein Thema waren, über das er fich gewöhnlich zu 
verbreiten pflegte; aber bier handelte ſich's um eine ganz andere 
Aufgabe, weil man zu Ravensneft nicht über die feudaliftifche Be- 
drückung der Bürgfchaftsverfäufe, über die „vier fetten Hühner,“ 


335 


über die „Frohntage” und über die „Tange Dauer“ der Pachtvers 
träge in ſchwunghafte Ergießungen ausbrechen konnte. Es lag 
augenfcheinlih im Intereffe, hier nichts von den erfleren Punkten 
zu jagen, fondern fich eher über die Kürze der Pachtverträge zu 
beklagen, da die meinigen großentheils in Bälde fällig waren. Weil 
er deßhalb nothwendig ein neues Terrain fuchen mußte, fo nahm 
er fi vor, einen guten Boden zu faffen, der ihm das Weiterkom⸗ 
men am wenigften erfchwerte. 

Sobald der Vorlefeg die Hauptpunkte durchgegangen hatte und 
fi) ihm nun Die —2 — an die Hand gab, die Einzelnhei⸗ 
ten zu beſprechen, fo ließ ex fich zuvörderſt in fehr deflamatorifcher 
Weife über die Samilie Littlepage aus. Was hatte fie je für Ame⸗ 
rifa gethan, fragte er, daß fie im Lande die Lords fpielen ſollten? 
In Folge eines Prozeffes, den er wohl ſelbſt am beſten verſtehen 
mußte, hatte er die Landlords *) zu Lords im Lande umgewandelt, 
und nun zielte er darauf hin, lebtere, wo nicht beide Stellungen, 
den Pächtern anzuweiſen. Natürlich kamen manche öffentliche Dienſt⸗ 
leiftungen, deren fich die Littlepage's rühmen konnten, nicht zur 
Sprache, denn unter einem ſolchen Ausdrucke verſtand der Vorleſer 
ſowohl, als ſein Auditorium, nichts Anderes, als Dienſtleiſtungen 
für das Volk, indem man dazu half, allen feinen Wünſchen Vor⸗ 
hub zu leiften, wie raubfüchfig oder nichtewürdig fie auch fein 
mochten. Wer den Zuftand der Dinge unter ung kennt, weiß recht 
wohl, wie jelten das „Volk“ die Wahrheit au hören befommt, ſo⸗ 
bald ſeine Macht und: feine Intereffen i e fommen, und es 
darf daher nicht überraſchen, wenn a der ſeichteſte Schwaͤtzer 
im Stande war, über dieſen beſonerkn Gegenſtand der Ravens- 
nefter Zuhörerfchaft Sand Mm die zu ſtreuen. 

Am meiften Intereſſe igens für mich, als Diefer 
Menſch auf mich ſelhſt zu fp en kam. Es trifft fich nicht oft, 









) Srundbefiger. 


336 


daß Jemand eine fo gute Gelegenheit findet, feinen eigenen Cha= 
rakter bezeichnen und feine innerflen Beweggründe zerglievern zu 
hören. Erflih wurde dem Auditorium mitgetheilt, daß dieſer 
junge Hugh Littlepage nie etwas für das Land gethan habe, wels 
ches er ſtolz und nach Weife eines vornehmen europäifchen Adeligen 
fein ‚Befigtyum“ nenne. „Die meiften von euch, meine lieben Mit- 
bürger, können als Befigtitel an jene Barmen ihre ſchwieligen Hände 
aufweiſen und fi) noch der fengenden Sonnenhige erinnern, unter 
welcher fie jene nun fo lieblichen Auenggnlegten. Aber Hugh 
Littlepage hat in feinem Leben nie ein Agwerk verrichtet —“ 
zehn Minuten vorher hatte er die „Tagwerke" in den Manor= 
Verträgen ald einen Schimpf bezeichnet, dem ſich ein freier Mann 
nicht unterziehen follte — „nein, Mitbürger, diefe Ehre it ihm nie 
au Theil geworden und wird ihm nie zu Theil werden, wenn nicht 
über fein Tigenthum ober über das, was er fein Eigentum nennt, 
eine gerechte Theilung ergeht und er fich dadurd in die Nothwen- 
digkeit verfegt fieht, zu arbeiten, um vie Ernten zu erzielen, die er 
aufbrauchen will, 

„Wo ift im gegenwärtigen Augenblick diefer Hugh Little- 
page? In Paris, wo er, wie die Tonangeber der Ariftofratie, 
euren fauern Berdienf in einem fehwelgerifchen Leben verpraßt. 
Er figt mitten im Ueberfluß, führt eine koſtſpielige Tafel und Hei» 
det fih aufs Reichſte, während ihr mit den Eurigen im Schweiß 


eures Angefichts r Mann, 
der fich mit einem begnügt! 
Nein, meine Lan hte einen 
goldenen Löffe et's zwar 
ſchwer finden, es republi⸗ 
kaniſche Farmer Wahrheit 
— duͤrfen nur x ittlepage 
würde um keine? id fleden, 
‚wie wir — wie al [x halten. 


u 4 


337 


Er Lönnte daran erftiden, und nur filberne Gabeln dürfen feine 
gefalbten Lippen berühren!" 

Ein ſchwacher Berfuh, einen Beifallsfturm herbeizuführen, 
verunglüdte ganz und gar, denn die Männer von Ravensneft hat- 
ten die Littlepages ihr ganzes Leben Über in der ſocialen Stellung 
geiehen, die fie einnahmen, und es kam ihnen im Grunde nicht 
fo gar außerordentlich vor, daß wir filberne Gabeln haben follten, 
während ja Andere auch filberne Köffel befaßen. Der Vorleſer hatte 
Zaft genug, um een daß er in Betreff diefes Punktes 
nicht die rechte Sait® angefchlagen hatte, und ging deßhalb auf 
einen andern über. 

Der nächfte Angriff galt unferem Befistitel. Woher rührt 
er? fragte der Vorlefer. Bon dem König von England. Aber% 
Das Volk bat diefem Souverän das Land abgefämpft und fich ſelbſt 
an defien Stelle geſetzt. Iſt es nun nicht ein ganz vernünftiger 
Grundfaß in der Politik, daß die Beute dem Sieger gehört? Er 
wenigftens ſei Diefer Anfiht und in der Eroberung von Amerika 
habe das Volk auch das Land erobert; es ftehe daher in vollem 
Recht, wenn es dieſes an fich bringen und für ſich behalten wolle, 
Auf Befistitel, die von Königen herrühren, halte er nicht viel, und 
er glaube, Daß es dem amerikanischen Volke im Allgemeinen eben 
ſo ergebe. Wenn Hugh Littlepage ein Beſitzthum, wie er es nenne, 
mwünfche, fo folle er zu dem Volk kommen und „diefem” dienen; er 
werde dann fchon fehen, welcher Art das Befigthum fei, das er von 
demfelben erhalten werde. ® 

In dieſer Nede befand fich übrigens ein Abfchnitt, der fo 
merkwärdig war, dag ich wohl den Verſuch machen muß, ihn zu 
geben, wie er vorgetragen wurde. Während der Vorleſer ſich über 
den Punkt- der’ Rechtstitel verbreitet, brach er in folgende Er= 
gießung aus: - % 

„Kommt mir nicht," — Feuchte er — denn feine Stimme hatte 
fich nachgerade zu einer Höhe gefteigert, wie man fle von den Me⸗ 

Ravensneft. AR 


338 


thodiften bei einem Feldmeeting zu hören pflegt — „fommt mir 
nicht mit Altertum, Zeit und langem Beſitz, als mit Dingen, 
welche Berüdfichtigung verdienen. Es ift nichts — gar nichts da- 
hinter. Ich will zwar zugeben, daß nur der Befib vor dem Geſetz 
gut ift; aber das iſt's eben, behaupt’ ich, was die Pächter auf ihrer 
Seite haben. Sie find in den rechtmäßigen Befiß des Eigenthums 
gefommen, welches nah und fern hier herum liegt, und es ift eine 
reiche, gute Erbichaft, wenn es unter fleißige, ehrliche Leute ver- 
theilt wird, jedenfalls aber um zehn Tauſende von Acres zu viel 
für eisen jungen Burfchen, der fein Bertigen in fremden Län- 
dern verpraßt. Sch behaupte, daß fchon jeßt, gegenwärtigen 
Augenblid, die Pächter in einem gefegmäßigen Befig flehen; nur 
gtind fie vom Geſetz verhindert, fich deffelben zu erfreuen. An alle 
dem ift nur jenes verwünjchte Geſetz fchuldig, daß der Pächter 
feine Befibanfprüche gegen feinen Grundherrn erheben könne. Ihr 
erfeht aus dieſer einzigen Thatjache, meine Mitbürger, daß die 
Grundherrn eine privilegirte Klaffe bilden und auf das Niveau der 
allgemeinen Menfchbeit heruntergebracht werden müffen. Ihr Eünnt 
Befiptitel gegen jeden andern Menfchen geltend machen, nur nicht 
gegen einen Grundherrn. Sch weiß, was in den Primifis gefagt 
iſt“ — ey verfchüttelte dabei den Kopf, als verlache ex jede Be— 
weisführung, welche über diefen befondern Punkt von der Gegen- 
partei aufgebracht werden könnte — „ich weiß, daß Umftände die 
Sachen ändern. Ich kann einfehen, wie hart e8 wäre, wenn ein 
Nachbar. dem andern für einen Tag ein Pferd abborgen oder ab⸗ 
miethen, dann aber behaupten könnte, er habe aus irgend einem 
andern Grund ein Befigrecht daran. Aber Pferde find Teig Land 
und ihr müßt mir dieß zugeſtehen. Ja, wenn Pferde Land wären, 
dann würde fich die Sache-ganz anders geftalten. Land ift ein. 
Elemieng, ebenfogut wie Feuer, Waller und Luft, und wer wird 
wohl fügen wollen, daß ein freier Mann kein Anrecht habe an die 
£uft und an: das Waffer, oder, nach demſelben Grundfage, auf 


339 


Grund und Boden? Er hat es, meine Mitbürger — er hat es. 
Es gibt Dinge, welche man in der Philofophie Elementarrechte 
nennt, und gerade hieher gehört auch das Recht an die Elemente, 
von denen der Grund und Boden eines und zwar das hauptjäcdh- 
lichte bildet. Ich fage, das hauptſächlichſte; denn wäre kein Land 
da, auf dem man fußen koönnte, fo würden wir von der Luft wegfal- 
len und Fönnten ung ihrer nicht erfreuen; alles unfer Waffer würde 
fih in Dunft auflöfen und Eönnte nicht zu Mühlen und Fabriken 
verwendet werden. d welchen Nutzen brächte uns das Feuer, 
wenn wir feinen Boden hätten, um es darauf anzuzünden? Nein, 
das Land ift das erfte Elementarrecht, und in unmittelbarer 
Berbindung mit ihm ſteht das erfte und heiligfte Recht an Die 
Elemente. 

„Ih will zwar das Altertfum nicht ganz und gar verachten. 
Mein, ich ehre und achte Vorkaufsrecht, denn es Fräftigt und unters 
fügt das Recht an die Elemente. Auch kann ich das Squattern 
nicht fo verdammen, wie es Einige thun. Man handelt dabei na⸗ 
turgemäß, und die Natur ift ein Recht. Ich achte und ehre Den 
Beſitz eines Squatters, denn er fleht unter dem heiligen Grundſatz 
der Nüßlichkeit, welcher da fagt: „gehe hin und laß die Wildniß 
wie die Roſe erblühen." Das Squattern dient dem ‚Fortfchritt‘. 
Diep ift ein Altertum, welches ich achte. Ich achte das Alter- 
thum der Beflgungen, auf denen ihr als Pächter ſeßhaft feid; 
denn es ift ein mit fchwerer Mühe erworbenes nüpliches Alterthum 
— ein Alterthum, das ſich vermehrt und vervielfältigt. Wenn man 
jagen will, Hugh Littlepage’8 Ahnen — diefer Adel hat ‚Ahnen‘, 
während wir „gemeinen Leute‘ uns mit Vorfahren begnügen müſ—⸗ 
fen" — diefer Hieb verfing bei vielen Anwefenden und erregte ein 
fat allgemeines Lachen — „aber wenn man mir fagen will, dieſes 
Hughs Ahnen hätten für das Land etwas bezahlt — meing lieben 
Mitbürger, fo würde ih an Eurer Stelle großmüthig fein und es 
ihm wieder zurückgeben. Vielleicht entrichteten feine Ahnen an den 

. Wr 


340 


König einen Eent für den Acre — kann fein auch zwei, oder fagen 
wir meinetwegen ſechs PBence, wenn ihr jo wollt. Ich mürde ihm 
feine fech8 Bence für den Acre zurüdgeben, nur um ihm den Mund 
zu fchließen. Nein, ich bin für nichts, was unedelmüthig wäre. 
„Mitbürger, ich erkläre, daß ich bin, was man einen Des 
mokraten nennt. Ich weiß zwar, daß es unter euch viele foge- 
nannte Whigs gibt — indeß Tann ich mir wohl denken, daß in 
Betreff des Landpachtfyftems Fein fonderlicher Unterfchied zwifchen 
uns flattfinden wird. Wir Alle find Republikaner, und das Ver⸗ 
pachten von Barmen ift antirepublifanifch. But alfo; ich wuͤnſche 
auch freifinnig gegen Diejenigen zu fein, welche ich gemeiniglich bei 
den Wahlen befämpfe, und will deßhalb freimüthig zugeftehen, daß 
in Beziehung auf diefen Antirentismus die Whigs und Demokraten 
ziemlich in den Hintergrund gedrängt haben. Es thut mir leid, 
es einräumen zu müflen, indeß muß doch zugeflanden werden, daß 
in Betreff der Gouverneure viel Uneinigkeit geherrfcht hat. Ja, 
thut fie in einen Sad, fchüttelte fie wohl durch einander, und ihr 
werdet kaum wiflen, welcher zuerft herausfommen wird, welcher 
fich felbft die unfterblichfte Ehre erwiefen hat, und welchen man als 
den gründlichften, umfaffendften und beften Staatsmann betrachten 
darf. Sch weiß, daß einige von unfern Leuten fich über die Gou- 
verneure befchweren, weil fie Truppen gegen die Inſchens ausge⸗ 
ſchickt haben; aber fie fonnten nicht anders und würden e8, wenn 
mir ein Urtheil zufteht, gewiß unterlaffen haben, wenn es nur halb⸗ 
wegs möglich gewefen wäre, diefe Maßregel zu umgehen. Das 
Geſetz war zu ſtark für fie, und deßhalb mußten fie auf die In⸗ 
ſchens los; aber jeßt machen fie mit uns gemeinfchaftliche Sache, 
um die Ariftofratie zu unterdrüden und das Banner der allgemei= 
nen Humanität aufzupflauzen, Nein, ich will nichts gegen die 
Öpuvergenre fagen, obfihon man von vielen Seiten her anderer 
"Meinung if. 
„Aber ich erkläre, daß ich ein Demokrat bin, und will Euch 


341 


meine Grundfäße im Umriß vorlegen, damit Alle fehen mögen, 
warum fie unmöglich, unter was immer für einer Form oder Ge⸗ 
ftalt, jebt oder für alle Zeiten mit der Ariftofratie oder dem Adel 
eines Sinnes fein Eönnen. Ach lebe des feften Glaubens, daß in 
allen Stüden. ein Menſch fo gut iſt wie der andere. Weder Ge- 
burt noch Geſetz, weder Erziehung, noch Reichthümer, weder Ar- 
muth noch ſonſt etwas kann an Diefem Grundfaß etwas ändern; 
Denn er ift heilig, ift ein Grundprinzip und der Hauptedflein einer 
wahren Demokratie. Ein Menfch ift fo gut wie der andere, fage 
ih, und alle haben ein gleiches Recht, fi) der Erde und ihrer 
Privilegien zu erfreuen. Ich halte dafür, dag die Mehrheit in 
allen Dingen herrfchen muß, und daß es Pflicht der Minderzapl 
if, fich zu unterwerfen. Diefen Sab hat man mir zwar an man 
chen Pläben, wo ich fprach, zurüdigegeben und mit der Frage er- 
wiedert: ‚wie fol ich dieß verftehen? — Die Mehrheit muß berr- 
fihen und die Minderzahl ſich unterwerfen — in diefem Falle ift 
der Wefenheit nach die Minderzahl übler daran, als die Mehrheit, 
und hat nicht das gleiche Recht. Man verlangt von ihr, daß fie 
etwas anerfenne, was ihrer Anficht nach nicht geſchehen foflte. ‘ Die 
Erwiederung hierauf ift fo einfach, und es nimmt mich Wunder, 
wie ein vernünftiger Menſch die Frage ftellen ann; denn jede Min- 
derheit hat weiter nichts zu thun, als ſich der Majorität anzu» 
ſchließen, und dann hat fie Alles, wie ſie's wünfcht. Der Weg ift 
Jedem freigelaffen, und eben diefer offene Weg iſt's, was die wahre 
Freiheit macht. Seder kann's mit der Majorität halten, und ver- 
ftändige Perfonen thun's gemeiniglich, wenn ſie dieſelben finden 
können. Dieß macht einen nicht nur zu einem Mann, wie man 
zu jagen pflegt, fondern auch zu einem freien Danne, was ein 
noch ehrenwertherer Titel if. 

„Mitbürger, eine große Bewegung ift im Gang! ‚Vorwärts‘ 
heißt die Lofung, und der Zug iſt begonnen. Unfere Gedanken 
fliegen bereits auf den Schwingen des Blitzes dahin und unfere 


342 


Körper bewegen ſich nicht viel langſamer durch die Kraft des Dam- 
pfes. Bald werden unjere Grundjäge Allen vorausſchießen und in 
der allgemeinen Reform den Strablenglanz eines herrlichen Tages 
einführen. Dann jehen wir Lieblichkeit, Zugend und Menfchenliebe 
im jhönen Bunde! Man wird das gehäffige Wort Rente nicht 
mehr hören, und Jeder kann fi) niederfeßen unter feinen eigenen 
Apfel- oder Kirkhbaum, wenn nicht gar etwa unter Den eigenen 
Feigenbaum. 

„3ä bin ein Demokrat — ja ein Demokrat. Glorreiche Be- 
zeichnung! Ich fchwelge in ihr! Sie ift mein Stolz, mein Ruhm 
und meine Tugend. Laßt nur das Bolt in Wahrheit herrichen, und 
Alles muß einen guten Fortgang nehmen. Das Volk hat feine 
Verlockung, Unrecht zu thun. Wenn es den Staat verlebt, verletzt 
e8 ſich ſelbſt, denn das Volk ift der Staat. Iſt es wohl denkbar, 
daß Jemand fich felbft beihädige? Gleichheit it mein Grundfap. 
Aber unter Gleichheit verftehe ich nicht jene befchränfte Elägliche 
Gleichheit vor dem Geſetze, wie man fie bisweilen zu nennen pflegt, 
denn diefe ift durchaus keine Gleichheit. Ich habe eine weientlichere 
Gleichheit im Auge, und diefe muß hergeftellt werden, da das Wir⸗ 
Een des Gefepes fie in Unordnung gebracht hat. Mitbürger, wißt 
ihr, was unter einem Schaltjahr zu verftehen it? Ich kann mir 
denken, daß einige von euch es nicht wiflen, denn namentlich die 
Damen fchenken der Aftronomie nicht viel Aufmerkjamkeit. Gut; 
ich habe meine Forſchungen angeftellt und bin zu folgendem Reful- 
tate gefommen. Wie wir alle wiffen, wälzt fich die Erde im Lauf 
eines Jahrs um die Sonne; aud) ift allbefannt, daß wir dreihun⸗ 
dert und fünfundfechzig Tage im Jahr zählen. Aber die Erde 
braucht einige Stunden länger als dreihundert und fünfundfechzig. 
Zage, um ihren Umlauf zu machen — faft ſechs Stunden länger. 
Run weiß Jedermann, daß viermal ſechs vierundzwanzig gibt, und 
deßhalb wird mit jedem vierten Jahr dem Februar ein neunund- 
Zwanzigfter Zag beigegeben, um die verlorene Zeit wieder herzu⸗ 


343 


ftellen. Nach langer Frift wird ein abermaliger Wechfel vorgenom- 
men, um die Bruchtheile auszugleichen. So verhält ſich's mit der 
Demokratie. Die menfchliche Natur Tann noch keine Geſetze auf: 
fteflen, Die Alles auf vollkommen gleichen Fuß zu erhalten im Stande 
find, und deßhalb find für den politifchen Kalender politifche Schalt- 
jahre nöthig, um das Gleichgewicht wieder herzuftellen. In der 
Aftronomie müffen wir die Stunden und Minuten auf's Neue thei- 
Ten, in der Menjchheit aber ift e8 erforderlich, daß von Zeit zu Zeit 
Das Land getheilt werde." 

Doch ich kann diefem aufgeblafenen Narren nicht länger folgen, 
denn er war eben fo jehr Narr, als Schurfe, obfchon er von der letz⸗ 
teren Eigenfchaft einen großen Theil in fih barg. Augenfcheinlich 
dehnte er manche feiner Anfichten viel weiter aus, als die Mehrzahl 
feiner Zuhörerfchaft; aber gleichwohl traf er, fo oft er anf den 
Antirentismus anfpielte, eine Saite, welche durch vie ‚ganze Ver— 
fammlung vibrirte. Daß die Pächter ihre Farmen eigen befigen 
und feine Renten mehr zahlen, Daß ihnen alle Wohlthaten 
ihrer früheren Arbeiten zu gut kommen follten, obgleid) 
diefe Arbeiten in den früheren Renten fowohl, als in 
den laufenden niedrigen Pachtzinfen, für welche fie das 
Sand benügen durften, mit in Anfchlag gekommen wa- 
xen — dieß war eine Doftrin, die fie alle vollfommen verftan- 
den, und leider muß ich fagen, daß nur. Wenige zugegen waren, 
welche bei gegenwärtiger Gelegenheit nicht kund gaben, wie 
fehr der Eigennuß und die Selbſtſucht ihr Nechtsgefühl verdunfelt 
hatte. | 

Die Borlefung hatte mehr als zwei Stunden gedauert, und 
als fie endlich vorbei war, erhob fidh eine Perfon in dem Charakter 
eines Präfidenten — wenn hätten fich je drei Amerikaner zu einer 
Verhandlung vereinigt, ohne dag ein Präfident, ein Sekretär und 
die ganze parlamentarifche Form eingeführt worden wäre? — und 
forderte jeden Anwefenden, welcher eine von der des Sprechers 


344 


verfchiedene Meinung hege, auf, jeine Anficht preißzugeben. Nie 
zuvor hatte ich mich fo verſucht gefühlt, öffentlich zu fprechen, wie 
bei Ddiefer Gelegenheit. Wein erfier Gedanke war, vie Perüde 
wegzuwerfen und als Hugh Littlepage das feichte Gewäfche zu be⸗ 
leuchten, welches eben erft im Saale verflungen war. So wenig 
ich auch an eigene öffentliche Vorträge gewöhnt war, fo glaube ich 
doch, das ed mir unter den obwaltenden Umftänden leicht geworden 
wäre, und ich unterrichtete von diefem Bornehmen flüfternd meinen 
Onkel, der bereits aufgeflanden war, um dieſes Amt für mich zu 
bejorgen, als ihm der Ruf „Mifter Prafident” von einem andern 
Theile der Kirche her zuvorfam. Wie ich umjchaute, erkannte ich 
mit einem Male das Geficht des verfländigen Handwerkers Hall, 
welchen wir auf unjerm Weg nad dem Neſt ſchon zu Mooferidge 
getroffen hatten. Dieß bewog mich, meinen Sitz wieder einzuneh- 
men, denn ich Eonnte jebt der volllommenen Ueberzeugung leben, 
daß die Sache in guten Händen war. 

Der Sprecher begann mit großer Mäßigung fowohl im Ton, 
als in der Haltung, und bewährte diefelbe während feines ganzen 
Vortrags. Sprache und Betonung trugen natürlic) das Gepräge 
feiner Stellung im Leben; aber jein klarer Verſtand und feine ge- 
diegenen Grundfäge waren in gleicher Weife Gaben von Oben. 
In diefem einzigen Individuum zeigte fi) mehr von dem „wahren 
Abbilde des Schöpfers”, als man wohl unter fünfzig gewöhnlichen 
Menſchen zu finden im Stande if. Er hatte feinen Gegenftand 
Har aufgefaßt und demonftrirte mit Nachdruck. Da er in der 
ganzen Umgegend wohl befannt war und eine allgemeine Achtung 
genoß, fo hörte man ihm mit tiefer Aufmerkſamkeit zu, während. 
er feinerfeits wie ein Mann ſprach, der fih nicht vor Theer und 
Federn fürchtete. Wären feine Anfichten von einem Fremden in 
einem guten Rod, oder auch von mir felbft, der ich doch fo viel 
Dabei auf dem Spiel hatte, vorgetragen worden, fo hätten die 
Meiften fie für ariftofratifh und durchaus unduldbar erklärt; aber 


345 


dergleichen kleine Widerfprüche fallen jelbf bei den fublimften 
Freunden der Gleichheit nicht felten vor. 

Als Einleitung erinnerte Hal die Zuhörerfhaft daran, daß 
fie alle ihn Eennten, und wohl wüßten, daß er kein Grundbe- 
fiber jet. Er ſei ein Handwerker, der fih von feiner Tagearbeit 
nähren müffe, wie die meiften aus ihrer Mitte, weßhalb ſich's 
bei ihm nicht um ein Intereſſe handle, das ihn von dem Ge⸗ 
meinwohl der Geſellſchaft trennen koͤnne. Diefer Eingang war 
eine kleine Huldigung, dem Vorurtheile gegenüber, denn Ver⸗ 
nunft ift Bernunft und Recht bleibt Recht, gleichviel, von welcher 
Seite ber fie kommen. 

„Auch ich bin ein Demokrat,” fuhr er in feiner Rede fort, 
„aber ich verftehe unter Demokratie etwas ganz Anderes, als das⸗ 
jenige, was der lebte Sprecher mit diefem Ausdrud bezeichnet. 
Ich muß diefem Gentleman unverhohlen erklären, daß ich fein De— 
mofrat bin, wenn er einer ift; und bin ich ein Demokrat, fo ift er 
feiner. Unter Demofratie verftehe ich eine Regierung, in welcher 
die fouveräne Gewalt dem Gefammtlörper der Nation zufömmt, 
nicht aber wenigen oder gar nur einer einzelnen Perſon. Diefer 
Grundfag ermächtigt übrigens die Mafje des Volks ebenfowenig zu 
ungerechten Handlungen, als in einer Monarchie, in welcher vie 
fouveräne Gewalt einem Einzigen übertragen ift, diefer Einzige die 
Befugniß erhält, der Gerechtigkeit Hohn zu Tprechen. Unter Gleich- 
heit verftehe ich gar nichts Anderes, als die Gleichheit vor dem 
Geſetz, und wenn das Gefeß erklärt hätte, nach dem Tode des ſeli— 
gen Malbone Littlepage follen feine Farmen nicht an feine nächften 
Berwandten oder an feine Legatare, fondern an feine Nachbarn 
fommen, fo hätte dem Geſetz Folge gegeben werden müffen, obfchon 
eine derartige Verfügung zerflörend einwirken müßte auf die Eivi- 
lifation, weil der Menfch Fein Vermögen fammeln wird, wenn Diefes 
nad feinem Tode der Gemeinde anheimfallen fol. Es muß etwas 
vorhanden fein, was dem Menfchen näher am Herzen liegt, wenn 


346 


er arbeiten und ſich verfagen fol, womit er fi das Leben ange- 
nehm machen fönnte. 

„Der Gentleman hat von einer Art politifchen Schaltjahre 
geiprochen, das den gefellfchaftlichen Kalender regeln jol. Er 
erflärte dieß dahin, daß das Eigenthum, wenn e8 ungleich gewor- 
den fei, vertheilt werden müfle, um den Menfchen Gelegenheit zu 
einem neuen Anlauf zu geben. Ich fürchte dann nur, daß er mit 
Schaltjahren nicht ausreichen wird, fondern zu Schaltmonaten, 
Schaltwochen, oder gar Schalttagen feine Zuflucht nehmen muß; 
denn wenn die liegenden Gründe diefer Stadtmarkung heute Mor- 
gen und in diefem Meetinghaus vertheilt würden, fo hätten wir 
ohne Frage vor Abend ſchon wieder die Ungleichheit. Es gibt 
Perſonen, welche Kein Geld in ihrer Tafche leiden Eönnen, und bei 
andern klebt es fo zäh wie Pech an den Bingern. 

„Wenn nun Hugh Littlepage’8 Eigenthum vertheilt werden 
fol, jo müßte die gleiche Maßregel auf alle Nachbarn defjelben 
Anwendung finden, damit wenigſtens der Schein der Gleichheit 
gewahrt würde. Auf alle Fälle wäre ed nur ein Schein, wenn 
auch dieß geſchähe; denn Hugh Littlepage befigt mehr, als alle 
übrigen Infaffen des Townfhip zufammengenommen. Ja, meine 
Mitbürger, Hugh Littlepage zahlt in dieſem Nugenblid den zwan= 
zigften Theil der Steuer, welcher für Die ganze County erhoben 
wird. Dieß ift ungefähr der Antheil, welcher auf Navensneft 
fällt, und die Steuer kommt in Wirklichkeit aus feinen Taſchen, 
wie denn auch der größte Theil der Laften in den Counties Renffe- 
laer und Albany, wenn man die darin enthaltenen großen Städte 
ausnimmt, von den Nenffelaers getragen werden. Man muß mir 
nicht damit kommen, daß man mich belehren will, die Pächter 
zahlten die Steuern, denn ich weiß dieß beffer. Uns Allen ift 
bekannt, daß der wahrfcheinliche Betrag der Grundlaften in dem 
urfprünglichen Vertrag gefhäßt und bei der Nentenberechnung in 
Abzug gebracht if, fie wird alfo von Niemand anders getragen, 


347 


als von dem Grundherrn. Man hat gute Gründe dafür, warum 
man die Zahlung durch den Pächter beforgen läßt — Gründe, die 
in feinem eigenen Intereſſe liegen, denn wenn der Landlord die 
Entrihtung der Steuer verabfäumte, fo würde fih das Gefeb 
eben an die Ochfen, Pferde und Wagen der Pächter halten. Der 
Steuereinnehmer gretft ſtets nach der perfönlichen Habe, die er auf 
dem Eigentbum findet, und wenn der Betrag der Steuer von der 
Rente in Abzug gebracht, folglih an den Pächter ausgezahlt ift, 
fo kann leßterer fihher gehen und fich felbft vor Schaden wahren. 
Wollte man jagen, der Pächter bringe die Steuern, die er wahr- 
ſcheinlich zu bezahlen habe, bei feinem Vertrag nicht in Anfchlag, fo 
hieße dieß fo viel, als ihn für einen unzurechnungsfähigen Men- 
fchen erklären, dem man für die Erklärung feiner Angelegenheiten 
einen Bormund beftellen müßte. Leider muß ich fagen, daß es in- 
dieſer Gemeinschaft Leute gibt, welche die Erlaffung eines Geſetzes 
wünfchen, vermöge deffen die Nenten aus einem ewigen Pacht oder 
aus einem Pacht überhaupt mit Zaren belegt werden follen, damit 
den Grundbefitzern das Beharren auf ihren Anfprüchen entleidet 
werde; aber foldhe Menjchen find Zeine wahren Freunde der Ge- 
vechtigfeit, und meinen e8 ebenſowenig gut mit ihrem Vaterlande. 
Durch ein derartiges Gejeb würde das Einkommen einer befondern 
Klaffe der Geſellſchaft befteuert und alle andern gingen unbelaftet 
aus. Ein folches Geſetz würde. die gekränkten Partien berechtigen, 
zu den Waffen zu greifen und entfchiedenen Widerftand zu leiften, 
wenn nicht eben die Gefeßgebung dem Uebelſtand wieder Abhilfe 
leiftete, wie meiner Anficht nach ficherlich der Ball fein würde. 
Durch den Wegzug nach einem andern Staat könnten fie obendrein 
der Tare ganz und gar entgehen, und die Eugen Leute, welche fie 
ausgehect haben, verlachen. Auf Lebteren läge dann die Schmach, 
ein machtlofes Unrecht begangen zu haben, und fie würden verhöhnt 
und veracdhtet, abgejehen davon, daß dem Staat ein gewaltiger 
Nachtheil zuginge, wenn er das Geld verlöre, welches andernfalls 


348 


innerhalb feiner Gränzen verbraucht worden wäre. Denke man fid 
nur einen Augenblid den Eindrud, den man von der New-Morker 
Gerechtigkeit gewinnen müßte, wenn Hunderte von reichen, ange- 
fehenen Bürgern nad) Philadelphia oder Paris zögen und dort vor 
der Welt auspofaunten, fie feien lieber in die Verbannung gezo- 
gen, als daß fie fih einer Steuer unterworfen hätten, die blos 
auf eine einzige Klaffe gemünzt war. Je mehr man die Sache 
erwägt, defto ſchlimmer erfcheint file; denn mag man, um zur Zeit 
der Wahlen wieder wohl daran zu fein, fagen, was man will — 
wenn nur ein einziged Stud oder ein theilweifes Eigenthum be⸗ 
fteuert werden foll, jo ift dieß eine Einkommens» Tage und nichts 
Anderes. Noch übler wird aber das Ganze durch den Umfland, 
daß jeder vernünftige Menſch wohl weiß, daß man hier diefelbe 
Perfon dem Weſen nach für die nämliche Sache zweimal befteuern 
würde, denn die Taxe, welche unmittelbar den Grund und Boden 
betrifft, ift in dem urfprünglichen Vertrag dem Grundherrn an 
feiner Rente abgezogen. 

„Was alles diefes Gefchrei über Ariftofratie befagen foll, ver: 
ſtehe ich nicht. Hugh Littlepage hat ebenfogut ein Recht, nad) 
einer ihm beliebigen Weife zu leben, wie ich es habe. Der Gentle⸗ 
man fagt, er verlange zum Effen goldene Löffel und filberne Ga- 
bein. Nun, und wenn auch — ich meine, der Gentleman felbft 
hält ein Stahlmeffer und eine Gabel für nüßliche Werkzeuge, und 
hat nichts gegen einen filbernen oder wenigſtens gegen einen ble= 
chernen Löffel einzuwenden. Nun gibt es aber Leute, die fih höl- 
zerner Gabeln oder gar Feiner Gabeln bedienen, und froh find, 
wenn fie mit hörnernen Löffeln 'was zu effen haben; dieje könnten 
nun den Gentleman auch einen Ariftofraten nennen. Wenn man in 
folchen Dingen ſich felbft zum unbedingten Maapftab macht, fo kann 
ich wahrhaftig nichts von Freiheit ſehen. Mag ich nicht mit einem 
Menſchen zu Mittag effen, der fich einer filbernen Gabel bedient, 
Jo ann mich in diefem Lande Niemand dazu zwingen; wenn aber 


349 


andererfeitö der junge Littlepage Keinen Gefallen an einem Gefell- 
fchafter hat, der, wie ich 3. B., Tabak kaut, fo muß man es ihm 
gleichfalls überlafien, feiner Neigung zu folgen. 

„Bas weiter den Sa betrifft, daß ein Menſch fo gut fei, 
wie der andere, fo hat dieß wieder feine zwei Seiten. Ich bin 
von Herzen gerne bereit, einzuräumen, daß alle Menfchen die glei- 
hen allgemeinen Rechte haben follen, aber wenn Einer fo gut ifl, 
wie der Andere, warum geben wir ung fo viele Mühe und wenden 
fo viele Koften auf bei den Wahlen? Man könnte ja, wie für 
die Schwurgerichte, dad Loos ziehen und ſich in diefer Weife fo- 
wohl Zeit ald Geld erfparen. Uebrigens wiflen wir Alle, daß es 
einen Unterfchied unter den Menjchen gibt, und ich glaube, fo 
lange die Leute die Wahl haben, zu fagen, diefer foll meine Ange- 
fegenheiten verwalten, oder er foll fie nicht verwalten, fo befißen 
fie wohl jo viel Recht, als ihnen zufteht. Was aber alles Uebrige 
betrifft, fo muß man andere Leute gehen Iaffen, vorausgeſetzt, daß 
fe den Geſetzen Gehorfam leiften. 

„Ich muß noch ferner fagen, daß ich Keinen großen Gefallen 
daran habe, wenn man den Leuten immer fagt, daß fie vollfom- 
men feien. Ich Eenne dieſe County ziemlich gut, vielleicht fo gut, 
als die meiften, die darin wohnen, und wenn es auch in Wafhing- 
ton County einen vollflommenen Mann geben mag, fo muß ic 
fagen, daß ich noch nicht mit ihm zufammengetroffen bin. Zehn 
Millionen unvolllommener Menfchen machen noch nicht einen ein- 
zigen vollfommenen Mann, und ich fuche daher bei dem Volk eben- 
jowenig Bollfommenheit, als bei den gekrönten Häuptern. Don 
einer Demokratie verlange ich nicht mehr, als daß die Zügel in 
hinreichend vielen Händen ruhen, um zu verhindern, daß einige 
Wenige Alles für fich felber ausbeuten. Gleichwohl dürfen wir 
nicht vergeffen, daß es weit fchlimmer if, wenn ein Unrecht von 
Bielen, ald wenn ed von Wenigen ausgeht. 

„Wenn mein Sohn das Eigenthum des Malbone Littlepage 


350 


nicht erbte, — je nun, fo beerbt auch Malboue Littlepage's Sohn 
mich nicht. Im diefer Hinficht ftehen wir auf gleichem Fuße. Und 
was weiter Die Rentenzahlung betrifft, welche einigen PBerfonen 
fo beichwerlich erfcheint — was würden fie wohl anfangen, wenn 
fie weder Haus, noch Farm hätten, um darauf zu leben und zu 
arbeiten? Wünfcht Jemand ein Haus oder eine Farm zu Faufen, 
jo kann ihn Niemand daran hindern, wenn er das Geld dazu hat; 
ift aber leßteres nicht der Fall, jo kann man nicht erwarten, daß 
andere Leute hergeben und ihn aus eigenen Mitteln mit dem aus⸗ 
ftatten, wag — —" 

Der Sprecher wurde hier plößlich von einem wilden Gefchrei 
unterbrochen, und die Inſchens drangen in's Haug herein, fo daß 
fie Diejenigen, welche fih in den Gängen befanden, vor fich her⸗ 
trieben. Männer, Weiber und Kinder fprangen zu ven niedrigen 
Tenftern hinaus, während Andere fich durch die beiden Seitenthü- 
ren flüchteten, da die Infchens nur Durch den Haupteingang herein 
gekommen waren. In kürzerer Frift, als ich auf die Mittheilung 
der Thatjache zu verwenden hatte, war faft das ganze Auditorium 
auseinander gefprengt. 


Sechszehntes Kapitel. 


‚Und doch heißt ed: ‚Arbeit ift fein Beruf.‘ 
Dieß will nicht weiter fagen, ald: die Magi- 
ftratöperfonen jollen aus Arbeitern beftehen; und 
bephalb muß die Obrigkeit auß und gebildet wer- 

en. 


König Seinrih VI. 


Nach einigen Minuten hörte der Tumult auf, und es ent- 
faltete fich jebt eine feltfame Scene. In dem Bethaufe befanden 
fih noch vier gefonderte Gruppen außer den Inſchens, welche den 
Hauptgang einnahmen. Der Präfident, der Sefretäe, die zwei 
Geiftlichen und die Vorlefer blieben ruhig auf ihren Plätzen figen, 
weil fie wahrjcheinlich wohl wußten, daß fie von den Eindring- 
lingen nichts zu fürchten hatten. Mr. Warren fand mit feiner 
Tochter in einer Ede unter der Gallerie, denn er hatte es ver- 
ſchmäht, zu entfliehen, und Elüglicherweife hielt fich feine Tochter 
an feiner Seite. Mein Onkel und ich bildeten den Pendant zu den 
beiden Lebtgenannten, indem wir die andere Ede gleichfalls unter 
der Gallerie einnahmen. Mr. Hall und zwei oder drei Freunde, 
welche bei ihm ausgehalten hatten, befanden ſich in einem Kirchen- 
fuhle in der Nähe der Mauer und etwa in Mitte der Kirche; er- 
fterer ftand aufrecht auf dem Sitze, welchen er beftiegen hatte, um 
die Berfammelten anzureden. 

„Fahrt fort in Euren Bemerkungen, Sir," fagte kaltblütig 


352 


der Präfldent, einer jener paradoren Antirenter, welcher nichts mit 
den Inſchens zu fchaffen hatte, objchon er von ihrem ganzen Trei- 
ben unterrichtet war und, wie mir mitgetheilt wurde, fich bei Ein- 
jammlung und Auszahlung ihres Soldes am meiften Mühe gab. 
In diefem Augenblid fchlih Senefa Neweome zu einer Seiten- 
thüre herein, um zu ſehen, was zunächft fommen würde, objchon er 
fih von den „verfappten Bewaffneten” möglichit ferne hielt. 

Was Hall betraf, jo benahm er fi) mit bemunderungswür- 
diger Faſſung. Wahrjcheinlich wußte er, daß feine früheren Zu- 
börer fih unter den Fenftern gefammelt hatten, folglich er mit 
Leichtigkeit gehört werden Eonnte, wenn er feine Stimme verftärkte. 
Jedenfalls that er das lebtere und fuhr fort, als ob Keine Unter» 
brechung flattgefunden hätte. 

„Ich wollte ein Wort über die Wefenheit der beiden Quali- 
täten jagen, Mr. Präfident, die mir wenigftens in der Begrinbung 
des Vorlefers" — ja, diefer verftändige, grundfaßfefte Mann be- 
diente fich wirklich des abfcheulichen Lauts, wie ich eben gejchries 
ben habe, und fagte „Begrindung” ftatt „Begründung”; wie fchade, 
daß in Amerika den erſten Grundfäßen des guten Sprechen fo 
wenig Aufmerkfamfeit gejchenft wird, und daß die gewöhnlichen 
Schulen in diefer Beziehung vielleicht mehr fchaden ale nügen — 
„die mir wenigftens in der Begrindung des Vorleferd am meiften 
auffielen, weil Gott felbft ihnen für unfere Natur eine fo große 
Wichtigkeit beigelegt hat, daß er ausdrüdliche Gebote darüber er- 
ließ. Er hat ung verboten, nicht zu ftehlen, und ein weiteres Ge- 
bot lautet, du folft nicht begehren deines Nächſten Gut — ein 
zureichender Beweis, daß der Beſitz des Eigenthums durch göttliche 
Autorität fanctionirt und mit einem gewiffen Privilegium der Hei⸗ 
ligfeit begabt if. Nun die Nutzanwendung. 

„sn Betreff der Pachtverträge, wie fie beftehen, Tönnt ihr 
nichts thun, weil der Staat nicht ermächtigt ift, einen Gontraft auf- 

Zubeben., Man hört fo viel davon fprechen, daß das Volk vegiere, 


353 


und daß dieſes thun könne, was es wolle. Ich bin nur ein ein⸗ 
faher Mann und fpreche mit einfachen Leuten, denen ih auch 
meine Anficht in aller Einfachheit vortragen will. Daß unfere 
Regierung als Demokratie eine Volksregierung ift und in letzter 
Inſtanz die fouveräne Gewalt in der Maſſe des Volks beruht, 
it wahr; daß übrigens dieſe Volksregierung in der Bedeutung, 
welche man ihr gewöhnlich beilegt und wie fie leider nur von allzu 
Bielen aufgefaßt wird, genommen werden darf, iſt ein großer Irr⸗ 
tum. Diejelbe Betheiligung, über die jetzt jo viel geftritten 
wird — ich meine das Recht, fih in Verträge einzumengen — 
it durch eine Clauſel in der Eonftitution der Vereinigten Staaten 
dem Bereich des Volks in unferem Staate entrüdt. Nun kann 
allerdings die Konftitution der Vereinigten Staaten geändert wer- 
den, indem man etwa den Artikel einfchöbe: „kein Staat ſoll je 
ein Gefeb erlaffen, das die Eriftenz der ewigen PBachtverträge ge= 
fährdet,“ und alle Bewohner des Staats New-Mork, Mann, Weib 
und Kind müßten fich eben drein geben, wie fehr fie einem der⸗ 
artigen Wechfel auch abhold wären. Laßt einmal fehen, wie fi 
die Zahlen hier ausnehmen. Wir haben flebenundzwanzig Staaten 
im wirklichen Beftand und bald werden es dreißig fein. Es ift 
mir gleichgültig, mit welcher Zahl ihr rechnet — ſagt meinet- 
wegen dreißig, da wahricheinlich fo viele vorhanden fein werden, 
noch ehe die Gonftitution geändert werden fann. Gut; dreiund- 
zwanzig von diefen Staaten können der Conftitution eine folche 
Clauſel einverleiben und damit erklären, daß ihr euch nicht in 
Pachtverträge einmengen ſollt. Vielleicht find die fieben bevöl- 
kertſten Staaten mit allen ihren Stimmgebern nicht für eine folche 
Abänderung. Ich habe meine Berechnung gemacht und gefunden, 
daß die fieben bevölfertfien Staaten im Jahr 1840 mehr als die 
Hälfte der Gefammtbevölferung aller Vereinigten Staaten in ſich 
fafien, und gleichwohl ſtehen diefe fleben als eine Minorität da. 
Auch ift dieß noch nicht Alles; die Veränderung wird vielleicht 
Ravensneft. 23 


354 


jedem der dreiundzwanzig Staaten nur durch das Mehr einer ein- 
zigen Stimme abgezwungen, und zieht man diefe von den Wählern 
in den fieben opponirenden Staaten ab, fo ftellt fi) am Ende her⸗ 
aus, daß im Lande ein Wechfel der Eonflitution vorgenommen 
wurde, einer Majorität von — ich will fagen — zwei Millionen 
zum Troß! Hieraus geht hervor, daß das Bolt in der gewöhn- 
lichen Bedeutung nicht jo allmächtig ift, wie Einige glauben, und 
es gibt am Ende doch noch etwas Stärkeres, als das Bolt, näm- 
ih die Grundfige Wenn wir nun fortfahren, in Stüde zu 
reißen, was ung — —" 

Es war unmöglich, von dem, was der Sprecher fagte, noch 
ein weiteres Wort zu hören; denn der Gedanke, daß das Bolt 
nicht allmächtig jet, Tonnte nicht wohl unter einem Theil der Be- 
völferung Beifall finden, welcher ſich vorzugsweile für das Bolt 
hielt. Die Lokalverfammlungen find daran gewöhnt, fich als mit 
Bollziehung einer Gewalt betraut zu erachten, die jedenfalls nur 
von der Sefammtheit des Volkes rechtmäßig geübt werden kann, 
fo daß fle oft in gefepwidrige Ausfchweifungen verfallen und fo- 
gar ihren Keinen Bruchtheil vom politifchen Körper in derartigen 
Dingen wenigftens für untrüglich und allmächtig zu halten. Wenn 
man ed daher offen in Abrede zog, die populäre Fabrik der ame⸗ 
ritanifchen Inftitutionen fei fo zufammengefebt, daß e8 in der Ge⸗ 
walt einer entfchiedenen Minderheit liege, daß organifche Geſetz zu 
ändern, fo mußte dieß, wie unzweifelhaft auch die Thatfache in 
der Theorie iſt, obfchon fie vieleicht in der Praris nie vorkommt 
— in den Ohren von Mr. Hals Zuhörerfchaft wie politifche Läſte⸗ 
rung klingen. Die unter den Fenftern grunzten, während bie 
Infhenbande in dem Mittelgange in ein gellendes Gezeter aus⸗ 
brach, und zwar in einer Weife, welche die ganze Hebertreibung der 
Karikatur an fi trug. Es war augenfcheinlich, daß für den Lauf 
des Tages eine weitere vernunftmäßige Verfländigung nicht zu er⸗ 
warten ſtand. 


355 


Hall befundete weder Ueberraſchung noch Unruhe Er wifchte 
ſich kaltblütig das Geficht ab und fehte fih dann nieder, während 
die Inſchens in dem Bethaufe umhertanzten und mit ihren Büchfen 
und Meflern in der Luft umherfuchtelten, fo daß eine furchtfamere 
Perfon wohl erfchredt werden Eonnte. Was Mr. Warren betraf, 
fo führte er Mary hinaus, obſchon fi eine Bewegung fund gab, 
als wolle man ihn zum Haltmachen zwingen. Mein Ontel und 
ih, wir Beide folgten Ihnen, da das wüfte Gejchrei der Infchens 
durchaus nicht angenehm in die Ohren Klang. Der Präfident da- 
gegen, der Sekretär und die beiden Diener des Evangeliums be= 
hielten mit aller Faſſung und völlig unbeläftigt ihre Standpunfte 
auf dem Gerüfte bei. Niemand näherte fich ihnen, — eine Rüd- 
fiht, welche natürlih auf Rechnung der oft angeführten Thatfache 
gefchrieben wurde, daß die eigentlichen Antirenter, die bedrückten 
Pächter von New-Mork, nichts mit diefer fchnöden Rotte von Ber- 
kappten zu fchaffen hatten! 

Eine von den betrübendften Erfcheinungen der Zeit ift das 
allgemeine Umfichgreifen der Lüge und eine faft gänzliche Unter- 
drüdung der Wahrheit. Es Tiegt nichts daran, wie viele Zeug- 
niffe auch einer Angabe widerfprechen mögen oder wie oft fie fchon 
widerlegt wurde; man bebarrt wiederholt und mit einer Zuver⸗ 
fichtlichkeit auf der Behauptung, als ob nie Unterfuchungen darüber 
eingeleitet worden wären, und glaubt daran, als ob fie in Betreff 
ihrer Wefenheit nie Widerfpruch erfahren hätte. Ich bin überzeugt, 
es gibt außer Amerika Feinen Theil der Welt, wo e8 fo jchwierig 
wäre, der Deffentlichkeit eine Wahrheit nahe zu legen, wenn Be- 
weggründe vorhanden find, fie zu unterdrüden. Dieß mag wohl 
auffallend erfcheinen, wenn man dabei bedenkt, wie viele Journale 
wir befiten, welche den ausgefprochenen Zwed haben, Belehrung 
auszuftreuen; aber leider ift die Mafchinerie, welche zu Verbreitung 
der Wahrheit benübt werden kann, ebenfo wirffam, auch die Lüge 
in Umlauf zu ſetzen. Außerdem gibt es neben den ſchreiendſten Lügen 

II 


fo viele Methoden, die Wahrheit zu verdünnen, Daß ich wohl be= 
zweifeln möchte, ob von zwanzig Thatſachen, welche durch die 
Preffe veröffentlicht werden — natürlicdy die der gewöhnlicheren 
Art ausgenommen — auch nur eine in allen ihren Welentlichkeiten 
wahr ift. Es ift jo viel guter Wille, fo viel Verſtand, Gewiſſen— 
baftigkeit und oft au), um nur der Wahrheit das Wort zu reden, 
ein fehr hoher Grad von Selbfaufopferung erforderlih, daß man 
unter den gemeineren und aller Berantwortlichkeit baaren Zeitungs⸗ 
Eorrefpondenten nicht wohl eine Eigenjhaft erwarten kann, die 
man felbft unter den beften der Parteiführer fo gar jelten findet. 

Wenn ich ſchon froh war, das Bethaus in meinem Rüden zu 
haben, fo Tann fih der Lefer denken, daß ich mich um fo mehr 
freute, als ich bemerkte, dag Mr. Warren Mary nach der Stelle 
führte, wo ich feinen Wagen gelafjen hatte, augenfcheinlich in der 
Abficht, fich von einem Schauplaß zu entfernen, der jebt nichts als 
Lärm und Streit, wo nicht gar noch etwas Ernflicheres in Aus⸗ 
ficht ftellte. Onkel Ro forderte mich auf, den Dearborn, in welchem 
wir die Farm verlaffen hatten, herauszuholen, und ich machte mid) 
in Mitte einer Art allgemeinen panifchen Schreddens, welcher na⸗ 
mentlich die Weiber bewog, nah allen Richtungen hin zu fliehen, 
auf den Weg, um diefem Wunfche zu entfprechen. In Ddiefem 
Augenblide aber trat in allen Bewegungen eine plößliche Baufe 
ein, denn die Inſchenbande ftrömte jet aus der Kirche heraus und 
brachte den lebten Sprecher Mr. Hall mit fih. Da der Bräfident, 
der Sekretär, der Vorlefer und die beiden „Diener des Evange- 
liums“ folgten, fo konnte man hieraus entnehmen, daß alle weite- 
ren Berhandlungen ein Ende gefunden hatten. 

Mein Onkel winkte mir zurüd, und war, wie es mir vorkam, 
geneigt, Hall beizuftehen, der, noch immer von den zwei oder drei 
Freunden, welche ihm den ganzen Tag über beigeflanden hatten, 
mannhaft unterftüßt, fich jebt auf ung zubewegte, obſchon er noch 
immer durch einen Haufen lärmender und drohender Inſchens ums 


357 


geben war. Ueberhaupt hatte die ganze Rotte eine ziemliche Aehn⸗ 
lichkeit mit einem Nudel Dorfhunde, wenn fie einem fremden Hund 
zuſetzten, der ſich unter fie gewagt hat. 

Flüche und Drohungen erfüllten die Luft, und die Ohren des 
armen Hall wurden durch eine Anfchuldigung beleidigt, die er, wie 
ih mir wohl denken kann, bei diefer Gelegenheit zum erften Mal 
hören mußte. Man nannte ihn einen „verdammten Ariftofraten” 
und einen Miethling im Solde der „verdammten Ariftofraten”. 
Gegen al’ Dieß war jedoch der ſtämmige, rechtlich denkende Schmid 
ſehr gleichgültig, denn er wußte wohl, daß man in feinem ganzen 
Leben keine Thatfache und in feinem moralifchen Wefen nicht einen 
einzigen Gedanken finden konnte, um eine ſolche Anklage zu recht« 
fertigen. In Erwiederung auf diefe feindfelige Befchuldigung hörte 
ih ihn, nachdem er in dem Bethaufe unterbrochen worden war, 
zum erften Mal wieder fprechen. 

„Nennt mic, meinetwegen wie ihr wollt," rief er in feiner 
Haren vollen Stimme, „denn ich mach’ mir nichts aus euren 
- Schimpfworten. Es gibt nicht einen einzigen Mann unter euch, 
der im Ernft glaubt, ich fei ein Ariftofrat oder der Miethling eines 
Ariftofraten, aber ich hoffe ich bin noch Fein fo großer Schurke, 
um einen Nachbar berauben zu wollen, weil er zufälligerweife 
reicher ift als ich." 

„Wer gab Hugh Littlepage fein Land?" fragte einer aus Der 
Bande mit unerfünftelter Stimme, obfchon die Verhüllung feines 
Kopfes fie zureichend unkenntlich machte. „Ihr wißt felbft auch, 
daß er es von dem König hat.“ 

„Seiner Arbeit verdankt er nicht einen einzigen Acre davon!“ 
Thrie ein Anderer. „Wäre er ein fleißiger ehrlicher Mann, wie 
Ihr Zim Hall, fo könnten wir's uns noch gefallen laſſen; aber 
Ihr wißt wohl, daß dieß nicht der Fall if. Er ift ein Ver⸗ 
ſchwender und ein Ariſtokrat.“ 

„Sch weiß, daß fchwielige Hände nicht den ehrlichen Mann 


358 


machen, eben fo wenig, ald man durch weiche Hände zum Schurken 
wird," entgegnete Tim Hall mit Muth. „Was die Littlepage’s 
betrifft, fo find fie Gentlemen in jeder Beziehung des Wortes und 
find e8 zu allen Zeiten geweſen. Auch jebt noch hat ihr Wort 
weit mehr Werth, als Siegel und Berbriefung von Manchem, der 
gegen fie auftritt." 

Ich war erfreut und gerührt von diefem Beweife, daß ein 
Ruf, den ich in vollem Maaß verdient zu haben mir bewußt war, 
in diefem Theile des Landes bei einem der einfichtsvollftien Männer 
Anerkennung fand. Neid, Habgier und Bosheit mögen ihre Lügen 
ausftreuen, wie fie wollen, aber der Biedermann wird den Bieder- 
mann ſtets Gerechtigkeit widerfahren laffen. Der wahre Arme 
kennt Diejenigen, welche am meiften dazu beitragen, feine Roth zu 
mildern und mit thätiger Hilfe zur Hand find, wie auch der wirk- 
liche Freund der Freiheit volllommen begreift, daß ihre Vorrechte 
nicht ausjchließlich zu feinen eigenen Gunften gedeutet werden 
Dürfen. Der Gedanke wollte mir nicht gefallen‘, daß ein folcher 
Mann von einer Bande verfleideter Halunken übel behandelt wer- 
den follte — von Kerlen, welche das Verbrechen der Berlebung 
eines pofitiven Geſetzes noch durch die Schändung der heiligen 
Grundfäge der Freiheit erhöhten, indem fie diefelben zum Dienft 
einer Sache herabwürdigten, welcher nur wenig fehlte, um alle 
Beutelfchneider und Diebe des Landes in ihren Bereich einzufchließen. 

„Ich fürchte fie werden diefem waderen Manne ein Leides 
thun,“ flüfterte ich meinem Onfel zu. 

„Sebten wir ung nicht der Gefahr aus, unfere Verkleidung 
zugeftehen zu müflen, fo ginge ich ohne Weiteres hin und verfuchte, 
ihn aus dem Gedränge zu reißen," lautete die Antwort; „aber 
unter den gegenwärtigen Umftänden gebt dieß nicht an. Wir 
müffen ung deghalb gedulden und zufehen, was noch weiter folgt.” 

„Theert und federt ihn!" fchrie einer unter den Inſchen. 
„Sheert und federt ihn!” 


359 


„Stubt ihn zu und ſchickt ihm nach Haus!" entgegneten 
Andere 

„im Hall iſt zum Feind übergegangen!" fügte der Infchen 
bet, welcher die Frage geftellt hatte, von wem ich mein Land habe. 

Sch meinte die Stimme zu Tennen, und wie ich fie zum öfteren. 
vernahm, kam mir auf einmal der Gedanke, daß fie Senela New⸗ 
eome angehörte. 

Der Umftand, daß Seneka zu den Antirentern gehörte, war 
fein Geheimniß, obfchon man wohl darüber Zweifel unterhalten 
konnte, ob er wohl als Nechtsgelehrter die Unbefonnenheit zu be= 
gehen im Stande fei, fich bei einem durch die Geſetze mit Gefäng- 
nißftrafe bedrohten Verbrechen zu betheiligen. Es lag immerhin 
ein großer Unterfchied darin, Andere zu Bergehungen bereden und 
fih felbft eines folchen fchuldig zu machen, daß mir. lebteres 
ganz unwahrfcheinlich vorfam. Um nun die verdächtige Perjon 
nicht aus dem Gefichte zu verlieren, fah ich mich nach einem Mittel 
um:, welches mich diefelbe ſtets erkennen ließ, und eine geflidte 
Stelle. oder vielmehr ein Zwidel in dem Calico entiprach dieſem 
Zweck vollfommen; denn wenn ich den feinigen mit andern ver- 
glich, jo bemerkte ich, daß dieſes Kennzeichen, welches wahrfcheinlich 
fein VBorhandenfein einer Verkürzung des urfprünglichen Materials 
verdankte, den übrigen fehlte. 

Das Getümmel währte wohl einige Minuten fort und die 
Inſchens ſchienen unfchlüfftg zu fein, was fle thun follten, indem 
fie Hall einerſeits nicht ziehen laſſen wollten, andererfeits aber 
Doch Bedenken trugen, ihre Drohungen gegen ihn zur Ausführung 
zu bringen. Dod in dem Augenblid, als die Scene einen ernft> 
haften Ausgang nehmen zu wollen fchien, legte fih der Sturm 
und es trat eine unerwartete Ruhe ein. Wie dieß zuging, habe 
ih nie erfahren können, indeß ift Grund für die Annahme vor= 
handen, daß die Inſchen durch ein Signal, das nur fie felbft ver- 
flunden, zur Ordnung gewiefen worden waren. Ueber das Refultat 


360 


wenigftens konnte kein Zweifel obwalten, denn der Haufen, welcher 
Hal umringt hatte, wich auseinander, und der flämmige uner- 
fhütterliche Freimann trat aus ihrer Mitte heraus, das erhibke 
Geſicht fich abwifchend und einen unmuthigen Blid um ſich her⸗ 
werfend. Gleichwohl gab er nicht nach, fondern blieb in der Nähe 
der Stelle, noch immer von den zwei oder drei Freunden wrter- 
fügt, welche ihn von Mooferidge herbegleitet hatten. Nach einiger 
Erwägung hielt es mein Onkel Ro für das Elügfte, wir follten ung 
den Anſchein geben, als fei es ung nicht jehr eilig darum zu thun, 
das Dorf zu verlafien, und fobald ich Die Meberzeugung gewonnen 
hatte, daß Mr. Warren zu dem nämlichen Entſchluß gekommen 
war und in dem Haufe eines Angehörigen feiner Gemeinde Zuflucht 
gefunden hatte, fügte ich mich gleichfall8 gerne darem. Während 
der Haufirer feine Uhren wieder zur Schau ausftellte, trieb ich 
mich in dem aus Inſchens und Anderen gemifchten Gebränge um- 
ber, um zu fehen, ob ich nicht weitere Auskunft erholen Tönne, 
und im Laufe meiner Wanderungen brachte mich der Zufall hart 
an die Seite des Verkappten mit dem Zwidel-Ealico. Ich berührte 
ihn leife am Ellenbogen und bewog ihn, ein wenig mit mir bei 
Seite zu treten, damit unfere Unterhaltung nidyt gehört würde. 

„Warum finde ich auch Euch unter ven Inſchens — Euch, 
der Ihr doch ein Gentleman feid?" fragte ich, mit der einfäl- 
tigften Miene die ich nur immer annehmen Eonnte. 

Die Betroffenheit, mit welcher dieſe Frage aufgenommen 
wurde, überzeugte mich, daß ich Recht hatte, und ich bedurfte 
kaum einer weitern Beflätigung meines Argwohns. Wenn übrigens 
dieſe auch nöthig geweſen wäre, jo brauchte ich keinesfalls Tange 
Darauf zu warten. 

„Darum fragen Inſchen dieß?“ entgegnete der Mann mit 
dem Zwidel. 

„Run, es mag fo fchon recht fein, oder auch nicht, Squire 
Newcome. Jedenfalls reiht Ihr damit nicht gegen einen Mann 


361 


aus, der Euch ſo gut kennt, wie ih. Sagt mir daher, warum 
Ihr ein Inſchen feid." 

„Hört!“ verfeßte Seneka in feiner natürlichen Sprache, und 
augenfcheinlih jehr beunruhigt durch meine Entdedung. „Ihr 
dürft e8 um feinen Preis laut werden laffen, wer ich bin. Diefe 
Inſchengeſqhihte tft eine kitzliche Arbeit, und das Geſetz könnte — 

d. h. — Ihr könntet nichts dabei gewinnen, wenn Ihr ſagen 
würdet, was Ihr wißt; aber wie Ihr bemerkt habt, da ich ein 
Gentleman und ein Rechtögelehrter hin, fo könnte es mir nicht 
angenehm fein, wenn mir nachgeredet würde, ich fei darauf be- 
troffen worden, wie ich einen Infchen ſpielte.“ 

„Sa, ja, ich verſtehe — Schentlemang müffen dergleichen Dinge 
nicht thun, ohne daß fie ausgelacht werden. Dieß ift das Ganze.“ 

„Zeiriea — dieß ift das Ganze, wie Ihr fagt. Nehmt Euch 
daher in Acht, etwas darüber zu reden over Winke fallen zu laſſen. 
Na, da Ihr mich erkannt habt, fo koͤmmt's mir zu, Euch zu 
traftiren. Womit kann ich dieß thun?“ 

Dieß war nun keinesfalls fehr elegant für einen „Gentleman“ 
und einen Rechtögelehrten” ; da übrigens dergleichen in Mr. New- 
come’s Schule üblich war, fo fiel mir bei, es dürfte nicht Klug 
fein, durch eine Ablehnung zu zeigen, daß ich zu einer von der 
feinigen ganz verfchiedenen Klafje gehörte. Sch gab deßhalb meine 
Zufriedenheit zu erkennen, und auf meine Erklärung hin, daß 
ich ihm die Wahl laſſe, führte er mich nach dem Laden feines 
Bruders, mit dem er, wie ich nachher erfuhr, im Gefchäft affoeirt 
war. Hier regalirte er mich großmüthig mit einem Glas ſtarken 
Whiskys, den ich gefchiedt auf den Boden zu gießen wußte, um 
nicht durch das feurige Getränk erfticdt zu werden. Natürlich mußte 
ich zu einem folchen Ausweg meine Zuflucht nehmen, da die Ver- 
weigerung eines Trunks bei einem Deutfchen als ein ſehr verdäch- 
tiger Umftand hätte erfcheinen müfjen. Was die Amerikaner von 
meiner angenommenen Klaffe betrifft, fo freue ich mich, lagen m 


362 


Dürfen, daß es für ſolche heutzutag weit leichter wird , ein Glas 
abzuichnen, als es anzunehmen, und. es ſpricht gewiß ſehr zu 
Gunſten einer Bevölkerung, wenn jogar der Auticher eine Kehlen⸗ 
anfeuchtung ausichlägt. Gleichwohl kann eine Nation den Ruf 
einer volllommenen NRüchternheit verdienen und doch mit furcht⸗ 
barer Geſchwindigkeit in andere große Lafer verfallen. Was den 
erſteren Punkt betrifft, jo bin ich mit meinem Onkel einverflanden 
und glaube mit ibm, daß die Amerikaner weit weniger trinfen, 
als die meiſten, wo nicht als alle europätichen Rationen. Die all- 
gemeine Anficht, welche unjerem Lande jo lang das Gegenteil zur 
Laf gelegt hat, iR weiter nichts, als eine Wirkung der Sucht 
anderer Bölter, die Demokratie zu verrufen, vielleicht unterſtützt 
von den llebertreibungen, die in allen veröffentlichten Sittlichkeits- 
tabellen fo gemeiniglich vorfommen. 

Ich bemerkte, daß fogar von den Inſchens nur Wenige tran- 
ten, obſchon fie jeßt frei in den Läden und Schenken umherzugehen 
begannen. Seneka verließ mid, fobald er glaubte, er habe fi 
durch jein Zraktement meiner Berjchwiegenheit verfichert, und ich 
blieb in einer Ede fliehen, um zu jehen, wie fi die „Bewaffneten 
und Berkleideten” benahmen. Ramentlich zog ein Kerl meine Auf- 
merkſamkeit auf fi, und fein Benehmen mag als Pröbchen von 
dem vieler feiner Kameraden gelten. 

Ich Hatte mich noch nicht lange umgefehen, ald mir die That⸗ 
ſache aufflel, daß Orfon Newcome, Seneka's Bruder und Affocie 
augenscheinlich jo wenig als möglich mit den Inſchens zu fchaffen 
haben. mochte, denn er wurde unruhig, jobald einer feinen Laden 
betrat, und fchien fich zu freuen, wenn wieder einer fortging. An⸗ 
fangs war ich geneigt zu glauben, Orfon — auf welche Namen 
verfällt nicht eine große öftliche Familie, ehe fie ihr Regifter 
durchgemacht hat! fie fcheinen in der That ihre Bezeichnungen zu 
wählen, wie ſie's mit fo vielen anderen Dingen zu halten pflegen, 
ndmlich um zu beweifen, daß fie tgun, was fie mögen — Anfangs 


363 


glaubte ich, Orſon befike noch einige Gewiflenhaftigkeit und nehme 
feinen Anftand, den Unwillen Eund zu geben, welchen ihm ein 
fo kuͤhnes ungefebliches Verfahren einflößte. Indeß follte ich bald 
von meinem Irrthum geheilt werden, indem ich den wahren Grund 
kennen lernte, der ihn jedem Verkehr mit einem Inſchen abgeneigt 
machte. 

„Inſchen will Calico für Hemd’ — fagte einer von diefen 
Ehrenmännern bedeutungsvoll zu Orfon, der übrigens jeinerfeits 
Anfangs that, als höre er ihn nicht. Das Anfinnen wurde jedoch 
mit flärferer Betonung wiederholt, und dann legte der Handels- 
mann, objhon nur mit Widerfireben, den Zeug auf den Ladentifch. 

„Gut,“ fagte der Inſchen, nachdem er die Qualität unter» 
ſucht hatte. „Schneid für Inſchen zwanzig Ellen — aber gut 
Maaß, ſage ich!“ 

In einer Art verzweifelnder Ergebung wurden die zwanzig 
Ellen abgeſchnitten, zuſammengerollt, eingewickelt und dem Kunden 
übergeben, der das Bündel ruhig unter ſeinen Arm nahm und, 
eh' er den Laden verließ, die Bemerkung hinwarf: 

„Schreib's auf für nieder mit Rent.“ 

Das Geheimniß von Orſon's Abgeneigtheit war nun erklärt. 
Wie ed unvermeidlich bei Mißachtung aller Grundfähe zu gehen 
pflegt, mußten die Anftifter des Unrechts felbft auch durch die Ein 
ariffe ihrer eigenen Werkzeuge empfindlich Leiden. Sch erfuhr fpä= 
ter, daß diefelben Inſchens, die fih in Haufen von Hunderten 
verfammelt hatten, um Gefeb, Recht und den heiligen Charakter 
verbriefter Verträge zu verhöhnen, nicht zögerten, ihren Haupt⸗ 
zwed zur Ausführung zu bringen und unter einem oder dem an⸗ 
dern Vorwand Forderungen aller Art an die Tafchen und das 
Eigenthum ihrer Auftraggeber zu ſtellen. Es verfteht fih, daß 
dergleichen Anfinnen unausbleiblich den eigenen Vortheil im Auge 
hatten. Der „Geift des Antirentismus" begann fich unter dem 
Syſtem der Gewaltthätigkeit in diefer Form zu entwideln, welche 


364 


wohl den unbefugten Eingriffen des gefebgebenden Körpers und 
feinem riechen vor der Maffe — denn was anderes wäre von 
dem Charakter unferer Repräfentanten zu erwarten? — als war- 
nendes Beifpiel dienen kann. Ja, ich wiederhole es, wenn der 
Geift des Unrechts nicht im Keime erftidt wird, dauern die Forde⸗ 
rungen an die gejchmeidigen Diener der Deffentlichkeit fort, bis 
die Reue über den erften falfhen Schritt zu fpät kömmt und der 
Staat in einen Bürgerkrieg vermwidelt ift, oder jeder ehrliche Mann 
anderwärts eine Heimath fucht. 

Ich blieb nicht lange in dem Laden, fondern entfernte mich 
bald, um Mr. Warren und Mary aufzufuchen, weil ich zu erfah- 
ren wünfchte, ob ich ihnen in nichts dienſtlich werden könnte. Der 
Bater dankte mir für dieſe Aufmerkjamkeit und theilte mir mit, 
daß er jebt das Dorf zu verlaffen gedenke, denn er jehe, daß auch 
die Anderen fortzugehen anfingen; unter diefen befinde ſich auch 
Hall, ein alter gefchäßter Bekannter von ihm, welchen er einge- 
laden habe in der Rektorei anzuhalten und bei ihm zu fpeifen. 
Er rieth mir, feinem Beifpiel zu folgen, da fih unter ven In⸗ 
ſchens Fremde befänden, die vielleicht dem Trunk ergeben feien. 

Auf diefe Mittheilung hin fuchte ich meinen Onkel auf, der 
mittlerweile die meiften feiner Schmuckſachen und afle feine Uhren, 
bis auf eine einzige, verkauft hatte — ein Erfolg, welcher wohl 
auf Rechnung der niedrigen Preife zu feben war. Er gab feine 
Waaren zu dem Preiſe hin, den er felbft dafür bezahlt hatte, in 
einigen Fällen fogar noch wohlfeiler, und z0g von dem Platz mit 
dem Rufe des raifonabelften Bijouteriehändlers ab, welcher 
ſich je daſelbſt hatte blicken laſſen. Der Weg füllte fi mit Fuhr- 
werfen, ufid die Leute, welche der Vorleſung angewohnt hatten, 
begaben fih nad Haufe. Da dieß ſeit meiner Rückkehr nach der 
Heimath die erfte Gelegenheit für mich war, ein ſolches Schau⸗ 
Spiel mit anzufehen, jo mufterte ich die verfchiedenen Gruppen, um 
meine Bergleichungen anzuftellen. Sogar in den großen Städten 


365 


Amerika's begegnet man einem gewiffen ländlichen Anſtrich, den 
man in den Hauptftädten der alten Welt nicht trifft; dagegen aber 
it man in Amerika auf dem Lande keineswegs fo bäurifch, als in 
jedem anderen Theile der Welt, den ich Fennen gelernt habe, mit 
alleiniger Ausnahme Englands. Natürlich habe ich hiebei nicht Die 
ımmittelbaren Umgebungen fehr großer Städte im Auge, obfchon 
ih wahrhaftig nicht weiß, ob die Bevölkerung von St. Quen, 
dem Runnymed von Frankreich, welches kaum eine Stunde von 
den Mauern des mächtigen Paris entfernt liegt, nicht einen ent- 
ſchieden Ländlicheren Anblict geboten haben würde, ald das, was 
wir jebt fahen. In Beziehung auf die Frauenzimmer iſt Dieß 
wenigftens eine buchftäbliche Wahrheit, denn man fah kaum eine 
einzige Weibsperfon mit jenem Ausdrud der Rohheit, Unwifjenheit 
und Gemeinheit, der auf eine herabgewürdigte Stellung und auf 
ein Leben voll Mühfal zu deuten pflegt. Im moralifchen Sinne 
des Worts war nicht viel Bäurifches zu bemerken; denn die ganze 
Bevölkerung ſchien fich in ihren zierlichen, gut erhaltenen Fuhr⸗ 
werfen mit Leichtigkeit zu bewegen. Die behenden Pferde waren 
wohl genährt, und wenn die Kleidung auch nicht eben viel Ge- 
ſchmack verrieth, jo mußte fie doch immerhin anfländig genannt 
werden. Sp war der Stand der Dinge auf einem verpachteten 
Gute, unter dem fchlimmen Drud eines Grundbefibers und unter 
dem Schatten der Ariftofratie! Wir unterhielten uns eine Weile 
mit zwei flämmigen, wetterbraunen Zarmern «die ihr Pferd für 
eine kurze Strede im Schritt neben dem unfrigen hertrieben, und 
das Gefpräch Eräftigte beſſer, als alles Andere, den Eindrud, 
welchen die vorerwähnte Thatfache hervorgerufen hatte. Es mag 
deßhalb hier eine Stelle finden: 

„Ihr ſeid Tſcharmans, glaub’ ich," begann der Aeltere von 
den Beiden, ein grauföpfiger Pächter auf meinen Gütern, der 
Holmes hieß und und Beiden. gut bekannt war — „Tſcharmans 
aus den alten Ländern, wie ich höre?” 


366 


„Sa, wir kommen aus den alten Ländern. Ein weiter Weg 
von dort bis hieher.“ 

„Sa, dieß will ich wohl glauben. — Sch habe oft davon 
fprechen hören. Befteht dort auch ein Grundherrnſyſtem?“ 

„Allerdings — es gibt Grundherrn fiber die ganze Welt, 
glaub’ ih — und auch Pächter.” 

„Gut, und wie find fie dort beliebt? Denkt das Bolt nicht 
daran, fich ihrer zu entledigen ?“ 

„Nein — wie könnten fie ſich ihrer entledigen? Ihr müßt 
wiſſen, daß fie geſetzlichen Beftand haben, und was das Geſetz 
verlangt, das muß gefchehen.” 

Diefe Antwort brachte den alten Holmes in große Berlegen- 
heit. Er fuhr mit der Hand über's Gefiht und wandte fih an 
feinen Begleiter, einem gewiffen Tubbs, der gleichfalls Pächter 
auf meinen Gütern war, als wolle er defien Beiftand aufbieten. 
Tubbs aber war einer von der neuen Schule — von einer Schule, 
Die mehr auf's Machen, als auf's Befolgen der Geſetze hält — 
und gehörte zu der Bewegungspartei. Seiner Anficht nach hatte 
die Welt vor dem Beginn dieſes Jahrhunders nie etwas von 
Grundjägen, Thatfachen oder Tendenzen gewußt. 

„Bas habt Ihr denn für eine Regierung in Eurem Lande?” 
fragte Tubbs. 

„Eine ziemlich gute. Mein Vaterland war Preußen, und 
man ‚hätt allgemein das Gouvernement dieſes Landes für nicht 
übel. 

„Sa, aber es iſt ein Königreich, Tann ich mir denken. ch 
meine, ich habe fagen hören, daß in jenem Lande Könige ſeien.“ 

„Allerdings hat das Land einen König. Der lebte war der 
gute König Wilhelm, und jebt fibt fein Sohn auf dem Throne, 
der auch ein guter König ift, wie ich mir denken ann. Ja, ja — 
es iſt ein König da." 

„Dieß erklärt das Ganze,” rief Tubbs mit triumphirender 


367 


Miene. „Ihr feht, fie haben einen König und deßhalb find auch 
Pächter da; wir aber haben keinen König und brauchen daher auch 
feine Grundherren. In einem freien Lande follte Jeder fein eigener 
Grundherr fein; dieß ift mein Prineip und dabei bleibe ich.” 

„Es Tiegt etwas Bernunft darin, Freund; if dieß nicht auch 
Eire Anſicht?“ fragte Holmes. 

„Mag fein, daß ich die Sache nicht ganz verftehe. Will der 
Schentleman vielleicht um degwillen in feinem Lande nichts von 
Grundheren, weil es in Ländern, welche Könige haben, Grund» 
heren gibt?" 

„Ganz richtig; dieß iſt juft der Grund davon und das wahre 
Prineip,” antwortete Zubbs. „Könige und Freiheit Fönnen nicht 
neben einander feil haben, und eben fo wenig können Grundherren 
und Freiheit mit einander Hand in Hand gehen. 

„Wenn aber das Gefeb des Landes den Grundherrn Beſtand 
gibt? Ich Höre, daß dieß der Fall ſein fol.” 

„Ihr redet von dem Gejeh, wie es gegenwärtig iſt; aber wir 
gedenfen es ganz umzuändern. Wir haben jetzt fo viele Stimmen, 
daß wir verfichert fein dürfen, bei einer allgemeinen Wahl beide 
Parteien für uns zu haben. Iſt dann der Gouverneur und die 
Sicherheit auf unferer Seite, durch unfere Stimmen die ganze 
Wahl zu beherrfchen, fo können wir unferes Erfolgs ziemlich gewiß 
fein. In einem wahrhaft freien Lande braucht man nichts als 
Stimmen, und dann Eönnen’s die Leute haben, wie ſie's wünfchen.” 

„Ihr wünſcht alfo, in diefem Lande nichts zu haben, was 
man in den Ländern trifft, welche durch Könige beherricht werden?” 

„Gewiß nicht. Wozu brauchen wir folche grundherrlichen Pfiffe 
und Kniffe, durch die der Reiche nur reicher und der Arme nur 
ärmer wird?" 

„Dann müßt ihre das Gefeß der Natur ändern, denn wenn 
ihr dieß nicht thut, wird der Neiche fortwährend nach mehr Reich⸗ 
thümern ringen und der Arme fich fletS arm fühlen. Die Bibel 


368 


belehrt ung, daß das Unglück des Armen eben in ſeinem Mangel 
liege.” 

„Pah, pah, das Bibelgefhwäg taugt nicht viel in der Politik. 
Für die Bibel it der Sabbath da, und für öffentliche und Privat⸗ 
angelegenheiten hat man die Werkeltage. Da iſt z. 3. der Hugh 
Littlepage — er it von demfelben Fleifch und Blut, wie mein 
Nachbar Holmes und ich, nicht befier und ſchlechter; ja ich will 
zugeben, er fei in der Hauptfache nicht fchlechter, obfchon ich denke, 
in einigen Dingen Tönnen wir den Borzug anfprechen; aber ich 
will Beifpiels halber annehmen, daß er nicht fchlechter fei. Jeder 
von uns zahlt an diefen Littlepage für eine Farm von gut hundert 
Acres Renten. Gut; dieſes Land bebauen, pflügen und bearbeiten 
wir mit unfern Händen — unfere Söhne helfen mit und vielleicht 
ein Knecht oder eine Magd. Gleichwohl hat Jeder von uns an 
diefen jungen Burfchen Hugh Littlepage jährlich feine fünfzig Dol- 
lars zu bezahlen — ein Geld, das er nimmt und wahrſcheinlich 
in einem liederlichen Leben nach Belieben verfchwendet. IR dieß 
recht, frage ich, und ift dieß ein geeignetes Verhältniß für ein 
republifanijches Land?” 

„Ihr glaubt alfo, der- junge Littlepage vergeude anderwärts 
fein Geld in einem ſchwelgeriſchen Leben?" 

„Sa wohl — fo heißt's überall hier herum. Ich kenne einen 
Mann, der einen andern guten Freund hat und diefer hat, einen 
Bekannten, der in Paris gewefen ift und den Leuten in feiner 
Gegend erzählte, er fei eines Tages an der Thüre des Königlichen 
Palaftes geftanden und babe leibhaftig gefehen, wie die beiden 
Littlepage’s hineingegangen feien, um dem ‚Kaifer Zribut zu 
zahlen‘, wie man's nennt — Gewiß, kennt Ihr dieß ſelbſt auch; 
und man fagt mir, daß Alle, die den König fehen wollen, nieder- 
Inieen und feine Hand Tüffen müflen — ja, Einige fagen fogar, 
feinen Zehen. Wißt Ihr vielleicht, wie es damit in den alten 
Ländern gehalten wird?" 


369 


„Shr jeid irrig berichtet worden. Ich habe mehr als ein 
halb Dupend Könige gefehen, und es ift da weder von Nieder 
knieen, noch von Handküffen die Rede, ausgenommen bei gewiſſen 
Anläffen. Gewiß, es ift auch nicht Alles wahr, was man in dies 
fem Lande hört." 

„Na, mag fein; ich weiß es nicht — ich bin nie dort geweſen, 
um mich durch den Augenfchein zu belehren,” antwortete Tubbs in 
jener eigenthümlichen Weife, die man fich, fo oft fie von einem 
Amerikaner in Anwendung gebracht wird, in den Worten deuten 
muß: ‚ich will zwar nicht widerfprechen, glaube aber doch, was ich 
mag.‘ „Sch fpreche nur vom Hörenfagen. Aber warum follen wir 
dem jungen Littlepage Renten zahlen, damit er fie luſtig vergeude 2" 

„sch weiß da freilich feinen Grund, als etwa den, daß ihr das 
Land gepachtet habt und in Betreff der Rente mit ihm einig 
geworden feid. In diefem Falle müßt ihr leiten, was ihr ver⸗ 
fprochen habt." 

„Doch wenn der Handel nach was Königlichen riecht, fo fag' 
ich nein. Jedes Land hat feine Natur, jede Regierung hat ihre 
Natur und alle Dinge follten im Einklang fein mit der Natur. 
Nun ift e8 gegen die Natur, in einem republikanifchen Lande Rente 
zu zahlen. Wir wollen hier nichts mit Lords und Königen ge- 
mein haben!” 

«Nun, dann müßt ihr euer ganzes Land ändern. Ihr könnt’ 
keine Weiber und Kinder haben, dürft' nicht in Häufern wohnen, 
müßt’ das Pflügen des Landes, ja auch das Effen und Zrinfen 
aufgeben, und dürft eben fo wenig ein Hemd auf dem Leib tragen.” 

Tubbs ſah fich einigermaßen in der Klemme, und war, wie 
berbourgeois gentilhomme, nicht wenig erftaunt, finden zu müflen, 
Daß er fein ganzes Leben über Unfinn geiprochen hatte, ohne es 
zu wiſſen. Es unterliegt Teiner Frage, daß in einem Königreiche 
Berhältniffe beftehen können, welche fich mit den Inſtitutionen einer 
Republik nicht vertragen; aber es ift ebenfalls gewiß, daße das 

Ravensneft. 24 > 


370 


Geſetz, welches den Pächter anhält, für die Benützung feines 
Haufes oder feiner Farm Zahlung zu leiften, nicht unter diefe Zahl 
gehört. Tubbs hatte aber jo oft gehört, es ſei etwas außeror- 
dentlich Antirepublitanifches, wenn Einer dem Andern Renten zahle, 
daß ihm dieß nicht aus dem Kopf hinauswollte; er war daher nicht 
geneigt, ſo leicht nachzugeben. 

„Nun ja,“ antwortete er, „ich muß zugeben, daß wir als 
Menf hen Vieles gemein haben mit Königreichen; aber daraus 
folgt noch nicht, daß dieſes Gemeinfame auch in Dingen von fo 
ariftofratifcher Natur beftehen müfle. Ein freies Land muß freie 
Leute haben, und wie kann ein Mann frei fein, wenn ihm das Land 
nicht eigen gehört, auf dem er feinen Lebensunterhalt gewinnt?" 

„Und wenn er auf dem Eigenthum eines Andern feinen Les 
bensunterhalt gewinnt, fo denfe ich, er follte ehrlich genug fein, 
für die Benügung Zahlung zu leiten." 

„Aber wir find der Anfiht, e8 Tollte nicht dad Eigenthum 
eines Andern fein, fondern dem gehören, der e8 bearbeitet." 

„Sagt mir nur Eines — laßt Ihr nie ein Stüd Feld an 
einen armen Nachbar ab und bedingt Euch dabei einen Antheil 
am Ertrag aus?" 

„Ja wohl, wir alle thun dieß — einmal um den Leuten einen 
Gefallen zu erweifen, und dann um doch noch etwas Weiteres zu 
erzielen, wenn wir mit eigener Arbeit überhäuft find.“ 

„Und warum fol nicht die ganze Ernte bem gehören, der 
das Feld bearbeitet?“ 

„Oh dieß tft nur ein Geſchäft im Steinen und fann Niemand 
jhaden. Aber die amerikaniſchen Inftitutionen haben nie beabfich- 
tigt, daß eine große privilegirte Klaffe unter ung beftehen folle, 
wie die der Lords in Europa." 

„Iſt's Euch nie ſchwer geworden, für ein fo abgelaffenes 
. Stud Feld den ausbedungenen Antheil zu erhalten?” 

iM %Ia wohl, Es gibt eben fo gut erbärmliche Nachbarn, als 
£-- R 


» ” a 


371 


es rechte Leute darunter gibt, Erft letzthin hab’ ich einen folchen 
Kerl verklagen müſſen.“ 
„Und hat Euch der Gerichtshof zu Euren Anfprüchen verholfen?” 
„Natürlich. Zu was wären auch Gerichtshöfe gut, wenn fie 
Einem nicht zu feinem Rechte hälfen?“ 

„Und zahlen die Pächter dieſes Eigenthums an Hugh Little 
page die Renten, die fie ihm ſchuldig find?" 

„Dieß ift etwas ganz Anderes, fag’ ich Euch. Hugh Littlepage 
hat mehr, als er braucht, und verfchlemmt fein Geld in fremden 
Ländern. ” 

„But. Sehen wir den Fall, Eure Nachbarn würden Euch 
fragen, was Ihr mit den Dollars anfangt, die Ihr für Euere 
Schweine und für Eure Ochfen erlöst — nur um zu jehen, ob 
Ihr guten Gebrauch davon macht — wäre das Freiheit?” 

„Das? Zum Henker, wer, glaubt Ihr denn, wird fih um 
meine Erfparniffe kümmern? Nur der große Fiſch iſt's, von dem 
in folchen Dingen die Leute ſprechen.“ 

„Dann machen alſo die Leute Hugh Littlepage zum großen 
Fiſch, und zwar durch ihren eigenen Vorwitz, ihren Neid und ihre 
Habgier — iſt's nicht fo?" 

„Laßt Euch) fagen, Freund, ich meine, Ihr haltet's mit könig⸗ 
chegAnfihten und mit den Ideen, in denen Ihr erzogen wurbet; 
aber wenn ich Euch gut zu Rath bin, fo gebt ‚nur Alles dieß auf, 
fobald Ihr Eönnt, fonft werdet Ihr in diefem Theil der Welt nie 
populär werden.” 

„Populär!“ -wie breit ift die Bedeutung diefes Ausdrucks ge— 
worden! In den Augen von zwei Drittheilen der Bevdlferung 
hat e8 bei der Frage: „was ift recht?” Keinen anderen Sinn, als: 
Vox populi, vox dei. Welche Ausdehnung hat diefes Feine Wort 
nicht gewonnen, daß es ſich um alle Interefien des Lebens winden 
muß! Wenn man e8 für pafjend hält, dem Volk gewifle Anfichten - 
beizubringen, fo gibt man " zuerft Mühe, die Einwohner von .. 

YA 


372 


Rew- Dort zu bereden, daß die Einwohner von Bennfylvanien be- 
reits fo gefinnt feien. Eine angebliche öffentliche Meinung if in 
der That ver Eräftigfte Hebel, der bei jedem Anlaß, bei jeder öf- 
fentlihen Verhandlung eines beftrittenen Punktes in Anwendung 
gebracht wird. Wer über die meiften Stimmen zu gebieten im Stande 
it, hat bei weitem den Borzug vor dem, welcher die meiften Gründe 
aufbringt; denn Zahlen wiegen unendlich ſchwerer, als Thatfachen 
oder gefepliche Beflimmungen. Ein foldhes Syſtem kann zwar in 
manchen Dingen eine gute Wirkung üben; aber augenfcheinlich gibt 
e8 auch andere und zwar hochwichtige Fragen, in welchen es un- 
mittelbar der fchnödeften Verderbniß zuführt. Sobald Tubbs fi 
Diefer wohlmeinenden Ermahnung entledigt hatte, holte er mit fei- 
ner Peitiche aus und trabte weiter, während wir in fo gutem 
Schritt, als wir ihn Tom Millers Mähre abnöthigen konnten, hin- 
tendrein holperten. 


& 


Siebzehntes Kapitel. 


D Tudfaroralönig, wär’ er hier 
un ‚ mir ur Seite bier, dein ebled Bild zu jchauen 
edaillen und bee Bartes Zier, 
Ay —* Feuerau e finnig ernften Brauen — 
Die Stimme, u der halb, halb höfiſch fein 
Den Blid fo Ihwunghaft, gleich dem fühnen Flug der Aare. 
Mie würde gen ber Freiheit Sand fo Bein 
Europa auch im Glanz der Könige und Czaare. 


Rothiade. 


Onkel Ro ließ die beiden Pächter ruhig ziehen, obgleich ich 
feinem Geſichte anmerkte, daß er die ganze Abgeſchmacktheit des 
Gewäſches, dem wir eben zugehört, gefühlt hatte. Wir waren noch 
etwa taufend Schritte von den Wäldern entfernt, als acht Inſchens 
auf den Wagen zugafopirten, der unmittelbar hinter uns fuhr und 
einen anderen meiner Bächter mit deſſen älteftem Sohn, einem Jungen 
von fechzehn Jahren, barg. Der Alte hatte das Bürfchlein mitge- 
bracht, damit ed auch etwas lerne und fein Rechtlichkeitsgefühl durch 
die felbftfüchtige Myſtifikation, die im Lande herrfchte, umgeftürzt 
werde — eine väterliche Sorgfalt von ziemlich zweideutigem Ver⸗ 
dienft. Sch habe gefagt, das die Infchens aus acht Mann beftan- 
den; aber fie hatten nur vier Pferde, und jedes derfelben mußte 
zwei Perfonen tragen. Sobald das vordere Paar des Haufens den 
erwähnten Wagen erreicht hatte, wurde diefer angehalten, und der 


374 


Eigenthümer erhielt Befehl, auszufteigen. Obſchon nun Iebterer 
ein entjchiedener Antirenter war, fo entiprach er der Weifung doch 
nicht mit der beften Geneigtheit, oder vielmehr gar nicht, bis dieſes 
Bruchſtück feines eigenen Corps d’armee einige Gewalt brauchte. 
Bater und Sohn waren bald auf die Landftraße gefebt, worauf 
Zwei von den „verkappten Bewaffneten” fich der freien Plätze be⸗ 
-” mächtigten, das Roß antrieben und in wüthender Eile an ung vor- 
beifuhren. Dem Eigenthümer des Fuhrwerks nidten fie zuvor nod) 
zu und tröfteten ihn wegen feines jeweiligen Schadens, indem fie 
ihm bedeuteten: „Inſchen brauchen ihn — Inſchen guter Kerl — 
Ihr wißt.“ 

Ob dieß nun der verblüffte Vater wußte oder nicht, konnten 
wir nicht ausfindig machen; jedenfalls aber ſah er aus, als wun— 
Ihe er die Infchen überall hin, nur nicht in ihre „glüdlichen Jagd⸗ 
gründe". Wir fuhren lachend weiter, denn es lag in der menfch- 
lichen Natur, fih aneiner derartigen Schauftellung des Zwangsſyſtems 
oder einer praftifchen Anwendung der „Freiheit und Gleichheit” zu 
ergößen, um fo mehr, da ich wußte, der „ehrliche, fleißige horn» 
händige Bebauer des Bodens” wolle mich um eine Farm betrügen 
oder Doch, um den Fall von einem günftigeren Standpunkte aufzu= 
faffen, mich zwingen, fie ihm für einen Preis zu verfaufen, den er 
mir felbft beſtimmte. Damit war's übrigens noch nicht genug, 
denn wir fanden, noch ehe wir die Wälder erreichten, weiteren An- 
laß zur Heiterkeit. Holmes und Tubbs trabten gleichfalls zu Fuß 
auf der Landftraße weiter, denn die andern beiden Ehrenmänner, 
welche en croupe gejefien, hatten fie gleichfalls ihres Wägelchens 
beraubt und ihnen bedeutet, fie follen e8 den Inſchens auf Rechnung 
bringen. — Wir erfuhren nachher, daß diejes Verfahren fehr all- 
gemein war. Der Eigenthümer erhielt gewöhnlich fein Pferd und 
fein Gefpann einige Zage fpäter wieder, mußte fich aber jelbft 
darum bemühen, wenn er hörte, es fei in Diefer oder jener Schenke 
in einiger Entfernung von feinem Wohnplape ftehen geblieben. Was 


375 


ben. alten Holmes betraf, fo fanden wir ihn, als wir ihn einholten, 
vol ehrenhafter Entrüftung, und fogar Zubbs machte eine faure 
unzufriedene Miene, als glaube er, daB Freunde wohl zu einer 
beſſern Behandlung berechtigt feien. 

„Bas gibt's?" rief Onkel Ro, der fih die ganze Zeit über 
des Lachens kaum erwehren konnte. „Was habt ihr denn? wo ift 
euer Schöner Wagen und euer rüfliger Gaul hingekommen?“ 

„Es ift zu arg! — ja es ift einewege zu heillos!" grunzte 
Holmes. „Da bin ich nun mit meinen Siebenzigen, der vollen’ 
Zeit für die Menfchen, wie die Bibel jagt — und Shr wißt ja, 
was die Bibel jagt, muß wahr fein. — Da bin ich, und fie haben 
mich auf die Landftraße gefchmiffen wie einen Sad mit Kartoffeln, 
um volle zwei Stunden weit zu Fuß weiter zu traben, bis ich mein 
Haus erreiche! Es ift zu arg — es iſt einewege eine gränzenlofe 
Bosheit!” 

„Oh, 's ift gleihwohl nur eine Kleinigkeit im Bergleich mit 
dem Uebelftand, wenn Ihr aus Eurer Farm geſchmiſſen worden 
wäret.“ 

„Ich weiß nicht — ich weiß nicht! — Gleichwohl mag's recht 
ſein, denn 's iſt nur auf die gute Sache abgeſehen. Man will der 
Ariſtokratie das Handwerk legen und die Menſchen wirklich gleich 
machen, wie's vom Geſetz beabfichtigt iſt. Aber ich muß noch 
einmal fagen, e8 ift einewege zu arg.” 

„Und bei einem fo alten Manne!“ 

„Sa, ih bin fiebenzig — fehlt Kein Tag daran. 's kann 
nimmer lang mit mir dauern, und meine Füße find ſchwach. Ja, 
die Bibel fagt, das mienfchliche Leben beichränfe fih fo ziemlich auf 
die Siebenzig, und der Bibel will ich nie entgegen treten.“ 

„Und was ſagt denn die Bibel, wenn Ihr begehrt Eures 
Nächften Gut?" 

„Dieß ift fchwer verboten! Ja über diefen Punkt ſteht viel 

in dem guten Buch, und ich weiß dieß, weil man mir's voraelelen 


376 


bat — ja, und weil ich's auch felbft gelefen habe während meiner 
Siebenzig. Es ift eine ſchwere, fchredliche Sünde. Ich will dieß 
den Inſchens fagen, ſobald fie das nächfte Mal wieder meinen Wagen 
habenwollen. Die Bibel erklärt ſich durchaus gegen ſolche Praktiken.“ 

„Die Bibel ift ein gutes Buch.” 

„Ja wohl — ja wohl — und aus feinen Blättern Täpt ſich 
viel Zroft und Hoffnung erholen, wie ich felbft an mir erfahren 
babe. Es freut mich, zu finden, daß man in Tſcharmany auch 
etwas auf die Bibel hält. Ich habe ſtets gemeint, wir hätten in 
Ameriky far allein etwas von der Religion, und es ift erfreulich, 
zu hören, daß man aud in Ticharmany was davon findet.” 

Diefe ganze Zeit hatte der alte Holmes zu Buß weiter gekeucht, 
während Onkel Ro fein Pferd im Schritt gehen ließ, um fich mit 
dem alten Burfchen unterhalten zu können. 

„Dia — ja — es iſt noch einige Religion in der alten 
Welt geblieben — bie Puritaner, wie Ihr fie nennt, haben nicht 
Alles mitgenommen.” 

„Defperat gute Leute das! Wir haben alle unfere beften Zu⸗ 
flände von unfern puritanifchen Borvätern übertommen. @inige 
Leute fagen, daß wir Alles, was wir in Ameriky haben, dieſen Hei« 
ligen verdanten. 

„sa — und wenn's auch nicht jo wäre, fo liegt nichts daran; 
denn fie werden gewiß noch ganz Amerify Eriegen.” 

Holmes gerieth in Berlegenheit, puftete ſich aber gleichwohl 
weiter, und warf fehnfüchtige Blicke nach unferem Wagen, während 
er bemüht war, mit demfelben gleichen Schritt zu halten. Da er 
beforgte, wir möchten fchärfer ausholen und ihn verlaffen, fo jebte 
er das Geſpräch fort: 

„Ja,“ fagte er, „zuleßt muß doch unfere Ermächtigung zu 
Allem von der Bibel herfiammen. Sie jagt ung, wir follen keinen 
Groll im Herzen tragen; und dieß ift eine Regel, der ich ſtets nach⸗ 

Zufommen bemüht bin; denn Ihr feht, ein alter Mann kann feiner 


377 


fündigen Natur nicht mehr fo nachhängen, felbft wenn er wollte, 
Da bin ich jebt in Little-Neeſt unten gewefen, um dem Antirenten- 
Meeting anzumohnen — aber ich habe keinen Groll gegen Hugh 
Littlepage, gewiß nicht — eben fo wenig, als wenn er gar nicht 
mein Grundherr wäre. Ich verlange nichts weiter von ihm, als 
meine Farm unter folhen Bedingungen, daß ich und die ungen 
nach mir darauf beſtehen fünnen. Es kommt mir fchrediih hart 
und bedrüdend vor, daß die Littlepage’s ung den Plab verweigern 
follten, nachdem ich ihn ſchon für die Dauer von drei gangen Leben 
bearbeitet habe.” 

„Und fie find mit Euch einig geworden, daß fie Euch die Farm 
verkaufen wollen, wenn die drei Lebensdauern vorhber wären?” 

„Nein, nicht ausdrüdlich gerade — dieß muß ich geftehen. 
Was den Handel betrifft, fo fehlt's nicht, daß der Vortheil ganz 
auf Seite der Kittlepage ift. Ihr Großvater hat's fo eingeleitet, 
und wenn Ihr nicht jo ſchnell fahren wollt, da ich ein bischen 
furzathmig bin, fo follt Ihr hören,’ wie die Sache fleht. Gerade 
dieß iſtss, worüber wir ung beflagen, denn der Handel ift fo ganz 
und gar zu feinem Bortheil. Nun, meine Lebenszeiten haben ver⸗ 
zweifelt gut ausgehalten.. Meint Ihr nicht, Shabbakuk? wandte 
er fich berufend an Tubbs. „Es find volle fünfundvterzig Jahre, 
feit ih ven Pacht antrat, und ein Leben, das meiner Alten, if 
noch im Dafein, wie man's nennt, obſchon's eine Art von Daſein 
ift, das man eben fo gut entbehren Eönnte. Sie kann's nicht lange 
mehr treiben, und dann geht diefe Farm, auf die ich jo große 
Stüde halte, auf der ich faft mein ganzes Leben lang meinen 
Unterhalt gewonnen habe und auf der ich- vierzehn Kinder groß 
zog — aus meinen Händen, um Hugh Littlepage zu bereichern, der 
ohnehin ſchon fo viel hat, daß er fein Geld nicht wie ehrliche Leute 
daheim verbrauchen kann, fondern in’d Ausland gehen muß, um es 
in einem üppigen Leben zu verfchwelgen, wie die Leute fagen. Ja, 
wenn mir nicht der Gouverneur und die Legislatur aus meiner RAR 


378 


hilft, fo febe ich wohl, daß Hugh Littlepage Alles Triegt. ‚Der 
Reiche muß noch reicher und der Arme ärmer werden.‘“ 

„Und wie kommt's denn, daß es fo graufam unter euch zugeht? 
Barum können in Ameriky die Leute nicht ihr Eigenthum behalten?" 

„Ja, feht Ihr, daran liegt's eben. Dem Geſetz nach iſt's nicht 
mein Eigenthum, fondern nur nach der Natur und nach dem Geift 
der Inftitutionen, wie man's nennt. Freilich läge mir nicht viel 
Daran, wie ich Dazu gekommen wäre, wenn ich's nur hätte. Kann's 
der Gouverneur. fo weit bringen, daß die Grundbefiker verkaufen 
oder überhaupt abtreten müflen, jo darf er jedenfalls auf meine Un⸗ 
terflüßung zählen, vorausgeſetzt, daß der Preis nicht zu hoch ange- 
fest it. Ich haſſe hohe Preiſe, denn fie vertragen fih durchaus 
nicht mit einem freien Lande.” 

„Sehr wahr. Ich meine, durch Euern Bertrag habt Ihr die 
Farm unter raifonnablen Bedingungen, da Ihr fehon fo lang im 
Beſitz ſeid.“ 

„Ih zahle nur zwei Schillinge für den Acre,“ antwortete 
der alte Kerl mit einem verfchmigten Blick, als wolle er damit an⸗ 
deuten, was für ein Kapitalgefchäft er in der Sache gemacht habe, 
„oder fünfundzwanzig Dollars jährlich für Hundert Acres. Sch gebe 
zu, dieß ift nicht viel, aber meine drei Leben haben fo defperat 
ausgehalten, bis hier herum die Landpreife auf vierzig Dollars 
geftiegen find, und ich Tann eben fo wenig die Fortdauer diefes 
Preifes erwarten, als ich hoffen darf, Kongreß-Mitglied zu werden. 
Wenn ich den Platz verpachten wollte, jo Fönnte ich morgen hundert 
und fünfzig Dollar fo gutes Geld dafür kriegen, als nur irgend eines 
zu finden iſt.“ 

„uUnd wie viel dürfte wohl Squire Littlepage bei Verwilligung 
eines neuen Vertrags anfprechen ?” 

„Einige denken zweiundfechzig und einen halben Dollar, ob» 
gleich wieder Andere der Meinung find, er werde die Farm mir 
auf weitere Drei Lebensdauern für fünfzig Dollars ablaſſen. Als 


.379 


der alte Schin’ral die Urkunde unterzeichnete, fagte er mir, ich habe 
einen guten Handel gemacht; „doch gleichviel,* fagte er: „wenn ich 
Euch gute Bedingungen ftelle, jo werdet Ihr dafür ein um fo bef- 
ferer Pächter fein, und ich fehe auf den Vortheil meiner Nach⸗ 
fommenfchaft fo gut, wie auf meinen eigenen; wenn ich auch nicht 
fo viel daraus erziele, als ich erhalten Könnte,‘ fagt er, ‚fo wird 
es meinen Kindern oder meinen Kindskindern zu gut kommen. Der 
Menſch muß in diefer Welt nicht ganz für ſich leben wollen, bes 
jonders wenn er Kinder hat.“ Das find gute Ideen gewejen — 
meint Ihr nicht?” 

„Man follte ſtets fo denken. Und wie viel würdet Ihr gut- 
willig für die Farm zahlen, wenn Ihr eine neue Urkunde erhalten 
könntet?" 

„Je nun, es gibt verfchiedene Anfichten über den Gegenſtand. 
Die am meiften beliebte befteht darin, daß Hugh Littlepage veran- 
laßt werden folle, den alten Vertrag vol zu gewährleiften. Ihr 
wißt, Verbindlichkeit it das Wichtigfte in einem Kontratt — —“ 

„Ja, aber nicht vielleicht auch in einen Pachtkontrakt?“ fügte 
mein Onkel troden bei. 

„Dieß kömmt darauf an. Aber Andere jagen, die Farmen 
follen ganz abgetreten und das Dokument darüber ausgeftellt wer⸗ 
den, wenn die Pächter ihrem Grundherrn den Preis des Landes aus 
der Zeit, als das Patent ertheilt wurde, fammt den Interefien bis 
auf den heutigen Tag entrichten. Es fcheint mir defperat hart zu 
jein, außer dem, wie bisher geleiftet wurde, noch Kapital und 
Binfen zu zahlen." 

„Habt Ihr bereits eine Berechnung gemacht, wie hoch fi in 
einem folchen alle die Summe belaufen dürfte?” 

„Ich nicht, aber Shabbakuk. Sagt dem Gentleman, Shab⸗ 
bafuf, wie viel wohl auf den Aker kommen wird.” 

Shabbakuk war ein weit verfchmigterer Spiphube, als fein 
Nachbar Holm. Lepterer hatte blos einen fehr beichräuften, a 


380 


den Eigennuß berechneten Gefichtsfreis, weil er fein ganzes Leben 
über nur damit befchäftigt geweien war, fich ein Vermögen zu- 
fammenzufcharren, weßhalb denn auch fein Geift vollfommen in die 
Schlingen und Netze diefer Welt gefallen war; fein Begleiter da⸗ 
gegen ergriff, wie der Franzoſe fagt, die Initiative in der Schur- 
ferei, indem er nicht blos die Entwürfe der Bosheit ausführte, 
fondern die Plane dazu felbft entwarf. Augenfcheinlich behagte ihm 
diefe Berufung auf feine Rechenkunſt nicht; da er jedoch Feine Ah- 
nung davon hatte, mit wen er fprach, und in dem Wahne Tebte, 
jeder Angehörige der niedrigeren Lebensklaffe müfle ein VBerbündeter 
bes Plans fein, „den Reichen ärmer und den Armen reicher zu 
machen,” fo ließ er fih etwas weiter über den Gegenſtand aus, 
als ſonſt vielleicht der Fall geweſen wäre. Nach einer kurzen Er⸗ 
wägung las er uns felne Antwort von einem Streifen Papier ab, 
auf welchem er die ganze Summe zur Benüpung für das letzte 
Meeting umftändlich berechnet hatte. 

„Das Land war, als es der erfte Littlepage erhielt, meinet- 
wegen zehn Gents dem Acre nach werth, und dieß ift ein Liberaler 
Preis. Wir wollen nun achtzig Fahre rechnen, denn die Zeit des alten 
Herman Mordaunt können wir nicht mitzählen, weil Damals das 
Land fat nichts werth war. Die Intereffen aus zehn Cents, zu 
fieben Prozent berechnet, geben jährlich fieben Mills oder fünfhun- 
dert und fechzig Mills für achtzig Jahre. Zins aus Zins habe ich 
natürlich nicht gerechnet, weil diefe ungefeglich find und in den 
Anſchlag nichts Ungeſetzliches aufgenommen werden darf. Zählen 
wir zu den 560 Mills die 10 Cents, jo erhält man 660 Mills 
oder 66 Cents. Dieſe Summe nun, oder eine Summe nad) den⸗ 
felben Grundſätzen berechnet, wollen alle Pächter gern für ihre 
armen zahlen *), und wenn es noch Gerechtigkeit gibt, jo müflen 
ſie's noch darum kriegen.” 


——— 


*) Damit der Lefer nicht glaube, Mr. Hugh Kittlepage habe Gas Obige erfunden, 





381 


Dieß fcheint mir aber ganz wenig für ein Stüd Landes zu 
fein, das jegt jährlich vom Acre einen Dollar Rente zahlt." 

„Ihr vergeßt, daß die Littlepage's während der vollen Zeit 
von achtzig Jahren die Rente bezogen haben.” 

„Und die Pächter haben während der vollen Zeit von achtzig 
Fahren die Farmen benützt.“ 

„Ob, wir rechnen das Land gegen die Arbeit. Wenn mein 
Nachbar Holmes da feine Farm fünfundvierzig Jahre bewirth- 
Thaftet hat, fo Fam dagegen der Farm fünfundvierzig Jahre lang 
feine Arbeit zu gut. Ihr könnt Euch darauf verlaffen, daß der 
Gouverneur und die Legislatur alles Dieß prächtig verfteht." 

„Wenn dieß der Fall if, fo müſſen fie auch ganz prächtig für 
ihre hohen Poften paffen,” antwortete Onkel Ro, indem er fein 
Pferd in Trab peitſchte. „Oh es iſt ein bedeutender Vortheil für 
ein Land, wenn es große Gouverneure und große Gejebgeber hat. 
Guten Tag.” 

Und fort ging's, während Nachbar Holmes, Shabbakuk Tubbs, 
der Gouverneur und die ganze Gefebgebung mit ihrer vereinten 
Moral, Weisheit, Logik und Philofophie auf der Landftraße zurüd- 
blieben. Onkel Ro fchüttelte den Kopf und lachte dann, da er fich 
die Abgeſchmacktheit deffen, was er eben gehört hatte, nicht aus 
dem Sinn fchlagen konnte. Ohne Zweifel laſſen fih Viele finden, 
welche Grundſätze und Anfichten, die dem Weſen nach den eben 
mitgetheilten um Fein Haar nachſtehen, offen ausgeiprochen haben, 
aber doch diefelben ableugnen, wenn man fie ihnen vorhält. Es 
fömmt häufig genug vor, daß Menfchen ihre eigenen Kinder nicht 
anerkennen, wenn fie fich der Umſtände ſchämen, durch welche fie 
in's Dafein gerufen wurden. Aber im Verlauf diefer Streitfrage 
habe ich oft gehört und in den Zeitungen gelefen, wie Männern 


will ich beifügen, daß landauf und lantab noch weit übertriebenere ‚Sorjläge often 
unter den Antirgntern in Umlauf famen Der Herauögeber 


382 


von Anfehen fogar bei Gelegenheit der Aufführung ihrer öffent- 
lichen Reden Grundfäbe in den Mund gelegt wurden, die, wenn 
man ihnen ihre fehr dünne Hülle adftreifte, ganz auf demſelben 
Niveau mit Denjenigen flanden, welche wir eben von Holmes und 
Tubbs gehört haben. Ich weiß zwar, daß bis jetzt noch Fein 
Gouverneur auf die Bedrängniffe der Pächter mit endlichen 
Pachtverträgen angefpielt hat; indeß wäre e8 eitle Mühe, abläug- 
nen zu wollen, daß man Grundfähen oder vielmehr einem Mangel 
an Grundfägen die Thüre geöffnet hat, unter welchem, wenn dem 
Uebel nicht bald Einhalt gethan wird, alles derartige Eigenthum 
in dem Strome eines rücfichtslofen Pöhelgefchreis untergehen muß. 
Ich fage, dem Uebel, denn es tft ein Fluch für jede Gemeinde, 
die Sicherheit des Eigenthums zu zerftören, und noch dazu eine 
Sicherheit, die man bisher für die befte gehalten hat. Sa, der 
Fluch wird im moralifhen Sinn um fo verderblicher, weil dadurch 
nur die Habgier, welche der große Haufen an den Zag legt, be= 
ſchwichtigt werden foll. 

Wir. hatten bald Holmes und Tubbs aus dem Geflchte ver- 
loren und fuhren nun in den Wäldern weiter. Ich geftehe, daß 
ich jeden Augenblick etwartete, Hall in den Händen der Inſchens 
zu treffen, denn die Aufregung der leßteren ſchien mir hauptfäch- 
lich gegen ihn gerichtet gewefen zu fein. Wir fahen jedoch nichts 
der Art, und hatten nahezu den nördlichen Rand des Waldftreifens 
erreicht, als wir der beiden Wagen anflchtig wurden, deren fich die 
edle Soldateska fo ritterlich bemächtigt hatte. Auch zwei von den 
Reitern waren in ihrem Geleite. Die ganze Gruppe hatte feit- 
wärts von der Landſtraße Halt gemacht, und ein einzelner Inſchen 
hielt Wache dabei, fo daß wir hieraus entnehmen Eonnten, daß 
wir und einer Scene von einigem Intereſſe näherten. 

Mein Onfel und ich erwarteten zuverläfftg, wenn wir den er- 
wähnten Bla erreichten, wieder angehalten zu werden; es trat ung 
jedod Niemand in den Weg, und wir durften ohne Behelligung 


383 


weiter fahren. Sämmtliche Pferde fanden mit Schaum bededt 
da, als feien fie ſcharf angetrieben worden, fonft aber deutete 
nichts auf etwas Abfonderliches, ald etwa die Anweſenheit der 
einzelnen Schildwache. Auch diefer Kerl beläftigte uns in Feiner 
Weiſe, und wir fuhren fo langſam oder jchnell weiter, ald ed Tom 
Millers Gaule beliebte, bis wir nahe genug an den Rand des 
Waldes kamen, um einen Blick in die offenen Felder jenſeits werfen 
zu können. Hier bemerkten wir jedoch gewiffe Bewegungen, die, 
wie ich befennen muß, mir einige Beforgniß einflößten. 

Sn dem Gebüfch, das die Landftraße fäumte und ſchon weiter 
oben befchrieben wurde, erblidte ich mehrere von den „verkappten 
Bewaffneten,” welche augenjcheinlich im Hinterhalt lagen. Ihre 
Zahl mochte im Ganzen aus ungefähr zwanzig Mann beftehen, 
und wir konnten jebt deutlich erkennen, daß Diejenigen, welche 
die Wagen in ihren Dienft gepreßt hatten, vorwärts geeilt waren, 
um ihren Haufen zu verflärfen. Ich glaubte nun ficherlich ange= 
halten zu werden; aber e8 war nicht der Fall, und wir durften 
eben fo gut, wie bei den Wagen und Pferden, unbehelligt weiter 
ziehen, obfchon es dem Haufen befannt fein mußte, daß wir von 
ihrer Anwefenheit an diefem Platze unterrichtet waren. So ging 
es denn weiter und wir erreichten bald ohne Beläftigung das offene 
Land. Es fund indeß nicht lange an, bis fih das Geheimnig ung 
aufflärte. Ein Weg lief von dem höheren Grunde, der ein wenig 
linfs von uns im Weſten lag, abwärts, und wir erblidten auf 
demfelben in ſchnellem Schritt einen Haufen Männer, die wir 
Anfangs irrthümlicher Weife für eine Abtheilung der Inſchens 
hielten, bei näherer Mufterung aber als Indianer oder eigentliche 
Rothhäute erkannten. Der Unterfckied zwifchen beiden ift fehr 
groß, wie jeder Amerikaner gerne zugeben wird, obgleich Diele, 
welche diefe Schrift Iefen, von mir eine weitere Erflärung ver- 
langen dürften. Es gibt „Indianer” und „Inſchens.“ Der Ins 
fhen ift ein Weißer, der, weil er fich mit unwürdigen und un⸗ 


384 


gefeblichen Umtrieben abgibt, fein Geficht verhüllen und als Ber- 
kappter fein Weſen treiben muß. Der Indianer dagegen iſt ein 
sother Mann, der fih weder fürchtet noch fcheut, vor Freund und 
Feind fein Geficht zu zeigen. Erfterer ift ein Werkzeug ränkefüch- 
tiger Demagogen, der Miethling unzufriedener habgieriger Menfchen, 
welche der Wahrheit und dem Rechte Hohn fprechen, während fie 
fich ſelbſt glauben machen wollen, ihre Thätigkeit ziele auf nichts ab, 
als auf Durchführung „des Geifls derfelben Inſtitutionen“, die fie 
fhänden und zugleich fcheuen, während der Andere nur fich felbft 
dient und fi) vor nichts fürchtet. Der Eine flieht und meidet die 
Pflichten, welche ihm die Eivilifation auflegt, der Andere aber, ob- 
glei ein Wilder, gibt fich wenigſtens für nichts Anderes, ald was 
er if. 

Es fehlte nicht — wir ſahen wirklich eine Abtheilung von 
etwa fechzehn oder achtzehn wirklichen Ureingeborenen. Man bemerkt 
zwar häufig genug einen oder zwei Indianer, die vielleicht etliche 
Weiber bei fih haben, und im Lande umberftreifen, um Körbe zu 
verkaufen. Früher beftand ihr Handel aus Befen, aber in neuefter 
Zeit hat der Bang des Aufihwungs ein fo rohes Fabrikat faft 
ganz aus dem Lande verbannt. Heutzutag übrigens ift es eine ſehr 
ungewöhnliche Erſcheinung, wenn man im Herz des Staates einen 
ächten indianifchen Krieger trifft, der die Büchje.und den Tomahawk 
mit fi führt; doch in folcher Bewaffnung zogen Diejenigen einher, 
welche wir burtig den Weg herunterfommen ſahen. Onkel Ro war 
eben fo erflaunt, wie ich jelbft, und er machte an der Verbindung der 
beiden Landftraßen Halt, um die Ankunft der Sremden zu erwarten, 

„Dieß find Achte Rothhäute, Hug — in der That ein edler 
Stamm,” rief mein Onkel, fobald der Haufen nahe genug war, 
um fich beffer unterfcheiden zu laffen. „Ohne alle Frage Krieger 
aus dem Weften, die von einem Weißen begleitet werden. Was 
Fönnen fle möglicherweife in Ravensneft wollen ?" 

„Vieleicht gedenken die Antirenters ihre Plane zu erweitern 


385 


und Die ächten Söhne des Urwalds in ihren Bund zu ziehen. Glaubt 
Ihr nicht, daß es damit auf eine Einfchüchterung abgefehen iſt?“ 

„Einfhüchtern — wen? die Weiber und Kinder der Antiren- 
ter8? Doch da kommen fie — wahrhaftig ein edler Haufen! Wir 
können fie anreden.” 

Sie kamen heran — fiebenzehn von dem fchöneren Stamm der 
Rothhäute, wie man fie jebt bisweilen unter ung fieht, wenn fie 
von ihren fernen Prairien herfommen oder dahin wieder zurück⸗ 
fehren; denn der weiße Mann hat bereits den Indianer fammt 
den Bären, den Elenten und dem Mufethier aus den amerikani- 
Ihen Zorften nach jenen meiten Ebenen gedrängt. 

Wo die Ausbreitung der amerifanifchen Nation enden wird — 
dieß ift eines von den Geheimniffen der göttlichen Borfehung. Bleibt 
fie ſich ſelbſt — bleibt fie dem Recht getreu und übt fie Billigkeit 
— nicht im Sinne der Unterwerfung unter das Gefchrei der Maffen, 
fondern im Sinne einer guten Gefeßgebung — fo kann unfere 
Republif alle Einmengung der europätichen Gewalt, wenn fie es 
auf unſere heimifchen Intereſſen abgefehen hat, als eine durch Jahr⸗ 
hunderte morfch gewordene Politik, welche nicht mehr in die Ge- 
Ihichte und Denkweiſe unferer Zeit paßt, verlachen und zur Er⸗ 
füllung einer Beftimmung fortfchreiten, die, wenn fie nach der 
augenfälligen Abficht des Weltenlenkers angeftrebt wird, alle ung 
vorausgegangenen Staaten fo tief in den Schatten ftellen muß, wie 
der Berg das Thal. Indeß darf man nicht vergeflen, daß die herr- 
lichſte Morgenröthe einen fehr trüben Tag einzuführen im Stande 
ift, daß der verheißungsvollften Jugend nich; felten ein Mannes- 
alter voll getäufchter Hoffnungen und vereitelter Wünfche folgt — 
ja, daß felbft der anerfannte Mann Gottes vom Glauben abfallen 
und eine Laufbahn, die er tugendhaft begonnen, endigen Fann in 
Berworfenheit und Sünde. Völker find gegen den Einfluß der Ber- 
ſuchung eben fo wenig gefichert, als einzelne Perfonen, und nament- 
lich befigt Die amerifanifche Nation eine Schwäche, die ihr eigen- 

Ravensneft, NS) 


386 


thümlich if. Statt in Nothfällen das fiherfte Nettungsmittel in 
dem volfsthümlichen Prineip zu gewinnen, bieten eben die Unver- 
antwortlichkeit und der gewaltthätige Charakter dieſes Princips die 
Hauptgefahr. Bliebe es in den Schranken des Rechts, fo wäre es 
in bewundernswürdiger Weife geeignet, das gewöhnliche Wirken 
der Habgier und Selbfifucht, wie fich dieß gewöhnlich in erfünftel- 
teren Regierungsformen ausdrüdt, zu zügeln; geftattet man aber, 
daß es vie ihm gefeßten Schranken durchbreche, fo wird es zu 
einem wilden Strome, der bein Eisgang des Frühlings fein 
Bette zerreißt und in feinem zerftörenden Laufe alles Schöne und 
MWohlthätige, das wir der Natur jowohl als der Kunft verdanken, 
verwüftet. Bis jebt hat die Erfahrung von zwei Jahrhunderten 
für die künftige Wohlfahrt des Landes noch nichts fo Bedrohliches 
geboten, als die jociale Gährung, welche gegenmärtig im Staate 
New⸗Nork um fih greift. Bon ihren Erfolge hängt die Löfung 
der hochwichtigen Frage ab, ob unfere Republit von Grundfähen 
oder von Menfchen beberrfcht werden fol — und noch obendrein 
von Menfchen, die, wie man aus ihren gemeinen und abftoßenden 
Eigenfchaften erfieht, Feine andere Zriebfeder Eennen, als ihr Ich. 
Kann ein Staat glüdlih fein, der ſolche Perfonen zu Hütern 
und Werkzeugen hat? — Diefem Stand der Dinge ift es bei- 
zumeffen, daß wir bereits mit anjehen mußten, wie ein gejeb- 
gebender Körper in öffentlicher Verhandlung die Mittel und Wege 
berieth, den Beflimmungen feiner eigenen Gefeßgebung auszu⸗ 
weichen — daß wir Zeugen waren, wie Männer, denen ihre Pflicht 
gebot, mit firenger ugerbittlicher Rechtlichkeit der Welt entgegen zu 
treten, in ihren Bemühungen, fich gegenfeitig in demagogifchen 
Kunftgriffen zu überbieten, eine höchft verderbliche Gefchicklichkeit 
an den Zag legten. 

Als die Indianer den Nord» und Südweg oder denjenigen er= 
reichten, in welchem unfer Wagen fland, machte der ganze Haufen 
mit bezeichnender Höflichkeit Halt, als wolle er unferem Wunſche, 


Hai. . 


387 


fle anzureden, entgegenkommen. Der Vorderfte, welcher zugleich 
auch der ältefte war und mindeftens feine fechszig Lebensjahre 
zählen mochte, nidte ung mit dem Kopf zu und fprach Die ge- 
wöhnliche Begrüßung aus: 

„Sago, Sago.” 

„Sago,“ entgegnete mein Onkel. 

„Sago,“ erwiederte auch ich die Begrüßung. 

„Wie gehen?" fuhr der Indianer fort, der, wie wir jebt ent- 
deckten, Englifch ſprach. „Wie heißen dies Land?” 

„Dieß ift Ravensneſt. Das Dorf Littleneft liegt etwa eine 
halbe Stunde jenfeits von diefem Walde.” 

Der Indianer wandte fih um und theilte in feinen tiefen 
Gutturaltönen den Uebrigen die erhaltene Auskunft mit, Ste fand 
augenfcheinlich gute Aufnahme, was wir als einen Beweis deuten 
konnten, daß fle das Ziel ihrer Wanderfchaft erreicht hatten. Sie 
befprachen ſich nun mit einander in kurzen, inhaltsvollen Bemerkun⸗ 
gen, worauf der alte Häuptling fich wieder an und wandte. Ich 
nenne ihn Häuptling, objchon es augenfcheinlich war, Daß Das ganze 
Häuflein aus Männern beftand, welche Anfpruch auf den gleichen 
Zitel hatten — eine Thatfache, Die aus ihren Medaillen, ihrem 
guten Anzug und aus ihrer ruhigen,. würdevollen, um nicht zu 
jagen flolzen Haltung hervorging. Sie trugen indgefammt eine 
leichte Sommertracht, die Moccafind, Leggings u. ſ. w. nebft dem 
Calico⸗Hemd oder einer dünnen Dede, die fie ungefähr nach Weile 
der römischen Toga um ihren Oberleib geworfen hatten, Sie wa⸗ 
ren indgefammt mit der Büchje, dem blanfen Tomahawk und einem 
in der Scheide ftedenden Meffer bewaffnet; auch führte Jeder 
ein Pulverhorn nebft einem Kugelbeutel bei fich, und einige von 
den Jüngeren waren in etwas gewählterer Weife mit Federn 
und den Gefchenken geſchmückt, Die fie während ihrer langen 
Reife erhalten hatten, Bon dem ganzen Haufen war übrigens 
feiner gemalt, 


N” 





388 


„Dies Ravensneft, eh?" fuhr der alte Häuptling freimüthig, 
aber mit entfprechender Höflichkeit fort. 

„Wie ih Euch fage. Das Dorf Tiegt auf der andern Seite 
jenes Waldes; und das Haus, von welchem die Gegend den Na- 
men führt, ſteht in der entgegengefeßten Richtung — etwa eine 
halbe Stunde entfernt." 

Auch dieß wurde überfebt, und e8 folgte eine gedämpfte, aber 
allgemeine Meußerung der Freude, 

„Keine Infchens hier herum, eh?" fragte der Häuptling mit 
fo ernfter Miene, daß wir Beide überrafcht wurden. 

„Ja,“ antwortete mein Onkel. „Es gibt hier Inſchens — 
ein Haufen liegt gegenwärtigen Augenblid dort an der Ede des 
Waldes, nur dreißig Ruthen von Euch.“ 

Diefe Thatfache wurde den begierigen Zuhörern mit großer 
Haft mitgetheilt und erregte unter dem Haufen augenfcheinliches 
Intereſſe, obfchon fich daffelbe nur in einer Weile kundgab, wie es 
unter den Ureingeborenen dieſes Welttheild gewöhnlich ift — ruhig, 
rüdhaltsvoll und mit einer Kälte, die faft zur. Gleichgiltigkeit flieg. 
Indeß unterhielt ung doch die Wahrnehmung, daß dieſe Kunde 
unter den rothen Männern weit mehr Theilnahme gemwedt hatte, 
als fie wahrfcheinlich gefühlt haben würden, wenn man ihnen ge= 
fagt hätte, daß eine Stadt wie London auf der andern Seite des 
Waldes liege. Wie Kinder bekanntermaßen die größte Freude an 
Kindern haben, fo ſchienen auch dieje Kinder des Urwaldes ſich 
aufs Lebhaftefte für diefe unverhofften Nachbarn zu interejfiren, 
welche fie ohne Zweifel für Stammverwandte hielten. Nach einem 
angelegentlichen Gefpräch unter fich wandte fich der alte Häuptling, 
der, wie wir nun hörten, Prairiefeuer hieß, wieder an und und 
fellte die Frage: 

„Bas Stamm, eh? Kennen Stamm?” | 

„Man nennt fie die Antirenten⸗Inſchens. 8 if ein neuer 


389 


Stamm in diefem Theil des Landes, und er erfreut fich Keiner 
fonderlichen Achtung.” 

„Bös Infchen, eh?" 

„Ih muß dieß leider bejahen. Sie find nicht ehrlich genug, 
um gemalt einherzugehen, fondern tragen Hemden über ihren Ges 
fihtern.” 

Es erfolgte abermals ein langes Gefpräh, in welchem die 
Indianer Merkmale der Verwunderung fundgaben. Wahrfchein- 
lih Hatten die amerifanifchen Wilden bisher nie etwas von dem 
fogenannten Antirenter-Stamme gehört, und die erfte Kunde von 
dem Borhandenfein eines folchen Volkes mußte natürlich großes 
Intereſſe weden. Wir wurden bald darauf erfucht, ihnen den Weg 
nad) der Stelle zu zeigen, wo fie dieſen unerhörten Stamm auf- 
finden könnten. Dieß war etwas mehr, als mein Onfel erwartet 
hatte, indeß gehörte er nicht unter die Männer, welche den Rüde 
zug antreten, wenn fie fich einmal auf ein Unternehmen eingelaffen 
haben. Nach kurzer Erwägung deutete er feine Zuftimmung an 
und flieg aus dem Wagen. Wir befefligten Tom Millere Gaul 
an einen Zaunpfahl und brachen zu Fuß auf, um unfere neuen 
Gefährten nach der Stelle zu geleiten, wo der große Stamm der 
Antirenters zu finden war. Wir hatten die Entfernung nach dem 
Wald hin kaum zur Hälfte zurückgelegt, als wir auf Holmes und 
Tubbs trafen, die in einem andern Wagen Plab gefunden hatten, 
bis fie den Ort erreichten, wo der ihrige aufgeftellt war, Hier 
brachten fie ihr Eigenthum wieder an fih und waren num auf 
dem Heimweg begriffen, in fteter Angft lebend, daß ein neuer 
Schwant ihrer großen Verbündeten fie abermals auf die Landftraße 
werfen könne. Diefes Fuhrwerk war, mit Ausnahme unferes eige= 
nen, das einzige, das bis jet aus dem Wald herausgefommen war, 
denn die Eigenthümer von etlich und zwanzig anderen zogen es vor, 
in Hintergrund zu bleiben, bis die Begegnung der beiden Stämme 
fattgefunden hatte. 


390 


„Bas, um der Natur willen, fol alles dieß bedeuten?“ rief 
der alte Holmes, bei unſerem Näherkommen fein Pferd zügelnd, um 
ein Geſpräch anknüpfen zu können. „Schidt gar der Gouverneur 
wirkliche Infchens gegen ung, um fich bei den Grundherren wohl 
daran zu machen?” 

Kür einen Antirenter war dieß eine jehr harte und Tieblofe 
Weife, das Benehmen des Gouverneurd zu beurtheilen; da aber 
Diefer Würdenträger in der objchwebenden großen Frage den Haupt- 
fehler gemacht hatte, weder „Gott noch dem Mammon“ zu dienen, 
fo war e8 Fein Wunder, wenn es von Rechts und von Links aus 
auf ihn losging, da aller Wahrfcheinlichkeit nach weder Gott noch 
Manımon fein Verfahren billigen werden. 

„Ih weiß wahrhaftig nicht,” Tautete die Antwort meines 
Ontels in gebrochenem Engliſch. „Dieß find wirkliche Rotbhäute, 
und dort haben wir die leibhaftigen Infchens; dieß ift Alles, 
Wenn Ihr wiffen wollt, was im gegenwärtigen Augenblide diefe 
Krieger hieher führt, fo müßt Ihr fie ſelbſt fragen.“ 

„Ja, eine Frage kann nichts fchaden, und ich bin nicht fo 
fcheu vor Nothhäuten, da ich fle oft gefehen habe, und mein Vater, 
wie ich von ihm hörte, feiner Zeit manchen Kampf mit ihnen aus⸗ 
fechten mußte. Sago, Sago." 

„Sago,” antwortete Prairiefeuer mit feiner gewohnten Höf- 
lichkeit. ar 

„Am aller Natur willen, wo kommen alle die Rothhäute ber, 
und wohin Fönnt ihr möglicherweife wollen?” 

Holmes gehörte augenfcheinlich einer Schule an, die nie zögert, 
wenn es gilt, eine Frage zu ftellen, und der Anficht if, fie verdiene 
auch eine Antwort, wenn anders Antwort fich erzielen läßt. Der 
alte Häuptling war ohne Zweifel fchon früher mit ähnlichen Blaß- 
gefichtern zufammengefonmen, denn der ungebildete Amerikaner 
gehört zuverläfftg unter diejenigen menfchlichen Wefen, welche mit 
ihrer Neugier überall vornean ſtehen. Andererfeits aber hält der 

* 


391 


rothe Mann eine derartige Neuigfeitsfucht für eine weibliche 
Schwäche, die fih mit der Faſſung und Würde eines Kriegers 
nicht verträgt. Ohne Zweifel war Prairiefeuer fchon in früher 
Tugend dahin belehrt worden, die Kundgebung von Ueberrafchung 
und das Berrathen von Neugier felen Dinge, die nur den Weibern 
ziemten, fein, eigenes Gefchlecht aber fchändeten: es war daher wohl 
dieſem Zuge in feiner Erziehung zuzufchreiben, daß ihm weder das 
Benehmen des Pächters, noch deſſen Sprache auch nur die mindefte 
Aeußerung von Berwunderung entlodte. Dagegen beantwortete er 
die Frage mit einer Kälte, die probehaltig zu fein ſchien. 

„Kommen von Niedergehen der Sonne, Sein gewefen zu feh’ 
groß Vater zu Wafhington — gehen heim," lautete Die Eurze 
Entgegnung. 

„Aber wie geht's zu, daß ihr an Ravensneft vorbeifommt? 
Sch fürchte, der Gouverneur und jene Kunden von Albany müſſen 
ihre Hand dabei im Spiel haben, Shabbakuk.“ 

Was Shabbakuf von dem „Gouverneur und jenen Kunden zu 
Albany” hielt, wiſſen wir nicht, da er es nicht als paffend erachtete, 
eine Antwort zu geben; denn fein gewöhnlicher Hang, fich in Alles 
zu mifchen, wurde wahrfcheinlich durch die Anwejenheit diefer wirf- 
lichen Rothhäute eingefchüchtert. 

„Sch frage, warum ihr diefen Weg kommt?“ wiederholte Hol- 
mes mit noch größerem Nachdrud. „Wenn ihr zu Wafhington ge- 
weien feid und ihn daheim getroffen habt, warum geht ihr nicht 
auf demfelben Weg wieder zurück?“ 

„Kommen hieher, zu finden Infchen. Habt Fein Infchen 
bier, ch?" 

„Inſchen? Ei, von einer Art haben wir mehr dergleichen 
Kreaturen, ald man wohl gern möchte. Bon welcher Farbe find 
die Xnfcheng, die ihr aufjucht? — Haben fie die Blaßgeſichtsnatur, | 
oder find fie roth wie ihr ſelbſt?“ 

„Wollen finden rothben Mann. Er jebt alt wie- Wipfel 


392 


von todter Tanne. Wind blaf’ Durch feine Zweig, bis alles Laub 
abfall.“ 

„Beim Georg, Hugh,“ flüſterte mein Onkel, „ſuchen am Ende 
dieſe Rothhäute den alten Susqueſus?“ 

Dann vergaß er ploͤtzlich die Nothwendigkeit, in Anweſenheit 
ſeiner beiden Ravensneſter Zuhörer — insbeſondere des Shabbakuk 
Tubbs — ſein gebrochenes Engliſch beizubehalten; er wandte ſich, 
für einen Mann von feinen Jahren etwas unüberlegt, an Prairie⸗ 
feuer und bemerkte haftig: 

„Ih kann Euch in Euren Nachforfchungen Beiftand leiſten. 
Ihr ſucht einen Krieger der Onondagoes, der feinen Stamm vor 
hundert Jahren verlaffen hat — einen rothen Mann, der in den 
Wäldern um feines leichten Fußes willen berühmt war und nie das 
Beuerwaffer Eoften wollte. Sein Name ift Susquefus.” 

Bis jebt hatte fich der einzige weiße Mann aus der Geiell- 
Ihaft diefes fremden Haufens — fremd wenigſtens in unferem 
Theile vom Staat New-Mork, obfchon vieleicht Häufig genug auf 
den Hauptverkehrsftraßen des Landes — ſtumm verhalten. Er war 
ein gewöhnlicher Dolmetjcher und den Indianern für den Nothfall 
zur Begleitung beigegeben worden, Tannte aber die Sitte der Ci⸗ 
vilifation nur wenig mehr, als Diejenigen, die er zu führen hatte, 
weßhalb er Hüglicher Weife ftill geblieben war, bis er jah, daß er 
von einigem Nußen Fein konnte. Wir erfuhren ſpäter, daß die 
Häuptlinge, welche zu verfchiedenen Stämmen gehörten, den Wunſch 
ausgedrücdt hatten, auf ihren Heimwege die „welke Zanne, die noch 
ſteht,“ — wie fie dichterifch in ihren Dialekten den Susquefus 
nannten — zu befuchen. Der Unteragent, welcher mit ihnen nach 
Waſhington gelommen war, benübte nun diefe Gelegenheit, um zu= 
gleich auch feine eigenen Verwandten in Maffachujetts zu befuchen, 
da bei einer derartigen Wallfahrt, welche blos einer theuren Erin- 
nerung galt, feine Anwefenheit nicht eben nöthig geweſen wäre. 

„Ihr habt recht,” bemerkte der Dolmeticher. „Dieje Häupt- 


393 


linge find nicht gefommen, um einen Stamm aufzufuchen; aber 
es find zwei von den alten Onondagoes unter ihnen, und ihre 
Ueberlieferungen erzählen von einem Häuptlinge, Namens Sus- 
quefus, der Alles, nur die Tradition nicht, überlebt habe. Er 
verließ fein Volk vor langer, langer Zeit; aber der Auf feiner 
Zugenden blieb zurüd, und dieß if Etwas, was eine Rothhaut nie 
vergißt." 

„Und alle diefe Krieger find zwanzig Reifeftunden von ihrem 
Weg abgegangen, um Susquefus ihre Huldigung zu bringen?” 

„Dieß nar ihre Wunfch, und ich fuchte bei dem Bureau zu 
Waſhington die Erlaubnig für fie nach, den Umweg machen zu 
dürfen. Es Eoftet zwar Onkel Sam fünfzig oder hundert Schil⸗ 
linge weiter, als es in der andern Richtung der Fall geweien 
wäre, aber ein folder Beſuch wird für alle. Krieger des Weſtens 
eine Million Dollars werth fein. Niemand ehrt Recht und Ge- 
rechtigfeit mehr, als eine Rothhaut, obſchon ſie dabei auch ihre 
beſondere Weife hat.” 

„Ich bin übergeugt, Onkel Sanı hat in Beziehung auf diefes 
Volk nie anders, als rechtlich gehandelt, und hoffe auch, daß er 
fiets jo handeln wird. Susquefus if ein alter Freund von mir, 
und ich will euch zu ihm führen.” 

„Am aller Natur willen, und wer feid denn ihr?" fragte Hol- 
mes, deſſen Neugierde auf eine frifche Spur gerathen war. 

„Wer ich bin? — Ihr ſollt wiffen, wer ich bin,” antwortete 
Onfel Ro, indem er feine Perüde befeitigte — ein Schritt, den 
ich auf der Stelle nahahmte. „Ich bin Roger Littlepage, der feit= 
herige Eurator diefes Befigthums, und dieß ift Hugh Littlepage, 
der nunmehrige Eigenthümer. ” 

Der alte Holmes war in den meiften Dingen muthig genug, 
und von weit befferem Schrote, als der fchleichende, ſchnüffelnde, 
ſchwatzhafte Demagog an feiner Seite, aber diefe Entdedung machte 
ihn völlig Heinlaut. Er fah meinen Onkel, dann mich an und 


394 


heftete dann zuleßt einen betrlibten, fragenden Blick auf Shab- 
bakuk. Was die Imdianer betraf, fo fließen fie, troß ihrer ge⸗ 
wohnten Ruhe, ein gemeinfames „Hugh“ aus, als fie fahen, wie 
fe zwei Männer fo zu fagen felbft fkalpirten. Onkel Ro war 
ſehr aufgeregt, und fein Benehmen erfchien in hohem Grade thea- 
tralifch, als er mit der einen Hand feine Mühe, mit der andern die 
Perüde entfernte und lebtere mit ausgeftredtem Arm in die Rich⸗ 
tung der Indianer hinhielt. Da fih eine Rothhaut felten eines 
Akts von Rohheit ſchuldig macht, wenn er nicht in gutem Ernſt 
den Wilden zu fpielen beabfichtigt, fo mochte wahrfcheinlich der 
Ehippewa, gegen welchen die Hand mit der Perüde hingerichtet 
war, die Haltung irrthümlicher Weije für eine Einladung nehmen, 
"den merfwürdigen Artikel zu unterfuchen. So viel ift wenigſtens 
gewiß,. daß er denfelben mit fanfter Gewalt aus den Fingern 
meines Onkels zog, und im Ru waren alle Wilden um ihn ver- 
fammelt, wobei fi) mancher gedämpfte, behutiame Laut der Ueber⸗ 
rafhung Fund gab. Die Männer waren lauter Häuptlinge und 
wußten ihr Erſtaunen über das merkwürdige Schaufpiel gut zu 
zügeln. Hätten fie aus unedlem, gemeinem Bolt befanden, To 
wäre ohne Zweifel die Perle von Hand zu Hand gegangen und 
hätte fich wohl einem Dutzend von Köpfen, bereits zur Aufnahme 
gefchoren, anpaflen laffen müflen. 


Achtzehntes Kapitel. 


Der Gorbon iſ gut gilt es Eile, 
Ein Sampbell hat Knochen von Stahl; 
Ein Grant, ein Madenfie und Murray, 
Ein Kameron nie fich ergibt. 


Di. erfte Unterbrechung diefer Scene ging von dem alten 
Holmes aus, der in dem fehrillen Tone, in welchem er gewöhnlich 
fprach, feinem Begleiter zurief: 

„Dieß ift überfhlimm, Shabbakuk. Jetzt werden wir unfere 
Pachtverträge nie wieder erneuert kriegen.“ 

„Dieß Kann Niemand fagen,” entgegnete Tubbs mit einem 
lauten Zon, als ſei er entfchloffen, die Sache recht Fedftirnig 
durchzuführen. Vielleicht ift der Gentleman noch froh, wenn er 
einen Vergleich erzielen kann. Es ift, glaube ich, geſetzlich Seder- 
mann verboten, verkleidet auf der Landſtraße fich blicken zu laſſen. 
Ihr jeht, Nachbar Holmes, beide Squire Littlepages befinden fich 
mitten im Weg, und beide waren erſt noch vor einer Minute 
verkleidet." 

„Dieß ift wahr — Ahr glaubt alfo, es laſſe ſich etwas aus 
diefem Umftand erzielen? 's ift fchon recht, wenn ein Profit dabei 
herausſchaut.“ 

Shabbakuk räuſperte ſich abermals und blickte zurück, als 
wolle er ſich überzeugen, was aus den Inſchens geworben ſei, 


396 


denn augenscheinlich fagte ihm der ächte „Artitel" vor ihm gar 
nicht zu. Dann antwortete er: 

„Wir können unfere Barmen kriegen, Nachbar Holmes, wenn 
Ihr mit mir einverftanden feid, in der Sache raifonabel fein zu 
wollen, fo lang als Squire Littlepage feinen eigenen Intereſſen 
Gehör zu ſchenken wünſcht.“ 

Mein Onkel wußte wohl, daß wir nichts gethan hatten, was 
und vor dem Fürzlich ergangenen Statut flrafbar machen Eonnte, 
und würdigte daher den Burfch Keiner Antwort, fondern wandte 
fih an die Indianer, gegen die er fih aufs Neue erbot, ihnen 
den Weg zu zeigen. 

„Die Häuptlinge möchten gar gerne wiffen, wer Ihr feid 
und wie ihr Beide zu den doppelten Skalpen amt," ſagte der Dol- 
metfcher lächelnd, als wolle er jeinerjeitd uns bemerklich machen, 
daß ihm eine Perüde nichts Neues ſei. 

„Sagt ihnen, diefer junge Gentleman ſei Hugh Littlepage und 
ih fein Onkel. Hugh Littlepage ift der Eigenthümer des Landes, 
das Ihr um Euch her ſeht.“ 

Die Antwort wurde mitgetheilt, und wir harrten des Erfolgs, 
den fie auf die Indianer übte. Zu unferem großen Erftaunen ſam⸗ 
melten fich mehrere derjelben um uns und betrachteten und augen- 
ſcheinlich mit achtungsvoller Theilnahme. 

„Die Anfprüche eines Grundherrn werden, wie e8 fcheint, von 
diefen ungebildeten Wilden weit beijer begriffen, als von unfern 
eigenen Pächtern, Hugh,“ fagte mein Onkel. „Doch fieh’, der alte 
Holmes, dieſer eingefleifchte Schurke, und fein Freund Shabbakuf 
gehen in die Wälder zurüd. Vieleicht Triegen wir's jept mit 
feinen Infchens zu thun.“ 

„Ich glaube nicht, Sir. Jener Stamm ſcheint mir nicht genug 
Mannhaftigkeit zu befißen, um diefem die Stirne zu bieten. Zwar 
nimmt e8 im Allgemeinen der weiße Mann recht gut mit der Roth⸗ 
haut auf; aber gleichwohl möchte ich zweifeln, ob Häuptlinge, wie 


397 


diefe, nicht einer zweimal fo großen Anzahl von Spigbuben, wie- 
fie dort in den Büfchen umberfchleichen, gewachien find. 

„Warum befunden die Häuptlinge fo viel Intereffe für ung?” 
fragte mein Onkel den Dolmetfcher. „Wäre es möglich, daß fie 
und fo viel Achtung bezeugen, weil der Grund und Boden hier 
herum uns gehört?" 

„Durhaus nicht — durchaus nicht," Tautete die Antwort. 
„Allerdings wiflen fie recht wohl zwifchen einem Häuptling und 
einem gewöhnlichen Menichen einen Unterſchied zu machen, und 
während unferes Zugs durch das Land haben fie wohl zwanzigmal 
ihr Erftaunen gegen mich ausgedrüdt, daß unter den Blaßgefichtern 
fo viele gemeine Menfchen Häuptlinge feien. Aber um Reichthümer 
befümmern fie fich nicht. Unter ihnen ift Derjenige der Erfte, wel⸗ 
cher fich auf dem Kriegspfad und im Berathungszimmer am meiften 
auszeichnet, obgleich fie auch Solche ehren, welche große und ver- 
dienftvolle Vorfahren hatten.“ 

„Indeß fcheinen ſie doch eine ungewöhnliche, außerordentliche 
Theilnahme an ven Tag zu legen. Vielleicht überrafcht fie's, Daß 
fie Gentlemen in folchen Anzügen fehen.“ 

„O mein Gott, Sir, wie follten ſich Menfchen, welche die 
Borfteher der Bactoreien und Forts das halbe Jahr in Häute ge= 
Fleidet fehen, um Anzüge fümmern! Sie wiffen, daß es Feiertage 
und Werkeltage gibt — Zeiten für die Alltagskleidung und Zeiten 
für Federſchmuck und Färbung. Nein, nein, ihre Ueberlieferungen 
find ſchuld daran, das fie euch Beiden fo viel Intereffe widmen." 

„Ihre Ueberlieferungen? Was Eönnen diefe mit ung zu fchaffen 
haben? Wir find nie mit Indianern in Berührung gekommen.“ 

„In Beziehung auf euch und eure Väter mag dieß wohl feine 
Richtigkeit haben, nicht aber wenn andere von euren Borfahren 
zur Sprache kommen. NIS wir geftern in unſrem Nachtquartier 
Halt machten, begannen jene zwei Häuptlinge, der unterfehte Dann 
mit der doppelten Platte auf jeiner Bruft und der ältliche Krieger, 


398 


der ſchon einmal flalpirt wurde, wie ihr an feinem Schädel fehen 
könnt, von der Berrätherei ihres eigenen Stammes zu erzählen, der 
einmal ein Canada⸗Volk war. Der ältere Häuptling ſprach von 
ben Abenteuern eines Kriegspfads, welcher von Banada aus über 
das große Wafler bis nach einer Anfledlung hinunterführte, wo fle 
viefe Skalpe erwartet hatten, aber zuletzt mehr Kopfhäute verloren, 
als fie fanden. Sie trafen hier an demfelben Ort auch Susquefug, 
den biederen Onondago, wie fie ihn in unferer Sprache nennen, und 
den Dengeefe-Eigenthlimer des Landes, der einen Namen führte, 
ungefähr wie der eurige. Ihre Ueberlieferungen ſchildern letzteren 
als einen Krieger von großem Muth und vieler Gewandtheit. Ste 
halten euch für Abkoͤmmlinge defielben und ehren euch demgemäß. 
Hierin liegt das ganze Geheimniß." 

„Und ift es möglich, daß diefe ungebildeten Weſen ſo zuver⸗ 
laſfige Ueberlieferungen beſitzen?“ 

„Du mein Himmel, wenn ihr nur hoͤren koͤnntet, was ſie unter 
ih über die Lügen fagen, die ihnen aus den Zeitungen der Blaß⸗ 
gefichter vorgelefen werden, fo würdet ihr daraus ermeflen können, 
wie fehr fie die Wahrheit werth ſchätzen. In meiner Zeit habe ich 
einen Strich von vielen Tagreifen durch die Wildniß gemacht, ohne 
für meinen Pfad durch etwas Befferes geleitet zu werden, als durch 
eine indianifche Tradition über den Lauf deſſelben — durch eine 
Tradition, die mindeftens von hundert Sommern herflammen 
mußte. Sie willen Alles von euren Vorpätern und aud Einiges 
von Euch, wenn Ihr der Gentleman feid, der den biederen Onon⸗ 
dago oder die welke Tanne in feinem hohen Alter mit einem Wig- 
warn verfab und ihn noch immer mit Nahrung und Brennfloff 
verforgt." 

„Iſt's möglih? Ind von foldhen Dingen fpricht man unter 
den Wilden des fernen Weſtens?“ 

„Wenn Ihr diefe Häuptlinge Wilde nennen wollt,” entgegnete 
der Dolmetfcher einigermaßen gekraͤnkt, als er einen folchen Aus⸗ 


399 


druck auf feine beften Freunde und beharrlichen Gefährten anwen⸗ 
den hörte. „Sie haben allerdings ihre eigenen Gebräuche, wie es 
ja auch bei den Blaßgefichtern der Fall iſt; aber die invianifchen 
Sitten find nicht fo gar wild, wenn man einmal ein wenig daran 
gewöhnt if. ch erinnere mich noch — 's iſt freilich fchon lange 
ber — daß es mir gar nicht hinunter wollte, wenn ein Krieger ſei⸗ 
nen Feind ſkalpirte; als ich aber darüber nachdachte und mir fo 
den Geift des Brauche vergegenmwärtigte, begann ich zu fühlen, daß 
die Sache ganz in der Ordnung war.” 

Wir hatten uns wieder nach dem Wald in Bewegung gefebt, 
und da ich eben vor meinem Onkel herging, jo wandte ich mid 
jebt um und bemerkte mit einem Lächeln gegen ihn: 

„Es ſcheint alfo, daß diefe Gefchichte mit dem „Geift‘ auch 
an anderen Pläben, nicht nur in der Legislatur zu finden ift, und 
e8 ebenfogut einen „Geift des Skalpirens‘, als einen „Geiſt der 
Snftitutionen‘ gibt.” 

„3a, Hugh, und einen „Geiſt des Scheren‘, als Bolge defien, 
was man fehnöderweife mit der Ießteren Bezeichnung belegt. Doc) 
es wird gut fein, wenn wir uns dem Walde nicht weiter, als bie 
hieher nähern. Die Infchens, von denen ich euch erzählt habe, 
fteden dort vorn in den Büfchen und find bewaffnet; ich überlafje 
es euch, den Verkehr mit ihnen einzuleiten, wie ihr es für gut 
haltet. Ihre Anzahl mag fih auf ungefähr zwanzig belaufen.“ 

Der Dolmetfcher überfeßte feinen Häuptlingen diefe Kunde, 
worauf die rothen Männer fich eine Weile fehr angelegentlich be= 
riethen. Dann brach Prairiefeuer einen Zweig von dem nächften 
Buſch ab, hielt ihn in die Höhe, näherte fih dem Verſtecke und 
rief laut, wobei er fich der verfchiedenen Dialekte, mit welchen er 
befannt war, bediente. 

Aus dem Raffeln der Zweige ließ fich entnehmen, daß Men- 
jhen in dem Gebüfch waren; aber auf die Anfprache des Häupt- 
lings folgte Feine Entgegnung. Unter unſrem Haufen befand fich 


400 


ein Wilder, der bei dDiefem Benehmen große Ungeduld an den Zag 
legte. Er war ein großer athletifcher JowasHäuptling, der den Ras 
men Kiefelftein führte und, wie wir fpäter in Erfahrung brachten, 
wegen feiner Eriegerifchen Thaten in hohem Rufe ſtand. Wenn fid 
eine Ausfiht auf Stalpe zeigte, ließ er fih nur ſchwer zurüdhalten, 
und bei gegenwärtiger Gelegenheit benahm er fich rüdhaltslofer, 
als gewöhnlich, weil von feinem eigenen Stamme Niemand zugegen 
war, den er als Borgefehten achten mußte. Nachdem Prairiefeuer 
der Bande in dem Verſteck zweis oder dreimal vergeblich zugerufen 
batte, trat Kiefelftein vor, ſprach mit Nachdrud und Geift einige 
Worte und ſchloß feinen Aufruf durch ein ſehr wirkfames, um 
nicht zu fagen fchredliches Kriegsgeichrei. Die meiften Uebrigen 
flimmten darin ein, und dann brachen fie nach rechts und links auf, 
fich mehr gleih Schlangen, als gleich zweifüßigen Weſen nad) den 
Zäunen binftehlend, unter deren Dedung fie nach dem Walde hin- 
Ihoßen, den fie im Nu erreicht hatten. Vergeblich hatte ihnen der 
Dolmetfcher zugerufen, fie follten doch daran denken, wo fte feien, 
und ihren großen Bater in Wafhington nicht böfe machen; aber nur 
Prairiefeuer blieb auf feinem Plate, der ihn jener Kugel bloßftellte, 
wenn der vermeintliche Feind auf ihn zu feuern die Abficht hatte. 
Die Uebrigen eilten dahin wie Jagdhunde, welche eine Witterung 
gefunden haben und nun fo erpicht auf die Beute find, daß Kein 
Eintreiber fie mehr fefthalten Eann. 

„Sie erwarten Inſchens zu finden,” ſagte der Dolmetfcher mit 
der Miene der Berzweiflung, „und da hält fie nichts zurüd. Uns 
möglich können bier herum Feinde von ihnen fein, und der Agent 
wird bitter böfe werden, wenn es zum Blutvergießen koͤmmt. Ich 
würde mir zwar nicht viel daraus machen, wenn die Leute dort zu 
den Ichurkifchen Sacks und Foxes gehörten, denn bei diefem Bolt 
iſt's oft Barmherzigkeit, fie todtzufchlagen; aber anders iſt's hier 
unten, und ich muß fagen, ed wäre mir lieb, wenn dieß nicht vor⸗ 
gefommen wäre.” 


401 


Wir hatten ihn kaum ausiprechen Laffen, ala mein Onkel und 
ih auf der Landflraße vorwärts eilten, bis wir den Wald erricht 
hatten. Präriefeuer begleitete ung, und da er aus unfrer Bewegung 
zu entnehmen glaubte, daß jetzt Alles recht fei, fo erhob er gleich- 
falls ein wildes Geſchrei, als wolle er zeigen, Daß er es auch koͤnne 
und der Mangel an einem Fräftigen Organ nicht Schuld gewefen 
jei, wenn er fich bisher fumm verhalten hatte. Der Weg machte 
an dem Punkte, wo er in den Wald eindrang, eine Krümmung 
und war, wie bereits erwähnt, mit Gebüfch gefäumt. Diefe beiden 
Umftände machten es unmöglid, wahrzunehmen, was hinter den 
Gouliffen vorging, bis wir die Beugung erreichten, wo Die Wagen 
Halt gemacht hatten. Seht aber that fich der ganze Anblid mit 
einemmal in all feiner Großartigfeit vor und auf. 

Die ordnungslofe Flucht einer „großen Armee” hätte kaum 
malerifcher fein Eönnen. Die Straße war mit Fuhrwerken über- 
füllt, die, um ung eines militärifchen Ausdruds zu bedienen, in 
vollem Rüdzug begriffen waren, oder, wie man's in der gemeinern 
Redeweiſe nennt, davon holperten. Jede Peitſche wurde auf's Eif- 
rigfte geſchwungen, jedes Pferd befand fich in vollem Galopp, und 
die Hälfte der Gefichter waren rüdwärts gekehrt, während Die 
Weiber mit ihrem Gekreiſch das Kriegsgefchret der Wilden accom- 
pagnirten. Was die Infchens betraf, jo hatten fie inftinktartig Die 
Wälder verlaflen und flüchteten fih firaßabwärts mit einer Eile, 
der man anlehen Tonnte, wie jehr e8 ihnen darum zu thun war, 
für einen ſichereren Rüdzug offenen Grund zu gewinnen. Einige 
waren in die Wagen gefprungen und bedrängten nun die tugend⸗ 
haften Weiber und Töchter der ehrenwerthen Freifaflen, die ſich 
verfammelt Hatten, um die Mittel zu berathen, wie fie mich um 
mein Eigenthum betrügen follten. Doc warum verweilen wir bei 
dieſer Scene, fintemal ja die Heldenthaten diefer Infchens im 
Zauf der lebten ſechs Jahre den zureichendften Beweis geliefert 
haben, daß fie fich im nichts auszeichnen, als im Davonlaufen. 

Ravensneft AR 


402 


Sie find Helden, wenn ein Dußend über einen einzelnen Mann 
berfallen Tann, um ihn zu theeren und zu federn; ihre Tapferkeit 
iſt groß, wenn hundert gegen fünf oder ſechs fliehen, und bin und 
wieder koͤmmt es ihnen auch auf einen Mord nicht an, wenn das 
Opfer Sicherheits halber mit fünf oder ſechs Kugeln bearbeitet 
werden kann. Schon die Feigheit diefer Schurken follte fie zum 
Abfcheu des ganzen Landes machen; denn der Hund, welcher nur 
in Nudeln zu jagen den Muth hat, ift im Grunnde doch nur ein 
erbärmlicher Köter. 

Sch muß übrigens noch eines weiteren Zuges in dem Gemälde 
Erwähnung thun. Holmes und Shabbakuk bildeten den Nachtrab 
und peitfchten auf ihr unglüdliches Thier los, als ob feine Ver⸗ 
wender — ich wage es nicht, fie Herren” zu nennen, da ich der 
Ariftofratie befchuldigt werden Könnte, wenn ich mich in diefem 
Zeitalter der allgemeinen Freiheit eines jo anſtoͤßigen Wortes be⸗ 
dienen wollte, während Dagegen das eben von mir gebrauchte Wort 
für den gegenwärtigen Anlaß ganz befonders paßt — als ob feine 
„Verwender“ etwas in „Little Neeft" zurücgelaffen hätten und 
deßhalb in aller Haft dahin zurüdeilten, eh’ es in andere Hände 
file. Der alte Holmes gudte zurüd, als hebten ihn die Stipula⸗ 
tionen von vierzig Pachtverträgen und als fei der, „Geift der Inſti⸗ 
tutionen angeführt von zwei Gouverneuren und „dem ehrenwerthen 
Gentleman von Albany” in voller Jagd auf ihn begriffen. In’ weit 

kürzerer Zeit, als dazu erforderlich wurde, diefen Bericht nieder- 
zufhreiben, war der Weg gefäubert, fo daß mein Onkel, ich und 
Präriefeuer fich eines völlig ungeftörten Beſitzes der Landftraße er⸗ 
freuten. Lepterer fließ ein fehr bedeutungsvolles „Hugh“ aus, als 
fih der Teßte Wagen in einer Staubwölfe:vor unfern Blicken verlor. 

Wir durften nicht lange warten, bis unfer Stamm oder unfere 
Stämme — wie ich mich richtiger ausdrüden muß, — uns nach- 
kamen und fih an der Stelle, wo wir fanden, in dem Wege ſam⸗ 
melten. Der Sieg war vollſtändig, obichon er nicht mit. Blut 


403 


hatte erfauft werden müſſen. Die wilden Indianer hatten nicht 
nur die tugendhaften und von der Ariftofratie viel bedrüdten Ins 
ſchens total gefchlagen, fondern auch in zwei Mitgliedern der Bande 
eben jo viele Pröbchen von Zugend und Bedrüdung gefangen 
genommen. Die Art, wie fih die Gefangenen benahmen, war 
fo bezeichnend und ausdrucksvoll, daß es ſchien, Kiefelherz, in 
defien Hände fie gefallen waren, halte ihre Scalye nicht einmal 
des Nehmens werth, da er es fogar verfehmäht hatte, fie zu ent⸗ 
waffnen. Da flanden die beiden Balico-Bündel gleich in Laden 
gehüllten Kindern, ohne daß etwas jene natürliche Sreiheit, deren 
fih ihre Partei fo gerne rühmt, verrieth, als ihre Beine, welche 
fih als ein dernier ressort noch recht gut bewegten. Mein Onfel 
nahm jetzt eine etwas gebieterifche Haltung an und befahl dieſen 
Kerlen, ihre Verfappung abzunehmen; aber er hätte eben fo gut 
zu den Eichen oder Ahornbäumen fagen Fönnen, fie follten vor 
Umlauf der gehörigen Zeit ihre Blätter abſchütteln — denn Feiner 
von beiden that nur einen Rud, um zu gehorchen. 

Der Dolmetfcher war, obſchon ihn Die Indianer in ihrem 
Dialekt Vielzunge nannten, ein Mann von überrafchend wenigen 
Worten, namentlich wenn man bei einem Anlaffe, wie der gegen- 
wärtige war, feinen Beruf in's Auge faßte. Er ging auf einen der 
Gefangenen zu, entwafinete ihn, riß ihm die Calico-Kapuze vom 
Kopf und förderte fo das Heinlaute Geficht von Brigham, Tom 
Millers neidifchem Arbeiter, an's Licht. Die „Hughs!" die den 
Indianern entwifchten, waren jehr ausdrudsvoll, als ſie fanden, 
daß nicht nur ein Blaßgeficht unter der Hülle zum Vorſchein Fam, 
fondern noch obenvrein ein Gefiht, das man fogar noch etwas 
bläffer als gewöhnlich nennen konnte. Bielzunge hatte einen 
hübſchen Antheil von Grenz. Schelmerei in fi) und begann nach⸗ 
gerade zu begreifen, wie die Sachen flanden. Er fuhr mit der 
Hand über Joſhs Kopf und bemerkte kaltblütig: 

„In Zowa würde man, den? ich, dieſen Scalp wohl höher 

WR" 


404 


anfchlagen, als er, wenn man der Sache auf den rund geht, wirk⸗ 
lich werth if. Na, lapt einmal fehen, wen wir da haben.” 

Den Worten folgte eine entiprechende Handlung. Der Dol- 
metjcher bemächtigte fi der Kapuze des andern Gefangenen, 
brachte fie Übrigens nur mit Mühe weg, da der Verkappte fich aus 
Leibesträften wehrte. Er bedurfte fogar noch des Beiftands zweier 
jüngeren Häuptlinge, welche hervortraten, um ihm zu helfen. Ich 
ſah voraus, was kommen mußte, da ich fchon längft den Zwidel 
bemerkt hatte; aber man denke fih das Erftaunen meines Onfelg, 
als er Senefa Newcomes wohlbefanntes Geficht aus dem Calico 
fih herauswickeln fah! 

Wie überaus gemein fich diefes Gefiht ausnahm, auf wel- 
chem der „gemifchte Zumult“ — wie man’d nennt — von Wuth 
und Scham deutlich zu lefen war. Das erftere Diefer Gefühle be- 
hauptete jedoch die Oberhand, und wie e8 nur zu häufig in Fällen 
militärischen Unſterns zu gehen pflegt, juchte der Verunglückte, flatt 
feine Gefangennehmung den Umftänden, der Tapferkeit feiner Feinde 
oder einem eigenen Verſehen zuzufchreiben, feine Schmach dadurch 
zu mildern, daß er fie auf feinen Kameraden abzuladen fich mühete. 
In der That erinnerte mich die Art, wie diefe beiden Männer an 
einander geriethen, nachdem man ihnen ihre Kapuzen abgenommen 
hatte, an zwei Kampfhähne, die man drei Fuß von einander aus 
ihren Säden gelaffen hat — nur mit dem Unterfchiede, daß Tei- 
ner von beiden Frähte. 

„Die Schuld Liegt rein an dir, du memmenhafter Spibbube, ” 
rief Senefa entbrannt, denn die Scham hatte fein Geſicht mit 
tiefem Scharlach übergofien. „Wäreft du auf deinen Beinen ge= 
blieben und hätteft du in deiner Haft, zu entkommen, mich nicht 
niedergerannt, fo wäre mir wohl mit den Uebrigen der Rückzug 
geglückt.“ 

Dieſer Angriff war zu viel für Joſhua, und die Rohheit, das 
Ungeftüm, um nicht zu ſagen, die Ungerechtigkeit deſſelben gab ihm 


405 


Muth zur Antwort. Wir brachten nämlich ſpäter in Erfahrung, 
Neweome ſei in der Eile feiner Flucht geftürzt, ohne daß Brigham 
auch nur die entferntefte Schuld daran trug, fintemal ihn diefer 
nur am Wiederaufftehen Hinderte, indem er ſelbſt auch über ihn 
bineinpurzelte. Während fi) beide in diefer unbequemen Lage 
befanden, waren fle in die Hände ihrer Feinde gefallen. 

„Dh, laßt nur Ihr mich ungefhoren, Squire Newcome,“ 
antwortete Joſhua mit der gleichen Entfchiedenheit in Ton und 
Weſen. „Euch kennt man ja landauf und landab.“ 

„Wer fennt mich? — was könnt Ihr gegen mich oder meinen 
Charakter vorbringen?" fragte der Rechtsgelehrte mit troßiger 
Miene. „Ich will doch den fehen, der meinem Charakter etwas 
nachreden Tann.“ 

Dieß war fein genug, wenn man in Betracht zog, daß der 
Kerl thatfächlich in Begehung eines mit Gefängnißftrafe belegten 
Berbrechens betreten worden war, obfchon ich vermuthe, daß er 
diefe Schwierigkeit im moralifchen Sinne wohl zu überwinden im 
Stand war, wenn man fein Vergehen dahin erklärte, er habe nur 
die Menfchenrechte und den „Geift der Snftitutionen” vertheidigen 
wollen. Diefe Herausforderung war jedoch zu viel für Brigham’s 
Geduld, und da er mittlerweile die Weberzeugung gewonnen hatte, 
daß es wohl fchwerlich auf ein Skalpiren hinausgehen werde, fo 
wandte er fih gegen Senefa und rief mit einer Steigerung feines 
Muths, die man wohl Frechheit nennen Eonnte: 

„Sa, Ihr feid mir ein fauberer Freund des armen Mannes 
und des Bolfs, wenn man Euch auf den Grund geht. Jedermann 
in der Gegend, der in Geldverlegenheit ift, weiß, was er in Euch 
hat, Ihr verdammter Shaver *).“ 

Die letzten Worte waren kaum ausgeſprochen, als Senekas 
Fauſt mit einer Macht auf Brigham's Naſe niederfiel, daß dieſes 


) Eigentlich: Bartſcheerer; dann in übertragener Bedeutung: Plünderer, Wu⸗ 
erer. 


406 


Drgan reichlich zu biuten anfing. Mein Ontel hielt es nun für 
an der Zeit, fich einzumengen, und wies den aufgebrachten Rechts⸗ 
gelehrten mit Würde zurecht. 

„Barum hat er mich einen verdammten Shaver genannt,“ 
entgegnete Senefa noch immer in dem Feuereifer feines Zorns. 
„Dieß laß ih mir von Niemand gefallen.” 

„Was liegt denn fo Arges in einer derartigen Befchuldigung, 
Mr. Newcome? Ihr feid ein Mitglied des Advokatenftandes und 
folltet alfo die Gefepe Eures Landes Fennen, fo dag man Euch 
nicht erft follte fagen müfjen, das höchfte Tribunal des Staates 
habe dahin entjchieden, daß in dem Nusdrud Shaver keine In⸗ 
jurie liege. Manche ehrenwerthen Mitglieder diejer gelehrten Kör- 
perſchaft fcheinen fogar im Gegentheil der Anficht zu fein, daß in 
einer ſolchen Bezeichnung eher ein Lob, eine Empfehlung liege. 
Ich Ihäme mich Eurer, Mr. Newcome — wahrhaftig, man muß 
für Euch roth werden.” 

Seneka murmelte etwas vor fih bin, und ih glaubte die 
Worte verftanden zu haben: „der Zeufel hole den Court of 
errors," oder „der Court of errors" folle nad) irgend einem 
fehr fchlimmen Play fahren, den ich nicht nennen mag. Indeß 
will ich doch nicht die Behauptung auf mich nehmen, daß ein 
anftändiger Mann fich wirklich diefer unehrerbietigen Sprache ge= 
gen eine fo hohe Gerichtsbehörde bedient habe, obſchon man 
einem Menfchen in der Wuth bisweilen Einiges zu gut halten 
muß. Mein Onkel war nun der Anficht, es fei Zeit, dieſem 
Auftritt ein Ende zu machen, weßhalb er, ohne fich zu weite 
ren Erklärungen herabzumwürdigen, Bielzunge bedeutete, er fei 
bereit, Die Häuptlinge an den Ort zu führen, nach dem fie fo 
angelegentlich verlangten. 

„Was diefe beiden Inſchens betrifft," fügte er bei, „fo können 
wir durch ihre Fefthaltung Feine Ehre erholen, und da wir wiſſen, 
wer fie find, fo Eönnen fie jederzeit Durch die Sherifs-Gehülfen oder 


407 


Conſtabler aufgegriffen werden. Es verlohnt ſich kaum der Mühe, 
und auf dem Marfch mit ſolchen Wichten zu beläftigen.” 

Die Häuptlinge gaben zu diefem Borfchlag gleichfalls ihre 
Zufimmung, und wir verließen insgefammt die Wälder, während 
Seneky und Joſhua auf der Straße zurückblieben. Wir erfuhren 
fpäter, daß wir ihnen faum den Rüden zugewandt hatten, als der 
Leptere über den Erfteren herfuhr und ihn dermaßen zerwaltte, daß 
Senefa zuletzt zugab, er fei nicht nur ein „Shaver,” fondern auch 
ein „verdammter Shaver” obendrein. Bon jolhem Schlag alfo 
waren die Leute, welche, wenn es nach dem Wunſche der verbien- 
deten Antiventers New Ports gehen jollte, im focialen Sinne an 
die Stelle der alten Grundbefiper des Landes zu treten berufen 
waren. Syn der That, fie würden eine faubere Dedgarbe für den 
Schober des Gemeinwejens abgeben, und unter ihrem Schirme 
müßte das Getraide wunderbar gut befchüßt fein. Es wäre ficher- 
ih der Mühe werth, zu hören, wie Kerle von diefem moralifchen 
Kaliber ihre Verträge deuteten, und man könnte eine nüßliche, 
wenn auch empfindliche Lehre Daraus ziehen, wenn man ihnen ein 
Jährchen freie Hand ließe, nur um zu fehen, wie Biele — nach⸗ 
dem Die Angelegenheiten in den alten natürlichen Gang zurückge⸗ 
bracht find — noch wünfchen würden, gleih dem Hund zu dem 
Geſpieenen oder gleich dem Schwein nach der Schlammpfüße zu- 
rüdzufehren. 

Nachdem mein Onkel dem Dolmetfcher einige Weifungen ertheift 
hatte, befliegen wir beide wieder unjern Wagen und fuhren den 
Weg hinauf, es den Indianern überlaffend, uns zu folgen. Zum 
Sammelplab beftimmten wir das Neft, wohin wir nun unverweilt 
in unfrer wahren Eigenfchaft zu gehen entjchloffen waren. Als wir 
bei der Rektorei anlangten, machten wir Halt, um und nach dem 
Befinden von Mr. und Miß Warren zu erkundigen. Ich war jehr 
erfreut, als ich erfuhr, daß fie fich bereits nach dem Nefte begeben 
hatten, um daſelbſt ein Mittagmahl einzunehmen. Diefe Kunde 


408 


diente nicht dazu, der Eile von Millers Pferd Abtrag zu thun — 
oder vielmehr meines Pferdes, wie ich beffer jagen follte; denn ich 
bin der wirkliche @igenthümer von Allem auf der Neftfarm und 
werde es wahrfcheinlich bleiben, wenn nicht „der Geiſt der Inſti⸗ 
tutionen® dort fo gut, wie an andern Pläßen mein Befigrecht zer⸗ 
flört. Im Lauf von einer halben Stunde erreichten wir den Rafen 
und machten an der Thüre Halt. Man wird fich erinnern, daß fich 
die Indianer im Befiß unferer Perücken befanden, denn wir beide 
hatten fle in ihren Händen gelaffen, weil wir ung diefer Artikel nicht 
länger zu bedienen gedachten. Ungeachtet unjrer befremdlichen Tracht 
wurden wir doch, nachdem wir Die eben erwähnten Berkleidunge- 
mittel abgelegt hatten, augenblidlidh erkannt, und im Nu lief der 
Ruf dur das Haus und durch die Gründe, daß „Mr. Hugh ange- 
Tangt fei." Ich geitehe, das ich fehr gerührt war über die Theil⸗ 
nahme, welche die meiften Anwefenden, mochten es nun Dienft- 
boten oder Andere fein, an den Zag legten, als fie mich wieder in 
guter Gejundheit, obfchon nicht gerade in der zierlichfien Außen⸗ 
feite vor fich fahen. Auch mein Onkel wurde aufs freundlichfte 
bewillkommt, und die erften paar Minuten fühlte ich mich wahrhaft 
oludlich, ohne daß ich auch nur entfernt an das dachte, was mir 
fo vielen Anlaß zum Berdruß gab. 

Obgleich meine Großmutter, meine Schwefter und Mary 
Warren recht wohl wußten, was der Ruf: „Mr. Hugh ift ange» 
fommen!" bedeutete, fo kamen fie doch unverweilt auf die Piazza 
heraus. Mr. Warren hatte die Ereigniffe des Tages, foweit fie 
ihm befannt waren, berichtet; aber auch diejenigen, welche unfer 
Geheimniß Tannten, waren nicht wenig erflaunt darüber, daß wir 
ohne Perücken und in unferer eigentlichen Wefenheit wieder zurüd- 
kehrten. Was mich betraf, jo gab ich genau Achtung auf die Art, 
wie die vier Mädchen mich begrüßten. Martha flog mir an den 
Hals, ſchlang ihre Arme um mich und Füße mich ſechs- oder acht» 
mal, ohne inne zu halten. Zunächk kamen Miß Coldbrooke, auf 


409 


deren Arm fih Anne Marston lehnte — beide mit heiterem Lächeln 
und ladyartigem Anftand, obſchon fie ihre Meberrafchung nicht zu 
verbergen vermocdhten. Sie drüdten ihre Freude aus, mich zu fehen, 
und erwiederten meine Begrüßung freimüthig, wie es unter alten 
Freunden üblich ift; indeß entging mir nicht, daß mein Anzug 
durchaus nicht ihren Beifall hatte. Mary blieb lächelnd, fchüchtern 
und erröthend hinter den übrigen Mädchen ſtehen; übrigens ge= 
nügten ein paar Blide von mir, um mir Die Ueberzengung zu ge⸗ 
ben, daß ihr Willkomm gewiß eben fo aufrichtig war, wie der 
meiner älteren Freundinnen. Mr. Barren war erfreut, ung offen 
begrüßen zu können und nun Gelegenheit zu finden, Diejenigen 
näher kennen zu lernen, deren Rückkehr er fchon feit drei oder vier 
Jahren mit Sehnfucht erwartet hatte. 

Die erforderlichen Aufklärungen nahmen nur einige Minuten 
in Anfpruch, da fie von denen, welche unfer Geheimniß theilten, 
größtentheils fchon gegeben waren. Meine liebe Großmutter und 
Patt beftanden nun darauf, daß wir und nad) unfern alten Zimmern 
verfügten und eine Kleidung anlegten, welche für unfere Stellung 
befier paßte. Wir hatten eine große Anzahl von Sommerkleidern 
zurüdgelaffen, und unjere Garderobe war bereits an dieſem Morgen 
unterfucht worden, weil wir derfelben vielleicht in Bälde benöthigt 
fein konnten. Der Wechjel unfrer Anzüge hatte daher Feine große 
Zögerung zur Folge. Ich war allerdings feit meiner Abreiſe et- 
was beleibter geworden. Da übrigens der Schneider meine Klei⸗ 
der urfprünglich nicht knapp auf den Leib angemeffen hatte, fo fand 
ih Feine Schwierigkeit, mich berauszuftaffiren. Ich fand einen 
fhönen blauen Rod, der dieſem Zwede trefflich entſprach, nebft 
Welten und Pantalons ad libitum. In Europa Eleidet man fich 
viel wohlfeiler, als in Amerika, weßhalb der reifende Amerikaner 
jelten eine bedeutende Garderobe mit fih führt — eine Erfah: 
rungsregel, die mein Onkel fein ganzes Leben über beobachtet hatte. 
Außerdem hatte Feder von uns in dem Neſt einen Kleidervorrath, 


410 


der nie von dort entfernt wurde. In Folge diefer Heinen wirth- 
lichen Vorſichtsmaßregeln gebrach es weder mir, noch meinem 
Onkel an den Mitteln, uns in Betreff der Außenfeite für. diefen 
abgelegenen Landestheil wenigftens mit andern unferer Claſſe auf 
eine gleiche Stufe zu ſtellen. 

Die Zimmer für mich und meinen Onkel waren ganz nahe bei 
einander im nördlichen Flügel des Haufes oder in jenem Theile, 
welcher eine Ausficht nach den Feldern unter der Klippe, nach der 
waldigen Schlucht und nad) dem Wigwam des „bieder Onondago“ 
bot. Die Hütte des Lebteren war deutlich von dem Fenfter meines 
Ankleidezimmers aus zu fehen, und ich fchaute eben Ins Freie hin⸗ 
aus, Betrachtungen anftellend über die Geftalten der beiden alten 
Knaben, die ihrem Nachmittagsbrauch gemäß in ver Sonne faßen, 
als ein Pochen an der Thüre das Erfcheinen John's ankündigte. 

„Run, Zohn, mein guter Freund,“ fagte ich lachend, „es 
ſcheint, Daß, wo es das Erkennen eines alten Bekannten betrifft, 
eine Perücke für Euch einen großen Unterfchied ausmadt. Gleich⸗ 
wohl muß ich Euch für die gute Bewirthung danken, die Ihr mir 
in der Eigenfchaft eines Mufltanten zu Theil werden ließt.“ 

„Ihr wißt wohl, Mr. Hugh, daß ih Euch von Herzen gern 
bediene, mögt Ihr kommen, wie Ihr wollt. Es if die über- 
rafchendfle Verblendung gewejen, Sir, die mir je vorkam; aber 
gleichwohl meinte ich die ganze Zeit über, Ihr fetet nicht ganz dag, 
was Ihr zu fein fchient, und ich fagte auch zu Kitty, fobald 
ih die Treppe hinunter war: „Kitty,“ fagte ich — dieſe zwei 
Haufirer find juft die ordentlichften Hauflrer, die ich je in dieſem 
Land gefehen habe, und es ſollt' mich nicht wundern, wenn’s ihnen 
fchon einmal beffer ergangen if. Doch jebt habt Ihr die Anti- 
renters mit eigenen Augen gejehen, Mr. Hugh. Was haltet Ihr 
von ihnen, wenn ich mir die Freiheit nehmen darf, eine ſolche 
Frage zu ftellen?" 

„So ziemlich das, was ich von ihnen hielt, ehe ich fie gefehen 


411 


hatte. 's iſt eine Bande von Kerlen, die über Freiheit ſchreien und 
im gleichen Augenblide alle ihre Kräfte aufbieten, um die Ges 
feße in Mißkredit zu bringen und ihre Selbftfucht für Patriotis⸗ 
mus auszugeben. Doc eben fo finden wir's bei denen, welche 
ihnen in der Regierung des Staats die Stange halten und die 
gleichen Ziraden vorbringen, obfchon fie dabei nichts im Auge ha⸗ 
ben, als das Gewinnen von Stimmen. Wären die Pächter nicht 
ftimmberechtigt, fo hätte diefe Frage nie auch nur entfernt in Ans 
regung gebracht werden können. Doch ich jehe, jene beiden alten 
Burfche, Jaaf und Sus laſſen ſich's noch immer wohl fein.” 

„sa wohl, Sir, und ich kann mich nicht genug darüber wun⸗ 
dern. Beide find fchon Antiquitäten gewejen — wie man in Eng⸗ 
land fagt — als ich in dieſes Land kam, und damals waret Ihr 
noch gar nicht einmal geboren, Mr. Hugh; 's ift ſchon ein Men» 
fchenalter her. Da fiben fie nun, Sir, Zag aus Tag ein, und 
man Tönnte fie für Monumente aus vergangenen Zeiten anfehen. 
Der Nigger" — Sohn hatte fich ſchon lange genug im Lande auf- 
gehalten, um unfere heimifchen Ausdrüde Tennen zu lernen — 
„der Nigger wird mit jedem Jahr Häßlicher und häßlicher. Dieß 
ift faft der einzige Unterfchted, den ich an ihm bemerken Tonnte, 
. während ich glaube, daß der Indianer nur fchöner und ſchöner 
wird, Er ift der fchönfte alte Gentleman, Sir, den ich weit 
und breit kennen gelernt habe.“ 

„Ein alter Gentleman!" welch’ eine ausdrudsvolle Be⸗ 
zeichnung war dieß nicht in dem gegenwärtigen Kalle! Selbft in 
diefen „ariftofratifchen” Tagen, wo es mehr „Gentlemen“ gibt, als 
Brombeeren, würde kein Menih daran gedacht haben, Saaf einen 
„alten Gentleman” zu nennen,. während alle Welt geneigt fein 
mußte, Susquefus in diefer Weife zu bezeichnen. Der Onondago 
war wirklich ein Gentleman in der beiten Bedeutung dieſes Wor⸗ 
tes, obſchon ihm allerdings gewaltig viel von dem blos conventio= 
nellen Zon fehlte Was John betraf, fo-würde er fih mir 


412 


gegenüber nie biefes Wortes bedient haben, wenn ſich's nicht um 
einen Fall gehandelt hätte, in welchem er der Meberzeugung lebte, 
die in Sprache ftehende Perfon habe Anfpruh auf eine folche 
Bezeichnung. 

„Mit feinem grauen oder weißen Kopf, mit feinen blienden 
Augen, feinen ruhigen Zügen und feiner ausdrudsvollen Haltung 
iſt Susquefus in der That ein großartiger Anblick,“ entgegnete 
ih, „während ich zugleich geſtehen muß, daß Jaaf nicht unter 
bie Schönheiten gezählt werden Tann. Wie kommen denn die bei- 
den alten Männer mit einanver aus?” 

„Es gibt viel Hader unter ihnen, Sir — das heißt der Nig- 
ger ift flreitfüchtig, obfchon der Indianer zu weit über ihm fleht, 
um auf das zu achten, was er fagt. Auch will ich nicht jagen, 
daß Mop wirklich eine unverträgliche Perſon fei, Sir, denn er hat 
die größtmögliche Achtung vor feinem Freund; gleichwohl aber 
übertreibt er in der erftaunlichften Weiſe — nun, ich glaube, daß 
dieß in der Natur eines Niggers liegt." 

„Hoffentlih bat man ihnen doch während meiner Abwe- 
fenheit nichts abgehen laſſen. Ich zähle darauf, daß man für 
ihren Zifh und für ihre fonftigen Bequemlichkeiten geeignete 
Sorge trug?“ 

„Laßt Euch dieß nicht kümmern, Sir, denn fo lange Mrs. 
Littlepage lebt, fehlt es hieran nit. Sie liebt die alten Männer, 
als wäre fle ihr Teibliches Kind, und hat fie mit Allem verfehen, 
was fie möglicherweife brauchen koͤnnen. Betty Smith, Sir — 
Ahr erinnert Euch doch noch an Betty, die Wittwe des alten Kut- 
ſchers, welcher ftarb, als Ihr auf dem College waret — num, 
Betty Smith hat während der lebten vier Jahre nichts Anderes 
zu thun gehabt, als nach den beiden Greifen zu jehen. Sie hält 
in der Hütte Alles in Ordnung, fegt fle zweimal in der Woche, 
beforgt die Waͤſche, näht für die alten Männer, Tocht für fie und 
aßt’8 ihnen an Feiner Bequemlichkeit abgeben. Sie hat ihre 


- 


413 


Wohnung hart nebenan in der andern Hütte, Sir, fo daß ſie gleich 
bei der Hand iſt.“ 

„Sch freue mich, dieß zu hören. Verirrt fich hie und da einer 
von den alten Knaben bis nach dem Nefthaus herunter, Sohn? 
Ehe ich auf Reifen ging, waren fie die täglichen Gäfte im Haus.” 

„Diefer Brauch ift ein bischen abgefommen, Sir, obſchon 
fih der Nigger noch ziemlich oft einftellt. Iſt das Wetter gut, fo 
kann man ihn ein= oder zweimal in der Woche im Reft ſehen. Er 
macht dann in der Küche feinen Befuch und bleibt.oft den ganzen 
Morgen dort ſitzen; dann erzählt er die ärgften Gefchichten, Sir 
— ha, haha — ja, Sir, die ärgften Gefchichten, die man nur 
je gehört hat." 

„And welcher Art find denn diefe Erzählungen‘, dag Ihr fie 
fo beluftigend findet?" 

„Er ift der Meinung, Sir, Alles im Land gehe zu Grunde 
und ſei viel fchlechter, al® zur Zeit feiner jüngeren Jahre. Die 
Truthühner feien nicht mehr fo groß, Sir, und das Geflügel jei 
heutzutag nur ärmliches Zeug. Auch mit den Hämmeln iſt er 
nicht zufrieden, weil fie nicht mehr fo fett werden, Str, und mit 
dergleichen Ungeheuerlichkeiten treibt er's fort." 

Sohn lachte hier abermals herzlich, obfchon man ihm recht 
gut anmerken Fonnte, daß folche Vergleichungen durchaus nicht 
nach feinem Gefchmade waren. 

„Und Susquefus — fragte ih — ift er auch fo tadelfüchtig 
wie fein Freund ?" 

„Sus koͤmmt nie in die Küche, Sir — nie. Er weiß, daß 
alle Leute von Stand und von befjeren Klafien durch das große 
Portal eintreten, weßhalb er fih nie eines anderen Eingangs be⸗ 
dient, weil er ſelbſt zuviel von einem Gentleman an fich hat. Nein, 
Sir, ich habe Sus in meinem Leben nie in der Küche oder in dem 
Bedientenzimmer gefehen; auch läßt Mrs, Littlepage feinen Tiſch 
nirgends anders decken, als in den oberen Zimmern oder auf der 


414 


Piazza, wenn fie ihn mit etwas Abfonderlichem zu tractiren winfcht. 
Der alte Gentleman hat viele Meberlieferungen, wie er's nennt, 
im Kopf, Sir, und kann gewaltig viele Gefchichten aus alten 
Zeiten erzählen, aber fie handeln nicht von Truthühnern, Roffen, 
Gartenerzeugniflen und dergleichen Dingen, an denen Yap in fo 
verdrießlicher Weife mädelt.“ 

Ich dankte nun Sohn wiederholt für die Höflichkeit, die er 
mir ald Muſikanten erwiefen, und entließ ihn, um mich meinen 
Onkel anzufchließen. Als wir das Eleine Befuchzimmer betraten, 
wo uns die ganze Befellfchaft erwartete, ehe mir zu Tifch gingen, 
entfuhr Allen ein gemeinfamer Ausruf freudiger Ueberrafchung. 
Martha küßte mich abermals und erklärte, daß ich jebt wieder 
Hugh ſei; fie Habe immer gedacht, daß ich jo ausfehen müffe — 
fie erkenne jet ihren Hugh in mir an, und was dergleichen mehr 
war. Meine Großmutter trat an meine Seite, ftreichelte mir das 
Haar und blickte mir mit thränenwollen Augen in’s Gefiht, da 
meine Züge fie an ihren früh verftorbenen Erfigebornen erinner- 
ten. Was die beiden anderen Damen, die Mündel meines Onkels 
Ro betraf, fo benahmen fie fich mit Lächelnder Sreundlichkeit und 
ſchienen geneigt zu fein, den alten freundlichen Verkehr wieder auf- 
zunehmen, während Mary Warren fich noch immer in den Hinter- 
grund hielt, obſchon ich ihrem befcheidenen, halb abgewandten 
Blick und ihren glühbenden Wangen anzufehen glaubte, daß fie mit 
dem Glüd ihrer Freundin Patt eben jo innig, vielleicht noch in⸗ 
niger ſympathiſirte, als irgend eines von den anderen Mädchen. 

Bevor wir zu Tifch gingen, ſchickte ich einen Diener nach dem 
Dachgiebel hinauf, damit er fih nach meinen rothen Freunden, 
welche die Landftraße einherfommen mußten, umſehe. Er kam mit 
der Meldung zurüd, daß fie die Straße entlang zögen und wahr- 
ſcheinlich im Lauf von einer halben Stunde das Neft erreichen 
würden; fie hätten eine Weile Halt gemacht und, fo viel er ver⸗ 
mittelt feines Fernglaſes habe entdecken koͤnnen, ihre Gefichter 


+ 


415 


gemalt, desgleichen auch in anderer Weile ihre Toilette geordnet, 
un fih für die erwartete Begegnung vorzubereiten. Nach diefer 
Mittheilung febten wir uns in der Abficht zu Tiſch, die Häupt⸗ 
linge zu empfangen, fobald fie eintreffen würden, 

Das Mahl wurde in Frohfinn und Heiterkeit begangen. Der 
Zuftand des Landes und die Entwürfe meiner Pächter waren für 
den Augenblick vergeflen, denn die Unterhaltung befaßte fich nur 
mit jenen näher liegenden Intereſſen und Gefühlen, welche nas 
turgemäß zu folher Zeit vorzugsweife unjer Inneres anregten. 
Endlich warf meine liebe Großmutter jcherzhaft die Bemerkung hin: 

„Du mußt einen wahren Inftinkt für die Entdedung ver- 
fhwiegener Perfonen haben, Hugh; denn Du hätteft in der 
That Dein Bertrauen nicht beffer anbringen Eönnen, ald es heute 
Morgen während Deiner Fahrt nach dem Dorfe der Fall war.” 

Mary erröthete wie ein italienifcher Abendhimmel und fchlug 
die Blicke zu Boden, um ihre Verwirrung zu verbergen. 

„Sch weiß nicht, theure Großmutter, ob meinerjeits nicht der 
Grund in einer bloßen Eitelkeit Tag,” Iautete meine Antwort; 
„denn ich geftehe, daß es mir in hohem Grade zumider war, 
in Miß Warren's Augen als ein gewöhnlicher Muſikant zu er⸗ 
ſcheinen.“ 

„Ei, Hugh,“ fiel die naſeweiſe Patt ein, „hatte ich Dir nicht 
vorhin ſchon gejagt, daß fie Dich für einen ſehr ungewöhnlichen 
Mufitanten halte? War es ja doch Dein Klötenfpiel, Über das 
fih Miß Warren in ein fo beredtes Lob ergoffen hat.” 

„Martha!“ | 

Diefer Ausruf von Mary Warten in halb vorwurfsvoller 
Dämpfung befundete, daB das holde Mädchen fich wirklich beflom- 
men zu fühlen anfing, und meine achtſame Großmutter gab der 
Unterhaltung in fo gefchieter Weife, wie man dieß nur von der 
gereiften Lebenserfahrung einer gebildeten Dame erwarten kann, 
eine andere Wendung. Sie benahm ſich ganz einfach dabei, indem 


416 


fe Hlo8 Mr. Warren eine Schüffel Gemüs anbot; aber die Art, 
wie fie es that, wechjelte mit einemmale das Gefprächsthema. 

Während des ganzen Diners konnte ich mich der Ueberzeugung 
nicht entichlagen, daß zwifchen mir und Mary Warren ein ſtum⸗ 
mer geheimnißvoller Verkehr flattfand, der wahrfcheinlih den 
Mebrigen entging, unter uns beiden aber zum vollen Bewußtſein 
kam. Sa, e8 mußte fo fein, denn dieſes Bewußtſein drüdte 
ih unverkennbar in Mary’s Erröthen und fogar in ihren abge- 
wandten Augen aus, fo daß felbi die beredteſte Sprache nicht 
überzeugender auf mich hätte wirken Tönnen. 


Neunzehntes Kapitel. 


„Dem Dulder Job gleich der daB Böſe mie, 
|m m- Aeußern und in der Bewegung u 
er Zweifel 
Bon allen, deren Hand den — 
Beim Haar erfaßte, du der ärgfle Teufel.“ 


Rothjade. 


Obſchon durch die Befreiung Amerika's von der Herrſchaft 
Englands in der Denk- und Lebensweife unferer Landsleute ein 
unenvlicher Fortfchritt erzielt worden ift, fo bleibt doch noch fehr 
viel zu thun übrig. Freilich, wenn man nur auf vierzig Jahre 
zurüdichaut, jo Fann man nicht verfennen, welche große Wechfel in 
gar vielen Dingen eingetreten find, und es ſteht zu hoffen, daß Die- 
jenigen, welchen nach weiteren vierzig Jahren ein ähnlicher Rückblick 
vergönnt ift, nurnoch fehr wenige Ueberbleibfel finden werden, die 
für ihren Fortbeftand unter ung feinen befferen Grund haben, als 
das Beijpiel eines Volkes, welches von uns fo abgelegen ift, ein 
ganz anderes Klima hat, und fi) in feiner gefellichaftlihen Orga⸗ 
nifation fowohl als in feinen Bedürfniffen fo ſehr von ung untere 
Tcheidet. Gleichwohl möchte ich einen Gebrauch eben jo wenig blos 
deßhalb verdammen, weil er englifch ift, als ich ihn nur aus diefem 
einfachen Grunde billigen kann. Sch münfche, daß Alles nur durch 
feinen inneren Werth fich empfehle, und trage die Meberzeugung in 
mir, daß Feine Nation in der höheren Bedeutung des Ruta ir 

Ravensneft. | vi 


418 


groß werden kann, wenn es nicht aufhört, ein gewifles flereotypes 
Modell nachzuahmen. Eines der größten Uebel dieſer Nachahmungs⸗ 
ſucht entwidelt fih eben jeßt in dem fogenannten , Fortſchritt“ des 
Landes, der in nichts Anderem befteht, als in dem fortwährenden 
Angriffe auf Orundfäße, die fo alt find, wie die Eriftenz des Men- 
chen, und als ſociale Wahrheiten, fo zu fagen, einen ewigen Beftand 
haben müffen, während man zu gleicher Zeit bei den höchften Be- 
hörden, 3. B. in den Senat der Vereinigten Staaten, von An⸗ 
fihten, die wir unferen Vorfahren verdanken, einräumt, fie feien 
auf Thatfachen gegründet, welche nicht nur keinen Beftand unter 
uns haben, fondern im Gegentheil mit den vorhandenen in ent» 
Tchtedenen Widerfpru treten. Es ift freilich unendlich Leichter, 
in das Gefchrei um Fortfchritt miteinzuftimmen, als eine Unterſu⸗ 
chung anzuftellen, ob der Fortfchritt auch die rechte Richtung ein⸗ 
fchlage, oder ob er überhaupt ein Fortfchritt ſei. Doch laffen wir 
dergleichen wichtige Betrachtungen beruhen, um zu bedeutenderen 
in dem Gang unferer Gefchichte zurückzukehren. 

Unter andere Bräuche, die wir leider mit von England herüber 
genommen haben, gehört die Gewohnheit, daß die Männer bei Tiſch 
fißen bleiben, nachdem die Frauen bereits aufgebrochen find. So 
fehr ich übrigens auch wünfche, daß diefe in jeder Weife anftößige 
Sitte befeitigt und der gebildetere, fchönere Brauch eingeführt wer» 
den möchte, der in der übrigen Ehriftenheit üblich ift, würde ich mich 
doch in den tiefften Tiefen meiner Seele fchämen, wenn ich finden 
müßte, — und leider kann ich nicht. zweifeln, daß etwas der Art zu 
erwarten flünde — diefe Gewohnheit fei auch von ung verlaffen 
worden, weil man in Erfahrung gebracht habe, fle ſei fchon vor 
zwölf Monaten in England aufgegeben worden. Mein Onkel hatte 
fih lange Zeit bemüht, in unferem Familienzirkel die Sitte einzu» 
führen, daß die Damen eine Weile bei Zifche figen bleiben, und nad 
Ablauf diefer Zeit mit den Männern die Tafel verlaffen follten; 
aber „es ift fhwer, gegen den Stachel zu lecken.“ Allerdings find 


419 


Männer, weldhe darin Gefellfchaft und Gefelligkeit finden, wenn 
man zufammenktömmt, um Wein zu trinken, vom Wein zu ſprech 
und durch Bewirthung der Gäfte mit den koſtbarſten Weinen fi 
gegenfeitig zu überbieten, nicht leicht von ihren Anfichten abzubrin= 
gen, und wenn auch die Zeiten des fchweren Trinfens ihre Endſchaft 
erreicht haben, fo find doch die der Redſeligkeit noch in voller Kraft. 
Könnte einmal die Anficht allgemein in Umlauf kommen, daß es 
feld in England für gemein gehalten werde, nur von dem Saft zu 
fprechen, der auf dem Tifche ſteht, fo würden wir vielleicht auch 
diefer Gewohnheit 108. Gemein in England! ja, unter rechten 
Leuten gilt es fogar bei und als gemein, und ich Tann dieß aus 
eigener Wahrnehmung behaupten. Daß ein paar Freunde, welche 
fi in die Wohlthat einer befonders aufheiternden Flaſche theilen, 
ein Wort des Lobes über den Stoff anbringen, ift natürlich genug 
und auch ganz in der Ordnung, denn vernünftiger Weife kann mar 
an einer derartigen Aeußerung des inneren Wohlbehagens nichts 
Arges finden; aber ich weiß mir nichts Empörenderes, ald wenn 
zwanzig ernfte Gefichter um einen Tiſch herumfigen, und als Fein⸗ 
ſchmecker über den neu gekauften Rheinwein ihr Urtheil abgeben, 
während von dem vielen Ziehen am Heber bie Baden des Wirths 
wie die eines Boreas aufgedunfen find. 

Meine liebe Großmutter gehörte der alten Schule an und 
erhob fih, während die vier blühenden Mädchen ihrem Beifpiel 
folgten, mit der gewohnten Einladung von der Zafel: 

„Gentlemen, ich laſſe euch jeßt bei eurem Wein allein; vergeßt 
aber nicht, daß ihr im Befuchszimmer fehr willkommene Gäfte ſeid.“ 

Aber mein Onkel ergriff jet ihre Hand und bat fie, daß fie 
fh nicht entfernen möchte. Für meine Augen lag in der Art des 
Verkehrs und in der Liebe, die zwifchen Onkel Ro und feiner Mutter 
beftand, etwas ungemein Rührendes. Er war nie vermählt gewefen 
und fie eine Wittwe; es fand daher zwifchen beiden ein inniges 
Liebes⸗Band flatt, und ich bin oft, wenn wir allein waren, VNA 


I 


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gerefen, wie er auf feine Mutter zuging, ihre Wangen ſtreichelte 
und fie dann Lüfte, wie man 6 etwa einer tbeuern Schwefter gegen- 
Aber zu halten pflegt. Eie dagegen trat gleichfalls oft auf ihren 
„Roger” , wie fie ihn flet6 nannte, zu und füßte jein Fahles Haupt 
in einer Weiſe, aus welcher man entnahm, ſie erinnere ſich noch 
lebhaft der Zeit, als er, noch ein Kind, in ihren Armen lag. Bei 
dem gegenwaͤrtigen Anlaſſe entſprach ſie ſeiner Bitte und nahm 
ihren Sitz wieder ein, während die Mädchen eben fo bereitwillig, 
wie beim Aufftehen, ihrem Beifpiele Kolge leifteten. Die linter- 
haltung führte nun natürlich auf den Zuftand des Landes. 

„Es hat mich fehr überraſcht,“ bemerkte meine Großmutter, 
„daß unfere Machthaber ihre Bemerkungen und Angaben blos auf 
Die Thatfachen befchräntten, welche auf den Befibungen der Renf- 
felaers und Livingstons flattfinden, während es doch in fo vielen 
anderen ähnliche Schwierigkeiten gibt." 

„Die Erklärung liegt nahe genug, meine gute Mutter,” ent 
gegnete Onkel Ro. „Auf den Beflpungen der Renflelaers find die 
Würgfchaftsverkäufe, die Zinshühner und die Zagwerke üblich. Mit 
Diefen Dingen läßt fich eine Captatio benevolentiae erzielen und 
ein politifcher Effect herbeiführen, während man bei den anderen 
Lindereien eines fo wichtigen Hilfsmittel® entbehrt. Es ift eben 
fo auverläffig, als die Sonne heut aufgegangen ift, DaB ein ausge- 
dehnter, ſchlau angelegter Plan befteht, auf fat jedem größeren 
Figentbum im Staat die Befiprechte der Grundherrn auf die 
Wächter zu Übertragen und zwar noch obendrein unter Bedingungen, 
durch welche die Repteren in der ungerechteften Weife begünftigt 
werden. Davon findet Ahr freilich nichts in den Botfchaften der 
Gouverneure, oder in den Reden der Gejeßgeber, die, wie es den 
Anſchein gewinnt, Alles gejagt zu baben glauben, wenn fie auf 
die Nothwendigkeit, Den Beichwerden der Pächter Abhilfe zu leiften, 
als auf eine bobe politiſche Pflicht hinweiſen, ohne fi übrigens 
mit einer Unterſuchung aufzuhalten, ob dieje Beſchwerden rechtlich 


421 


‚begründet find, oder nicht. Der Schaden, welcher dem Gemeine 
wefen zugeht, wenn man den Leuten zeigt, wie viel durch Gefchrei 
erzielt werden Tann, ift an fich unberechenbar, und e8 wird eine 
ganze Generation erforderlich fein, um nur die fchlimmen Folgen 
des Beifpiel wieder zu vertilgen, felbft wenn morgen die Antiren« 
ten= &ombination eine gänzliche Niederlage erlitte, 

„Wie ich finde, hat man in jenen Fällen, in welchen nichts 
Befferes aufgefunden werden kann, gegen die Grundheren faft alle 
gemein den Mangel eines Befigtiteld eingewendet,’ bemerkte Mr. 
Warren. „Der Borlefer von heute fchien jeden Titel, der vom Kö— 
nig herrührt, zu verwerfen, weil durd den Revolutionsfrieg und 
durch den Sieg über jenen Monarchen auch feine Berleihungen 
nichtig geworden feien. 

„Dieß wäre ja eine ganz herrliche Belohnung für die tapferen 
Baffenthaten der Littlepage’s! Mein Vater, mein Großvater und 
mein Urgroßvater — alle haben in jenen Kriegen mitgeftritten, die 
beiden erfteren als Generale und der Kebtere ald Major. Da follen 
fie nun für ihre Anftrengungen und Gefahren ihres Eigenthums 
beraubt werden? Ich weiß wohl, daß diefer einfältige Vorwand 
fogar ſchon in einem Gerichtshof geltend gemacht wurde; aber die 
Thorheit, die Rechtswidrigfeit und der Wahnfinn haben doch unter 
uns noch nicht fo weit um fich gegriffen, um einen derartigen Grund⸗ 
faß durchführen zu können. Da übrigens die künftigen Ereigniffe 
ihre Schatten in die Gegenwart hereinragen laſſen, fo iſt e8 wohl 
möglich, daß wir eben diefe Bewegung ald die Dämmerung des 
Tags der Bernunft, welche über Amerika hereinbricht, anfehen 
müffen, nicht aber ald ein Zwielicht, das die fcheidenden Sonnen- 
ftrahlen vor dem Einbruch einer Geiftesnacht zurückließen.“ 

„Buverläffig fürchtet Shr aber nicht im Ernft, Ro, daß diefe 
Leute Hugh feine Ländereien entreißen könnten?” rief Patt mit 
erröthender Haft. 

„Man Tann über diefe Sache noch gar nichts fagen, meine 


422 


Liebe. ebenfalls if Niemand ficher, wenn Anfichten und Hand⸗ 
lungen, wie diejenigen find, welche in den lebten Jahren um fich 
gegriffen haben oder durchzuführen verfucht wurden, Beftand haben 
Zönnen, ohne den allgemeinen Unwillen zu weden. Betrachten wir 
eben jebt die vermöglichen Klaſſen, — fie leben in größter Angft 
und Aufregung in Betreff eines Kriegs wegen des Dregon- Gebiets, 
der jedenfalls möglich, obſchon nicht wahrfcheinlih iſt; dagegen 
zeigen fie in dieſer Antirentenfrage Die größte Gleichgültigfeit, ob⸗ 
Thon die Löfung derfelben in engfter Beziehung ſteht zu der pofiti= 
ven Eriftenz alles deffen, was eine gerechte fociale Organifation 
fordert. Der eine Punkt betrifft eine bloße Möglichkeit, erfchüttert 
aber doc die gedachte Klaffe, während an den andern das ganze 
Beftehen einer ciwilifirten Geſellſchaft fich Eettet — aber diefe hat 
aufgehört, die Aufmerkjamfeit auf fich zu ziehen, und ift beinahe 
vergeffen. Jeder Angehörige unferes Gemeinweſens, der durch feine 
Mittel über den gemeinen Haufen erhoben ift, hat ein unmittelbares 
Intereſſe dabei, dieſer Gefahr Die Stirne zu bieten und zu ihrer 
Begegnung mitzuwirken; aber Niemand fcheint die Wichtigkeit der 
Erifis auch nur zu fühlen. Wir haben nur noch ein paar Schritte, 
um der Zürfei gleich zu werden — einem Lande, in welchem der Reiche 
feine Habe verbergen muß, um fie gegen die Klauen der Regierung 
zu fchüßen; aber Niemand fcheint fih darum zu kümmern.” 
„Einige neuere Reifende, die ung befuchten, haben fich dahin 
ausgeſprochen, daß wir diefe Höhe beinahe erreicht hätten, fintemal 
unfere Reichen öffentlich große Einfachheit zur Schau tragen, wäh- 
rend fie im Geheim ihre Häufer mit allen den gewöhnlichen Ab⸗ 
zeichen des Wohlftandes und des Luxus füllen. Inter Anderen Hat, 
wie ich glaube, auch de Tocqueville diefe Bemerkung gemacht.” 
„ah, dieß iſt nur eine von den gewöhnlichen weifen Bemer- 
tungen der Europäer, die, weil fie die amerikanische Gefchichte nicht 
verftehen, die Urfachen unter einander werfen, und deßhalb Irrthü⸗ 
ser begeben, Das einfache Öffentliche Auftreten ift weiter nichts, 


423 


als eine alte Gewohnheit des Landes, während die Eleganz und 
der Lurus in den Privathäufern eine natürliche Folge des Geſchmacks 
von Frauen ift, welche vermöge des geſellſchaftlichen Zuftandeg, 
in dem fie leben, auf das Minimum einer feinen Umgebung und 
intellectueller Genüffe angemiefen find. Der Schriftfteller if übrt- 
gend troß diefes Irrthums und noch vieler anderer ähnlicher, die 
er fich beigehen ließ, ein ſehr verfländiger Mann und hat ein uns 
beftreitbares Verdienft, wenn man die Mittel in's Auge faßt, welche 
ihm bei Erforfchung der Wahrheit zu Gebot handen.” 

„Gleichwohl läßt fich nicht in Abrede ziehen, Mr. Littlepage,“ 
entgegnete der Rektor, der in jedem Sinne des Worts ein Gent⸗ 
leman war und die Welt — ja ich darf wohl fagen, den beften 
Theil derfelben Fannte, obfchon er nebenbei eine bewunderungs⸗ 
würdige Einfachheit des Charakters bewahrt hatte, „Daß wirklich 
unter und Veränderungen ganz in der Art ftattgefunden haben wie 
Monfieur de Tocqueville fie angibt." 

„Dieß ift vollfommen richtig, Sir; aber fie haben auch ander= 
wärts ftattgefunden. Sch kann mich noch wohl erinnern, daß ich 
als Knabe in unfrem Lande fechsfpännige Kutichen gefehen habe, 
und Daß zu jener Zeit fat jeder vermöglihe Mann vierfpännig 
fuhr, während heutzutag etwas Aehnliches wunderfelten vortömmt. 
Aber diejelbe Bemerkung konnte man auch Durch die ganze Ehriften® 
heit machen; denn in der erften Zeit meines Aufenthalt8 auf dem 
europäiichen Feftland waren fechsfpännige Equipagen mit Borreis 
tern und allem erdenklichen Prunk an der Tagesordnung, während 
man heutzutage nicht viel mehr davon flieht. Verbeſſerte Straßen, 
die Dampfboote und die Eifenbahnen können dergleichen Verände- 
rungen hervorbringen, ohne daß man den Grund dazu in der über« 
handnehmenden Gewalt der Maffen fuchen müßte." 

„In der That,” fiel Patt lachend ein, „wenn die DOeffentlichkeit 
nah Monfieur de Tocquevilles Maapftab zu mefjen wäre, jo hätten 
wir fie in vollfommen hinreichender Eigenfhaft zu New⸗-Nork. 


424 


Alle neumodiſchen Häuſer find mit ihren niedrigen Balkonen und 
Fenſtern fo gebaut, daß Jedermann in’s Innere hineinfehen kann. 
Wenn das wahr ift, was ich von einem Parifer Haufe las und 
hörte, daß zwifchen cour et jardin ftand, fo kann man dort weit 
abgefchiedener leben als hier, und man dürfte ebenfogut jagen, die 
Barifer begraben fi hinter porte cochere und unter. Bäume, 
den Angriffen der Faubourg St. Antoine zu entgehen, als fi von 
ung behaupten läßt, wir verbergen unfere Eleganz in den Häufern, 
damit der Pöbel uns dulde.” 

„Ih fehe, Hugh, das Mädchen hat aus deinen Briefen Bor- 
theil gezogen,“ bemerkte mein Onkel, beifällig mit dem Kopf nidend, 
„und was noch mehr ift, fie macht aus ihrem oder vielmehr aus 
deinem Unterricht eine paffende Nupanwendung. Doch nein, nein, 
alles dieg ift ein Irrthum, und wie Martha jagt, man findet im 
den Straßen unferer Städte hauptſächlich Häufer in dem neuen 
Style. Statt des Ausdruds, wir verbergen unfere Eleganz in deu 
Häufern, hätte Patt beffer jagen können, wir entziehen fie den nei⸗ 
Difchen Blicken der Nachbarn, weil namentlich der Manhattanefe in 
feinen Wohnungen das Snnerfte nach Außen kehrt, damit ſich der 
Nachbar nicht beleidigt fühle, wenn er nicht Alles fehen kann, was 
Drinnen vorgeht. Doc, diefen beiden Anfchauungen fehlt die Wahr 
heit. Das Innere des Haufes ift deßhalb prunkhafter, weil es 
meift unter weiblicher Leitung ſteht, und man könnte mit eben fo 
gutem Grund behaupten, wenn die amerikanischen Männer ſich außer 
dem Haufe einfach in blauen, ſchwarzen und braunen Kleidern zei« 
gen, während ihre Weiber und Züchter zu Haus in Seide, Atlas 
und fogar in modijcher Brocade gehen, jo gefchehe dieß aus Furcht 
vor dem großen Haufen. Es findet ein großer Unterfchied flatt 
zwifchen einem Salon in der Faubourg und der Ehaufjee d’Antin 
oder fogar dem Boulevard des Staliend. Doch Sohn dreht auf der 
Piazza draußen gewaltig feinen Hals, ald ob unfere rothen Brüs 
der zur Hand feien.” 


/ 425 zen 


Und fo war es auch wirklich. Maͤnniglich erhob ſich jebt ohne 
Umftände von der Tafel und begab fi in's Freie hinaus, um die 
erwarteten Gäfte zu empfangen. Wir waren übrigens faum in 
dem Hofe angelangt, und die Damen noch mit dem Aufjeben ihrer 

Hüte befchäftigt, als Prairiefeuer, Kiefelherz, Vielzunge und alle 
Uebrigen in jener Art von Halbtrab anlangten, welche den Marſch 
der Indianer bezeichnet. 

Obſchon wir inzwifchen unfere Kleider gewechfelt hatten, wur⸗ 
den wir Beide, mein Onfel und ich, doch augenblidlich von den 
erften Häuptlingen erkannt und höflich begrüßt. Zwei von den 
jüngeren Männern boten ung nun gravitätifch unfere Perücken 
wieder an; aber wir lehnten die Rüderftattung derfelben ab und 
baten die Gentlemen, welche fle in Händen hatten, ung die Ehre 
zu erweifen, fie ald Denkzeichen unferer befondern Achtung zu be= 

- halten. Das Gefchenk wurde fehr wohlgefällig und mit einer Freude 
aufgenommen, die fi) nicht gut unterdrüden ließ. Eine halbe 
Stunde fpäter bemerkte ich, daß jeder von den beiden jungen Urwald- 
flußern eine Berüde auf feinem ſonſt nadten Haupte fihen hatte und in 
den fchlichten Haaren derfelben eine pfiffig angebrachte Pfauenfeder 
trug. Die Wirkung war etwas lächerlich, und namentlich vermochten 

die jungen Damen ihre Heiterkeit kaum zu unterdrüden; aber ich 
bemerkte, daß jeder von den Kriegern umberfah, als fordere er die 

Dewunderung, die, wie fie fühlten, ihr Aeußeres erzwingen mußte! 

Sobald die Begrüßungen ausgetaufcht waren, begannen die 
zothen Männer das Haus, die Klippe, auf welcher es fland, die 
Wieſen unten und den umgebenden Grund zu unterfuchen. Anfangs 
meinten wir, fie feien erftaunt über. die Ausdehnung und Fefligfeit 
der Gebäude, wie auch Über deren Zierlichkeit, da man in Amerika 
nicht überall, felbft an den Häufern der beſſeren Klaſſen etwas 
Aehnliches trifft; aber Vielzunge benahm und bald unfern Irrthum. 
Mein Onkel fragte ihn, warum die Rothhäute aufgebrochen wären 
und fi um die Gebäude her zerftreut hätten; andere fähen dahin, 


426 


“andere veuteten dorthin, und alle feien augenfcheinlich fehr ernftlich 
mit etwas befchäftigt, obſchon er nicht wohl begreifen könne, worin 
der Gegenftand ihrer Theilnahme beſtehe — ob vielleicht die Ge— 
bäude einen ſolchen Eindrud auf fie machten?“ 

„Gott behüte, nein, Sir," antwortete der Dollmetfcher; „fe 
befümmern fich keinen Strohhalm um das Haus oder um was im⸗ 
mer für ein Haus der Welt. Da ift namentlich der Kieſelherz — 
ein Häuptling, auf den Ihr durch Reichthümer, große Häufer und 
dergleichen eben fo wenig Eindrud zu machen im Stande wäret, 
als Ahr es vermöchtet, den Strom des Miffifippt rückwärts zu 
lenken. Als wir zu Waſhington Onkel Sams Haus befuchten, ließ 
er ſich kaum herab, es anzufehen; und das Bapitol übte feinen 
arößern Eindrud auf den ganzen Haufen, als ob e8 eben eine beſ⸗ 
fere Art von Wigwam wäre, — vielleicht nicht einmal fo viel, 
denn in Betreff des Wigwams haben die Indianer einen eigenen 
Geſchmack. Was fie eben jebt auf die Beine gebracht hat, ift das 
Bewußtfein, daß hier vor etwa neunzig Sommern eine Schlacht 
gefochten wurde, in welcher der biedere Onondago und andererjeitd 
einige von ihren eigenen Leuten betheiligt waren. Dieß iſt's, was 
fie in Bewegung geſetzt hat.” 

„Und warum fpricht Kiefelherz mit ſolchem Nachdrud zu feiner 
Umgebung? Er deutet auf die Ebene, nach der Klippe und nad 
jenem Engthal, das hinter dem Wigmam des Susquefus liegt.“ 

„Ab, fo ift die alfo der Wigwam des biederen Onondago?” 
rief der Dolmetfcher mit fo großem ntereffe, wie wenn man Ser 
mand die unerwartete Mittheilung machte, er fehe jet zum er⸗ 
ftienmal in feinem Leben Mont Bernon oder Monticello, „Ra, 
Diefer Anblick ift etwas werth, obichon e8 noch mehr auf ſich Hat, 
den Mann jelbft gefehen zu haben; denn die Stämme in den 
oberen Prairien willen eine Menge von ihm und feinem Benehmen 
zu erzählen. Seit den Zeiten Tamenunds ift während der letzten 
Jahre von Eeinem Indianer fo viel geiprochen worden, als von 


427 


Susquefus, den biederen Onondago, und ih muß vielletcht nur 
Zecumthe ausnehmen. Was aber Kiefelherz betrifft, fo if er im 
gegenwärtigen Augenblid mit einem Bericht von der Schlacht be⸗ 
fchäftigt, in welcher fein Urgroßvater das Leben, aber nicht zu⸗ 
gleich feinen Skalp verlor. Er erzählte jebt, welcher Schmach hier 
fein Anherr entronnen fei, und wie glücdlich fi) feine Abkömm⸗ 
linge darüber preifen. Das Getödtetwerden fchlägt ein Indianer 
nicht fo hoch an; obſchon er, wenn er's anders möglich machen kann, 
lieber ohne Skalp ausreißt, als daß er fih vom Feind ganz und 
gar erfchlagen läßt. Kiefelherz erzählt jebt von einem jungen 
Blaßgeſicht, welches getödtet wurde, und das er Spaßvogel nennt 
— und jet fommt er auf einen Nigger zu fprechen, von dem er 
fagt, er habe wie ein Teufel gefochten.” 

„Alle diefe Perfonen leben auch in unferen Weberlieferungen 
noch fort,” rief mein Onkel mit mehr Jutereſſe, als ich in langer 
Zeit an ihm bemerkt hatte. „Aber es nimmt mich Wunder, die 
Erfahrung zu machen, daß die Indianer über derartige Kleinig- 
Zeiten eine lange Reihe von Jahren fo treue Berichte fortpflanze 
konnten.“ 

„Für fie iſt's keine Kleinigkeit. Ihre Schlachten ſind ſelten 
nach einem ſehr großartigen Maaßſtab zu bemeſſen, und fie legen 
großes Gewicht auf jedes Scharmützel, in welchem berühmte Krie⸗ 
ger gefallen find." 

Bielzunge hielt jet eine Weile trine und hörte aufmerkfam auf 
das Geſpräch der Häuptlinge; dann nahm er feine Erklärung wies 
der auf, indem er fortfuhr: 

„Das Haus macht ihnen die Hauptichwierigkeit; alles Andere 
finden fie in der Ordnung. Der Feld, die Lage der Gebäude, das 
Engthal dort — kurz die ganze Umgegend fcheint entfprechend zu 
fein, nur dag Haus nicht.” 

„And welchen Anftoß nehmen fie an dieſem? Steht es nicht 
an dem Plate, den es einnehmen follte?” 


428 


„Eben dieß ift ihr Bedenken. Es flieht ganz an der rechten 
Stelle, ift aber nicht die rechte Art von Haus, obſchon fie fagen, 
die Form paffe gut genug — die eine Seite laufe gegen die Fel- 
der hinaus, zwei Seiten führten nach den Felſen zurüd, und die 
vierte werbe durch die Klippe felbft gebildet. Ihre Ueberlieferungen 
fprehen aber davon, ihre Vorväter hätten ſich Mühe gegeben, das 
Haus niederzubrennen, und in diefer Abficht Feuer angelegt; diefes 
würden fie aber wohl unterlaffen haben, wenn das Gebäude flei- 
nern gewefen wäre, wie dieſes hier; der Grund ihrer Berlegenheit 
liegt alfo blos in letzterem Umftande. * 

„Dann haben fie in der That überraſchend ausführliche und 
richtige Traditionen. Das Haus, welches damals auf diefer Stelle 
oder doch in der Nähe derfelben ftand, und dem Hauptplane nah 
Aehnlichkeit mit dem gegenwärtigen hatte, war aus vieredigen 
Blöcken gebaut und Eonnte daher wohl in Brand geſteckt werden. 
Es ift wirklih ein Verfuch dazu gemacht worden, der aber nicht 
gelang. Die Berichte Eurer Häuptlinge find ganz der Wahrheit 
gemäß, aber es haben inzwifchen hier Veränderungen flattgefunden. 
Das Blodhaus hatte fat fünfzig Jahre geſtanden, als es durch 
das gegenwärtige Gebäude erſetzt wurde, und dieſes fleht nun 
gleichfalls ſchon fechzig Jahre. In der That, die Ueberlieferungen 
diefer Leute find wirklich überrafchend. ” 

Sobald den Indianern diefe Thatfache mitgeteilt wurde, 
äußerten fie ihre Zufriedertheit, und von dieſem Augenblide an 
hatten alle ihre Bedenken und Zweifel ein Ende. Sie wußten aus 
eigener Erfahrung , welchen Umfchwung diefe Dinge gewöhnlich in 
einer Anfiedlung nehmen, und Eonnten fidh daher alle übrigen Wech⸗ 
fel erklären, obgleich fie Anfangs das Material des Gebäudes, 
welches in allen andern Stüden fo gut mit ihren Zraditionen übers 
einftimmte, in Verlegenheit gebracht hatte. Sie fuhren fort die 
Dertlichkeiten näher zu unterfuchen, und unjer Gejpräch mit Viel⸗ 
Zunge erlitt in der Zwilchenzeit Feine Unterbrechung, 


429 


„sh wäre doch neugierig die Gefchichte des Susquefus zu 
kennen,“ fagte mein Onkel, „weil diefe Häuptlinge einen fo weiten 
Umweg machten, um ihn mit einem Befuch zu beehren. Mag wohl 
fein hohes Alter daran Schuld fein?” 

„Allerdings ift Dieß einer der Gründe, obſchon auch noch ein 
wichtigerer vorhanden ift, den übrigens nur fie felbft fennen. Ich 
habe es oft verfucht, fie über Die Gefchichte auszuholen, aber ſtets 
ohne Erfolg. So lange ich denken kann, haben die Onondagoes, 
die Tuscarorad und die Indianer von den alten New =» Morker- 
Stämmen, welche nach den Prairien hinaufgefommen find, von dem 
biederen Onondago gefprochen, der ſchon ein alter Mann gemwefen 
fein mußte, als ich geboren wurde, Ramentlich erzählen fie ſich in 
den lebteren Sahren viel von ihm, und da fid) ihnen nun eine fo 
gute Gelegenheit bot, ihn zu befuchen, jo würden die im Welten es 
fehr übel genommen haben, wenn diefelbe vernachläffigt worden 
wäre. Ohne Zweifel ift fein Alter eine Haupt⸗Urſache; gleichwohl 
gibt's aber auch noch eine andere, vie ich übrigens nie zu erfunden 
im Stand war.” 

„Diefer Indianer fleht nun nahezu, wo nicht völlig neunzig 
Fahre in unmittelbarer Beziehung zu meiner Familie. In dem 
Angriff am Ty, der im Jahr 1758 unter Abercrombie flatt fand, 
war er ein Begleiter meines Großvaters Cornelius Litklepage, und 
feit diefer Zeit ift bis auf zwoͤlf oder dreizehn Jahre hin ein ganzes 
Jahrhundert entſchwunden. Sch glaube fogar, mein Großvater 
Hermann Mordaunt hat ihn fchon vorher einigermaßen gekannt. 
So lang ich mir ihn denken kann, war er ein grauföpfiger alter 
Mann, und wir vermuthen, daß er fo gut als der Nigger, welcher 
bei ihm wohnt, volle hundert und zwanzig Jahre, wo nicht mehr 
auf dem Rüden haben muß.” 

„Bor ungefähr dreiundzwanzig Wintern muß Susquefus oder 
dem Fährtelofen, wie er Damals genannt wurde, etwas Wichtiges 
zugeftoßen fein; jo viel babe ich bei verfhledenen Gelegenheiten 


430 


aus den Aeußerungen der Häuptlinge entnommen. Worin übrigens 
dieſes wichtige Ereigniß beftand — dieß habe ich nie entdeden 
Lönnen, obſchon es mit dem gegenwärtigen Beſuch eben fo viel zu 
Schaffen hat, als das hohe Alter der welken Tanne. Die Indianer 
haben eine hohe Achtung vor dem Alter, und wiſſen die Weisheit 
zu ſchätzen; im höchften Anfehen aber fteht bei ihnen Muth und 
Gerechtigkeit: der Ausdrud ‚bieder‘ hat feine Bedeutung — hierauf 
könnt Ihr Euch verlaffen.” 

Dieſe Mittheilungen erregten in hohem Grad unfere Theil- 
nahme, und aud meine Großmutter nebft ihren holden Begleiter 
rinnen fühlten fi fehr davon angefprochen. Namentlich verrieth 
Marry Warren das lebhaftefte Intereffe für die Gefchichte des alten 
Susquefus — eine Thatſache, welche fich in einem kurzen Zwiege⸗ 
fpräh mit mir fund gab, als ich an der Vorderfeite der Piazza 
mit ihr auf und ab ging, während die übrige Geſellſchaft neugie⸗ 
rig den Bewegungen der noch immer aufgeregten Wilden zufah. 

„Wir beide, mein Bater und ich, haben die alten Männer 
oft befucht und den wärmften Antheil an ihnen genommen," bes 
merkte das verftändige einfache Mädchen. „Namentlich fühlten wir 
eine lebhafte Sympathie für den Indianer, denn e8 muß Sedem, 
der mit ihm umgeht, bald auffallen, daß ihm fein Volk noch im⸗ 
mer fehr am Herzen liegt, Wie wir hören, erhält er oft Beſuche 
von den Rothhäuten — wenigftens jo oft ein Indianer in die Nähe 
kommt; und wenn dieß geichieht, follen fie flets eine große Ehr⸗ 
furcht vor feinen Jahren und vor feinem Charakter fund geben." 

„Dieß if vollkommen richtig, denn ich habe häufig Diejenigen 
gefehen, welche ihn zu bejuchen kamen. Sie beftanden jedoch in 
der Negel blos aus Korbflechtern, jenem halben Schlag von Wil- 
den, die von dem Charakter der einen Rafje viel verloren, und 
von dem der andern allerlei angenommen haben. Dieß if mei- 
nes Wiſſens das erfle Beifpiel einer fo ausgezeichneten Achtungs⸗ 
bezeugung — oder könnt Ihr Euch noch eines anderen Vorgangs 


431. 


erinnern, theure Großmutter, in welchem dem alten Susquelus 
von feinem Bolt ein fo auffallender Huldigungsbemeis darge⸗ 
bracht wurde?“ 

„So weit. meine Erinnerung zurückreicht, iſt dieß bereits der 
dritte ‚ Hugh. Bald nach meiner Vermählung, die, wie du weißt, 
nad dem Schluß des Revolutionskrieges flattfand, war bei Sus⸗ 
quefus ein Indianerhaufen zu Beſuch, welcher fih zehn Zage 
aufbielt. Die Häuptlinge beftanden, wie ich mir fagen ließ, aus 
Iauter Onondagoes oder Kriegern feines eigenen Volkes. Es war- 
Davon die Rede, daß fie gekommen feien, um ein Mißverftändniß 
auszugleichen, obgleich ich geftehen muß, daß ich Damals zu ges 
dankenlos war, um mich wegen des Näheren zu erfundigen. Bon 
meinem Schwiegervater und dem Onkel Kettenträger nahm man 
ſtets an, fie feien von der ganzen Gefchichte des Fährtelofen uns 
terrichtet; indeß hat Feiner je ein Wort darüber gegen mic) ver- 
Tauten laffen. Dein Großvater wußte aller Wahrſcheinlichkeit nach 
nichts davon,” fügte die ehrwürdige Sprecherin mit einer Art mil- 
den Bedauerns bei, „ſonſt würde ich wohl auch davon gehört haben. 
Jener erfte Beſuch fand bald nach der Zeit ftatt, als Susquefus 
und Jaaf von- ihrer Wohnung Beſitz genommen hatten, und man 
erzählte fih damals, die Fremden feien fo lang geblieben, weil 
fie gehofft hätten, Sus zu bewegen, daß er mit ihnen zu feinem 
Stamme zurüdtehre. Wenn übrigens dieß wirklich ihre Abficht 
war, fo ſchlug fle fehl, denn er bewohnt noch immer die Hütte, 
wie zu der Zeit, als er fie bezog.” 

„Und der zweite Befuh, Großmutter? — Shr habt von 
Dreien gebrogen? iu 

„D, erzählt und Alles, Mrs. Littlepage,“ fügte Mary an⸗ 
gelegentlich bei, obfchon fie einen Moment fpäter ob ihrer Haft 
bis zu den Schläfen erröthete. 

Meine theure Großmutter lächelte wohlwollend ung beiden zu, 
und es Fam mir vor, als blide fie ung etwas ſchalkhaft an, wie 


432 


es alte Frauen bisweilen zu halten pflegen, wenn die Bilder ihrer 
eigenen Jugend ihnen wieder vor die Seele treten. 

„Ihr fcheint eine gemeinfame Sympathie für diefe rothen 
Männer zu hegen, meine Kinder ‚“ antwortete fie — Mary's Ant- 
li überflog von einem hellen Scharlach, als fie ſich alfo in den 
Ausdrud Kinder“ einfchließen hörte — „und es macht mir große 
Freude, Eurer Neugierde zu willfahren. Der zweite. große Be- 
fuh, den Susquefus von den Indianern erhielt, fiel in das Jahr 
deiner Geburt, Hugb, und wir fürchteten damals, den alten Mann 
wirklich zu verlieren: fo angelegentlich drangen die Häuptlinge ſei⸗ 
nes Volkes in ihn, er möchte mit ihnen fortziehen. Er wollte je» 
doch nicht, und iſt jeitdem immer hier geblieben; auch hat er mir 
erft vor einigen Wochen gejagt, daß er hier zu flerben wünfche. 
Wenn diefe Indianer der Hoffnung leben, ihm eine andere Gefin- 
nung beibringen zu können, fo werden fie ſich zuverläffig in ihren 
Erwartungen täufchen. “ 

„Dieß hat er auch zu meinem Vater gefagt,” verfehte Mary 
Warren, „der oft mit ihm vom Sterben ſprach, und ihm die Augen 
für die Wahrheiten des Evangeliums zu öffnen hoffte." 

„Und welchen Erfolg hat er erzielt, Miß Warren? Wenn 
fih dieß erringen ließe, fo wäre es ein höchſt würdiger Schluß für 
die Laufbahn des alten Mannes. * 

„Leider hat er nicht viel ausgerichtet,” antwortete das bezau⸗ 
bernde Mädchen in gedämpftem melancholifchem Zone, „Wenig- 
ſtens weiß ih, daß mein Bater feine Erwartungen nicht erfült 
fieht. Sus hört ihm aufmerkfjam zu, verräth aber außer feiner 
Ehrerbietigkeit gegen den Sprecher Fein anderes Gefühl. Es find 
früher Berfuche gemacht worden, ihn zum Eintritt in die Kirche 
zu bewegen, aber — —“ 

„Ihr wolltet etwas beifügen, Miß Warren? Ich bin bes 
gierig, den Schluß Eurer Rede zu hören.” 

„Die Ergänzung will ich für fie übernehmen,” ergriff meine 


433 


Großmutter das Wort, „denn. ich weiß wohl, daß du fle von Mary 
Warren vergeblich erwarteſt. Es ift dir ja aus eigener Erfahrung 
bekannt, Hugh, daß Mir. Warren Vorgänger ein ungetreuer, ſelbſt⸗ 
füchtiger Diener der Kirche war, der Riemand. etwas Liebes that, 
nicht einmal fich ſelbſt. In Amerika gehört viel dazu, bis ein Geiſt⸗ 
licher die Geduld des Volks erfchöpft hat; aber zuletzt iſt's doch 
möglich, und find die Leute einmal fo weit gekommen, daß fie den 
Geiftlichen nach dem Maaßſtab meſſen, den fie an andere Per- 
fonen anlegen, fo folgt eine Reaction, die für den Betreffenden 
von großem Nachtheil if. Wenn wir au das Benehmen Yves 
vormaligen Pfründners von St. Andrews mit dem Schleier 
chriftlicher Liebe deden wollten, jo brauchte man.dazu doc einen 
fo dichten und großen Schleier, daß die Aufgabe nicht leicht 
würde. Mary ift blos der Meinung, vor zwanzig Jahren hätte 
eine befjere Unterweifung und eine treuere Pflichterfüllung bei dem 
Sährtelofen mehr ausrichten können, als heutzutag überhaupt mög⸗ 
lich iſt.“ 

„Ach, welchen unberechenbaren Schaden können nicht gewiſſen⸗ 
loſe Geiſtliche der Kirche Gottes zufügen! Ein einziges ſchlimmes 
Beiſpiel verwirrt mehr Gemüther, als zwanzig gute Vorbilder zu 
befeſtigen im Stande find.” 

„Sch weiß dieß nicht, Hugh, aber Eines ift eine zuverläffige 
Wahrheit — es gefchieht weit mehr Nachtheil, wenn man durch 
den Verſuch, unmwürdigen Geiftlichen das Wort zu reden, für die 
Ehre der Kirche zu kämpfen meint, ald wenn man mit einem Male 
ihre Bergehungen zugefteht, im Falle fie erwiefen find. Uns Allen 
ift bekannt, daß die Diener des Altars nur. Menfchen find, und als 
ſolche fallen können — ja fogar fallen.müffen, wenn ihnen die 
göttliche Gnade nicht beifteht. Aber obgleich wir den Diener Got⸗ 
tes nicht rein machen können, müfjen wir doch Alles aufbieten, 
um den Altar felbft-vor Befledung zu bewahren." 

„Sa, ja, Großmutter — aber die Zeit der ex oflicio-Religion 

Ravensneft. RR 


434 


tft dahin” — Mary entfernte fi jebt, um fih den übrigen Mäd- 
hen anzufchließen — „wenigftens in dem amerifanifchen Zweig der 
Kirche, und 's ift fo auch am beften. Verdächtigungen find zwar 
niedrig und unwürdig; aber eine blinde Leichtgläubigkeit verdient 
Beratung. Wenn ich z.B. auf jenem Zweige dort eine Kaſtanie 
fähe, fo würde es ja ein Akt der maßlofeften Thorheit von mir 
fein, wenn ih den Baum ſelbſt für einen Wallnußbaum bielte, 
gleichviel ob auch Die Baumgärtner des ganzen Landes bereit wä⸗ 
ren, das Lebtere als eine Wahrheit zu beſchwoͤren.“ 

Meine Großmutter lächelte und entfernte fich gleichfalls, wäh- 
rend ich meinerfeits Onkel Ro wieder aufiuchte. 

„Der Dolmetfcher fagt mir, Hugh," begann der Leptere, „daß 
die Häuptlinge heute Abend ihren erften Befuch in der Hütte ab- 
“Ratten wollen. Zum Glüd iſt das alte Farmhaus eben jetzt Teer, 
weil Miller das neue bezogen hat, und ich gab Mr. Bielzunge die _ 
Weiſung, er folle fi während feines und feiner Leute Aufenthalts 
dort einrichten. Das Haus hat eine Küche und kann vollfommen 
gut benügt werden; für die Wirthſchaft unferer Gäfte brauchen wir 
alfo blos einige Kochgeräthichaften — meinetwegen etliche Töpfe — 
nebft einem halbhundert Strohbunden hinzufchidlen. Ich habe be= 
reits Auftrag dazu ertheilt, weil ich dich nicht behelligen wollte — 
vielleicht auch, weil man ein Vormunds-Anſehen night fo geme 
niederlegt — und das Stroh wird bereitd im Scheunenhofe: dort 
geladen. In einer halben Stunde können file unter prudelnden Ra⸗ 
vensnefter Töpfen fich gütlich thun.“ 

„Bühren wir fle vorher in ihr Haus ein, oder erſt nachdem fle 
Susquefus ihren Befuch gemacht haben?" 

„Natürlich vorher. John hat fih erboten, den Onondago von 
der Ehre, die ihm zugedacht ift, in Kenntniß zu feßen und ihm bei 
Beſchickung feiner Toilette Beiftand zu leiſten; denn ver rothe 
Mann wird fich eben fo ungern als ein Anderer im Neglige betre= 
ten Iaffen. Während dieß geichieht, können wir unfern Gäften 


435 


ihren neuen Wohnplatz anweifen und die Vorbereitungen zu ihrem 
Nachteſſen einleiten. Was die Inſchens? betrifft, fo haben wir 
allem Erwarten nach wenig von ihnen zu befürchten, fo lang ein fo 
ſtarker Haufen ächter Simon Pures in Rufweite lagert.“ 

Wir erſuchten hierauf den Dolmeticher, er möchte feine Häupt⸗ 
linge nach der ihnen zugedachten Wohnung führen, und ging ihnen 
voran, während die Damen auf dem Nafen zurüdhlieben. Es 
war um die Zeit der längften Tage, weßhalb wir für einen Beſuch 
der Hütte die Kühle des Abends einer früheren Stunde vorzogen. 
Noch ehe wir aufgebrochen waren, hatte meine Großmutter zu Be⸗ 
ſpannung ihres bedeckten Wagens Auftrag ertheilt, weil ſie ſelbſt 
auch einer Begegnung anwohnen wollte, die für Jedermann ſo 
großes Intereſſe haben mußte. 

Das leere Gebäude, welches wir den Indianern zur Benüung 
eingeräumt hatten, war ein volles Jahrhundert alt und von mei= 
nem Ahnherrn Hermann Mordaunt als Wohnung für den gebun- 
genen Bewirthfchafter feiner Farm gebaut worden. Diefem Zwed 
hatte e8 lange gedient, bis mir es endlich paffend fanden, an einem 
gelegeneren Plage ein neues Gebäude von bequemerer Form her= 
zuftellen. Das alte Haus war als Reliquie ftehen geblieben und 
noch immer nicht abgebrochen worden, obfchon man von Jahr zu 
Jahr von der Zweckmäßigkeit feiner Wegräumung ſprach. So blieb 
es mir denn belaffen, über fein Geſchick zu entfcheiden, wenn nicht 
etwa der „Geift der Inſtitutionen“ Einfprache erhob und mir die 
Macht entrig, auch über diefen Reft meines Eigenthums nach Bes 
lieben zu fchalten, damit die Menfchheit fehe, wie durch und durch 
der große Staat New-Pork von feiner Liebe zu einer vernünftigen 
Freiheit erfüllt if. 

ALS wir auf das „alte Farmhaus” zugingen, kam ung Miller 
aus dem anderen Gebäude entgegen. Er hatte gehört, feine Freunde, 
die Haufirer, feien feine — wie fol ich mich felbft nennen —? 
Herten, wäre zwar der gefebliche Ausdrud, und dürfte in uns 

IR: 


436 

ferer Mutterfprache das Verhaͤltniß gut bezeichnen; aber ich würde 
hiedurch dem „ehrenwerther Gentleman” und feinen Freunden eine 
tödtliche Beleidigung zufügen, ſintemal ich in Erfahrung gebracht 
habe, daß manche Leute unter und Thatſachen, welche fo einfach 
find, wie die Nafen in ihren Gefichtern, in Abrede ziehen, und dem 
Geſetz eine Ohrfeige geben, wo immer fie es für paffend Halten. 
Diefen ausgezeichneten Stantsmännern zu Gefallen werde ich mich 
thrigens nicht „Meifter” nennen; ich muß mich daher mit einer 
Bezeichnung begnügen, die, wenn der firebende Geift des Tages 
durchgreift, bald eine Wahrheit werden wird, und fo will ih mid 

denn Tom Millers — — „Nichts” tituliren, 
Es war deutlich zu merken, daß Miller über die Klemme, in 
welcher er ſteckte, ſich in großer Verlegenhett befand. Seit einer 
langen Reihe von Sahren hatte feine Bamilte in meinem und der 
Meinigen Dienft geftanden und — wie es bei folchen Leuten ſtets 
zu gehen pflegt, wenn fie das Unglüd haben, einem heillofen Art- 
flofraten dienen zu müffen — einen weit höheren Lohn erhalten, 
als wohl von den Neweomes, Holmes und Tubbfen bezahlt wor- 
den wäre, der weit beffern Behandlung in allen wefentlichen Punk⸗ 
ten gar nicht zu gedenken; jebt aber brauchte er nur den Grund= 
fäßen der Untirenters anzuhängen, um die Farm, die er fo lang 
gegen Bezahlung beftellt hatte, ald Eigenthum anzufprechen. Ja, 
diefelben Prinzipien Eonnten mit gleichem Recht dieſem Miethling 
mein Heimmwefen und meine Farın übertragen, als fle den Pächtern 
meines Befitzthums die von ihnen bewirthichafteten Grundftüde zu= 
ufprehen im Stande waren. Allerdings erhielt der eine Theil 
hn, während der andere Renten zahlen mußte; Doch diefe That⸗ 
fachen ändern am Grundfaße nichts, fintemal der gemiethete Knecht 
aus feiner Arbeit feinen weiteren Vortheil zieht, der Nentenzahler 
aber Herr des ganzen Ertragg — ich bitte um Verzeihung — 
Meifter des ganzen Ertrags if. Der gemeinfame Rechtstitel — 
wenn anders ein ſolcher exiſtirt — liegt eben in dem Umftand, daß 


437 


Jeder ſeine Anſtrengung einer beſtimmten Farm zuwandte, folglich 
hieraus ein Recht erwirbt, fie für alle künftige Zeiten zu befißen. 

Miller verfuchte, fi in linkiſcher Weife zu entjchuldigen, daß 
er mich nicht erfannt habe, und war bemüht, eine oder die andere 
Kleinigkeit wegzudeuteln, von der er fühlte, daß er durch fie in 
sine unbequeme Lage gerteth; übrigens achtete weder mein Onfel 
noch ich fonderlich darauf. Wir wußten, daß der arme Tom eben 
auch ein Menfch war, und fich daher leicht durch den Eigennuß be= 
flimmen ließ. Wenn Einer fih jagen muß, er habe noch weit hin 
bis zur oberften Stufe in der gefellfchaftlichen Leiter, fo wirft die 
Verſuchung eben gar übermächtig, wenn fie ihm in Ausficht ſtellt 
er Eönne ein paar Sproffen höher gelangen, und fchlägt der Er⸗ 
folg fehl, fo bedarf es eines edleren Sinns und vielleicht auch einer 
höheren Stellung, wenn ein Mann, wie Tom Miller, nicht einer 
gewiffen Dämonifchen Freude zugänglich fein ſoll, die man bei fo 
Bielen findet, wenn fie eine Möglichkeit abjehen, daß Andere zu ih- 
rem Niveau herabgezerrt werden. Wir hörten Toms Entſchuldi⸗ 
gungen gutmüthig an, ohne ung übrigens durch Sulagen oder Ers 
Härungen irgend eine Blöße zu geben. 


aueibundert Im ne: lange Zahre! . 

ie viel von M enfol; und Macht, 
Wie viele — und en 
Umfängt nun euer büflter Schacht] 


Yterpont. 


E⸗ fehlte noch etwa eine Stunde bis zu Sonnenuntergang, 
als wir Alle das neue Quartier unſerer rothen Brüder verließen, 
um die Hütte zu beſuchen. Als wir näher kamen, ließen-fich unter 
den Indianern Merkzeichen des gejpannteften Intereſſes, mit denen 
der Ehrfurcht vermengt, unterfcheiden. Mehrere von den Häupt⸗ 
lingen hatten die Zwifchenzeit benüßt, um die wilden Linien, die fie 
ſchon früher auf ihre Gefichter gemalt hatten, wieder aufzufrifchen 
und fich dadurch ein noch ſchauerlicheres Anfehen zu geben; nament- 
lich war Kiefelherz gräßlich jchön, und nur Prairiefeuer hatte es 
verfhmäht, zwiſchen feine natürliche Barbe und das Auge des de 
ſchauers einen Schleier zu legen. 

Da der Lauf meiner Erzählung es jebt nothwendig mad, 
Unterhaltungen zu berichten, die in einer mir unbekannten Sprache 
geführt wurden, jo muß ich hier ein für allemal bemerken, daß id 
mir ſtets das Gefprochene, fo gut e8anging, durch Vielzunge über- 
feßen ließ, um es entweder gleich auf der Stelle oder unmittelbar 
nach meiner Ankunft im Neſt niederfchreiben zu können. Diele 


5’ 


Zwanzigftes Kapitel. " { 


439 


Erklärung dürfte für diejenigen Lefer der gegenwärtigen Schrift, 
welche jonft glauben koͤnnten, daß ich erfinde, nicht am unrechten 
Ort fein. 

Der Wagen meiner Großmutter war mit feiner lächelnden 
Befrachtung mehrere Minuten vorher abgefahren, ehe wir unfern 
Marſch antraten. Das Iebtere geſchah nicht ohne einige Förm⸗ 
lichkeit und mit forgfältiger Beobachtung einer gewiſſen Ordnung. 
Die Indianer marfchiren felten anders, als in einer fogenannten 
„Indianer⸗Reihe“, oder einzeln hinter einander, fo daß jeder in die 
Fußſtapfen feines Vordermanns tritt; diefe Weife wurde deßhalb 
auch bei gegenwärtiger Gelegenheit in Anwendung gebracht. Prai⸗ 
riefeuer eröffnete den Zug, da er der älteſte Häuptling und einer- 
der erften beim Berathungsfeuer war. Ihm folgte Siefelherz, wäh 
rend die Anderen in einer Rangabftufung, deren Grundfäge nur 
ihnen felbft bekannt waren, hintendrein famen. Sobald ſich die Li- 
nie gebildet hatte, wurde der Marfch begonnen. Mein Onkel, der 
Dolmetfcher und ich gingen neben Prairiefeuer her, während Miller 
mit einem halben Dutzend Neugieriger aus dem Neſthaus und aus 
der Farm den Nachtrab bildete. 

Man wird fih erinnern, daß John nach den Wigwam voraus⸗ 
gefickt worden war, um den beabfichtigten Befuch anzukündigen. 
Er blieb viel länger aus, als man erwartet hatte, und wir waren 
bereit8 halbwegs von der Hütte, als wir dieſem treuen Dienſt⸗ 
boten auf feinem Heimmege begegneten. Er trat an meiner Seite 
in die Linie, fortwährend gleichen Schritt mit der Marfchzeile be⸗ 
hauptend, und theilte mir mit, was er zu fagen hatte. 

„Offen geftanden, Mr. Hugh," fuhr er fort, „der alte Mann 
war jehr ergriffen, als ich ihm erzählte, daß ungefähr fünfzig In⸗ 
Dianer aus weiter Ferne hergefommen feien, um ihn zu befuchen —“ 

„Siebenzehn — Ihr hättet fiebenzehn fagen follen, John, denn 
dieß ift genau ihre Anzahl." 

„Wirklich, Sir? Wahrhaftig, ich glaubte, es feien fünfzig. 


440 | . 


Einmal meinte ich, ich follte vierzig fagen, aber dann fiel mir Bei, 
es möchte doch nicht genug fein.” 

Diefe ganze Zeit ſchaute John über die Schultern zurück, um 
die ernft ausfehenden Krieger, welche in einer Zeile folgten, zu 
zählen. Nachdem er feinen Irxthum — denn Uebertreibung iſt für 
Leute von feiner Klaffe wohl der gewöhnlichfte Verſtoß — eingefe- 
hen hatte, nahm er feinen Bericht wieder auf. 

„Ih glaube in der That, daß Ihr Recht habt, Sir; die Augen 
find ein bischen zu groß geweien. Aber der alte Sus war ganz ge= 
rührt, Sir, als ich ihm von dem ihm zugedachten Befuch erzählte, 
und fo blieb ich denn bei ihm, um ihm bei feinem Anzug und bei 
feiner Malerei behilflich zu fein. Ihr wißt ja felbft, Sir, ber 
Nigger Yop iſt zu nichts mehr nütz, und man fieht ihm nicht an, 
Daß er je in der Familie eines Gentleman gelebt hat. Es müflen 
Thauerlihe Zeiten geweſen fein, Sir, als die vornehmen Leute von 
KewsPork nichts als Nigger zur Bedienung hatten, Sir.” 

„Wir find gleichwohl nicht übel gefahren, John,“ antwortete 
mein Onfel, welcher, wie es bei allen Gentlemen von Fünfzig der 
Fall if, der alten ſchwarzen Raffe, welche vordem fo allgemein im 
Lande die Dienftbotenftellen ausfüllte, jehr zugetban war; „wir 
find gleichwohl ziemlich gut Dabei gefahren. Freilich hat Jaaf nie 
im eigentlichen Sinne das Amt eines Kammerdieners verwaltet, 
obſchon er der Sklave meines Großvaters war.” 

„Run ja, Sir, wenn Niemand als Yop in der Hütte geweſen 
wäre, jo hätte fih Sus ficherlich nie anftändig für dieſe Gelegen- 
heit Heiden und bemalen können. Wie's aber jebt if, hoffe ich, Ihr 
werdet zufrieden fein, Sir, denn der alte Gentlemen fieht merfwüre 
dig gut aus — natürlich in Indianerweife, Sir, wie Ihr wohl 
begreift.” 

„Hat der Onondago Fragen an Euch geftellt?” 

"Ei, Mr. Hugh, es it Euch wohl bekannt, wie befonders er. 

in diefen Stüden if. Susqueſus hält nicht viel auf's Reden, 


441 


und man muß fi) um fo mehr über feine Schweigſamkeit wundern, 
wenn er diefe auch gegen Perfonen in Anwendung bringt, die ihn 
doch gut zu unterhalten im Stande wären. Ich hab’ das Geſpräch 
meiſt ſelbſt führen müflen, Sir, wie's gemeiniglich geht, wenn ich 
ihm einen Befuch made. Ich glaube, Sir, die Schweigfamteit 
liegt in der Natur der Indianer.” 

„Und wer kam auf den Gedanken des Malens und des Anfkeis 
dens — Ihr oder der Onondago?“ Ä 

„Je nun, Str, ich glaube der Indianer hatte urſprunglich 
ſelbſt etwas der Art im Sinn, obgleich ich ihn bei gegenmwärtiger 
Gelegenheit dazu ermuthigte. Ja, Sir, ich brachte den Gedanken 
in Anregung; indeß will ich nicht geradezu behaupten, Sus habe 
nicht auch einige Neigung Dazu verfpürt, noch ehe ich ihm meine 
Anfichten mittheilte." 

„Habt Shr auch von der Malerei gefprochen? gu ergriff jest mein 
Onkel das Wort. „Sch erinnere mich nicht, im Lauf der lebten 
dreißig Jahre den Fährtelofen in feinem Anftrich gefehen zu haben. 
Sch bat ihn einmal — es war um die Beit deiner Geburt, Hugh 
— er möchte fih am vierten Juli bemalen und herausputzen, und 
die Antwort, die ich darauf erhielt, ſchwebt mir noch fo deutlich 
vor, als habe fie der alte Knabe erſt geflern gegeben. ‚Wenn der 
Baum aufhört, Früchte zu tragen,‘ lautete fie im Wefentlichen, „jo 
erinnern die Blüthen nur an feine Nutzloſigkeit.““ 

„Sch ließ mir jagen, Susquefus habe einmal fogar unter den 
Indianern für einen ſehr beredten Mann gegolten.“ 

„Ich erinnere mich noch, daß er in dieſem Rufe fand, obfchon 
ich nicht fagen kann, mit welchem Recht er ihn verdiente Hin 
und wieder habe ich von ihm in der kurzen, gebrochenen Weiſe, 
wie er das Englifche fpricht, Träftige Aeußerungen gehört; aber 
im Allgemeinen verhielt er fich flet8 einfach und ſchweigſam. Mein 
Vater erzählte mir, als er zum erften Mal die Bekanntſchaft des. 
Susqueſus machte — und dieß muß nun wohl fechzig Jahre ber: 


fein — habe der alte Mann in großer Sorge geihwebt, er könnte 
in die traurige Rothwendigkeit verfeßt werden, Körbe und Beſen 
machen zu müffen; fobald übrigens in diefer Hinficht fein Gemüth 
erleichtert ward, fchien er ſtets zufrieden und unbeflimmert zu leben.” 

„Ich glaube, Diejenigen, welche am mwenigften befigen, können 
ftets am unbefümmertften fein, Sir. Jedenfalls dürfte e8 der Re⸗ 
gierung News Morks ſchwer werden, Mittel und Wege zu erfinnen, 
um Sus feiner Farmen zu berauben, fei’8 nun durch Anfechtung 
des Befiptitels, Durch Aufhebung der Bürgfchaftsverfäufe, durch 
Befteurung oder durch andere finnreiche Kunftgriffe, auf welche 
die Albany» Politiker verfallen. * 

Mein Onkel ſchwieg eine Weile, und nahm nach einer Paufe 
tiefen Nachfinnens das Gefpräh wieder auf: 

„Du fprihft von den ‚Albany Politikern‘, und diefer Ausdrud 
ruft mir eine Betrachtung in's Gedächtniß, die fich mir früher oft 
aufgedrungen hat. Es ift ohne Zweifel ein Bortheil — ja, viel 
leicht fogar zu Erledigung der Local-Angelegenheiten dieſes Landes 
nothwendig, daß ihre Verwaltung den LocalsRegierungen vertraut 
if; indeß hat dieſer Umftand ohne Frage auch eine fehr fchlimme 
Folge. Wenn die Gefepgeber fi) mit großen Staats-Angelegen- 
heiten, mit Krieg und Frieden, mit Unterhaltung von Armeen und 
Ueberwachung aller jener Interefien, welche ein Land mit dem an⸗ 
dern in Verbindung bringen, zu befaften haben, fo gewinnt der 
Geiſt eine großartigere Entfaltung, und zugleich hebt fich auch der 
Charakter des Mannes. Bringt man aber Leute zufammen, welche 
handeln müffen, wenn fie nicht als unfähig erfcheinen follen, und 
überträgt man ihnen die Eleinlicheren Zweige der Gefebgebung, fo 
iſt zehn gegen eins zu wetten, daß fich die Befchränttheit ihrer 
Erziehung ſtets in der Engherzigkeit ihrer Anfichten Eund geben 
wird. Hierin liegt der Grund des himmelweiten Unterſchieds, 
der fi, wie jeder Verſtändige einfieht, zwifchen Albany und 
Waſhington Fund gibt.“ 8 


443 


„Ihr feid alfo der Anficht, daß unfere Gefepgeber weit un⸗ 
ter denen von Europa ftehen?” 

„Nur fofern fie provinzial find — eine Eigenfchaft, die unter 
gehnen nothwendigerweiſe an Neun haftet; denn wenn man zehn 
Amerikaner vor fih Hat, fo befinden ſich unter diefen, ſelbſt wenn 
fie den gebildeten Klaſſen angehören, neun, deren Gefichtöfreis ſich 
nicht über ihre Provinz hinaus erftredt. Der Ausdrud ‚provinzial‘ 
deckt jedenfalls eine volle Hälfte der unferem Lande eigenthlimlichen 
Sünden, obgleich Viele über eine Mangelhaftigkeit lachen, von der 
fie der Natur der Sache nach Feinen Begriff haben Können, weil fie 
blos in’8 Gebiet der Einbildungsfraft gehört. Der thätige Verkehr 
der Amerikaner ſetzt fle allerdings ſchon um ihres Zeitalterd und 
um ihrer geographifchen Lage willen überrafchend wenig einer der» _ 
artigen Anfchuldigung aus; aber die letzteren Nachtheile- haben 
gleihwohl Wirkungen zur Folge, die vielleicht unvermeidlich find. 
Wenn du nach deinem Verkehr mit der europäifchen Welt Gelegen- 
heit gehabt haft, meinetwegen Einiges von der Geſellſchaft in unſe⸗ 
ren Städten zu fehen, fo wirft du verftehen, was ich meine, denn es 
handelt fih) dabei um einen Unterfchied, der fich eher fühlen, als 
befchreiben läßt. Provinziales Wefen läßt fich jedoch als eine alle 
gemeine Hinneigung zu den befchräntten Anfichten bezeichnen, die 
aus einem bedrüdten focialen Verhältniß und aus der Unbekannt⸗ 
fchaft mit der großen Welt hervorgehen — nicht mit Beziehung 
auf die Stellung allein, fondern auch im Stun der Liberalität, 
der Einfiht und einer Vertrautheit mit al’ den verfchiedenen 
Lebens-Intereffen. Doh da find wir an der Hütte.” 

Und fo war e8 auch. Der Abend konnte entzückend genannt 
werden. Bor der Thür der Hütte befand fih ein Kleiner grüner 
Raſenplatz, und Susquefus faß auf einem Schemel in dem Schat⸗ 
ten eines Baums, der die Fräftigen Strahlen der untergehenden 
Sunifonne von ihm abhielt. Jaaf hielt fih an feine Seite, weil 
er ohne Zweifel fühlte, daß dieß feiner Farbe und feiner Stellung 


444 


ziemte. Es ift abermals ein Zug in der menſchlichen Ratur, da 
der Indianer feine eigene geiftige Weberlegenheit über den Haus» 
ſklaven fühlt, während der Neger fich den Anfchein gibt, als ver- 
achte er den -rothen Mann aus dem Grunde feiner Seele. Ich 
hatte Susquefus nie in fo großartigem Koftüm gejehen, als das 
war, in welchem er diefen Abend erfchien. Gewöhnlid trug er 
feine indianiſchen Kleider, die Leggings, Die Moccafins, die obere 
Beinbekleidung und, je nach der Jahreszeit, eine Wollenvede oder 
ein Galico-Hemd; nie zuvor aber hatte ich ihn gemalt und mit 
feinen Zierrathen geſchmückt geſehen. Lebtere beflanden aus zwei 
Medaillons mit den Bildern George III. und feines Großvater: — 
aus zwei weiteren, die er von den Agenten der Republif erhalten 
hatte, aus großen Obrenringen, die faſt auf feine Schulter nieder« 
fielen, und aus Armipangen von Zähnen, die ich anfänglich für 
Menihenzähne hielt. Im Gürtel hatte er einen blank gepußten 
Zomahawf und ein in der Scheide ftedendes Meffer, während feine 
erprobte Büchfe an einem Baum lehnte — Waffen, die er jebt nur 
als Sinnbilder der Vergangenheit zur Schau ftellte, fintemal der 
Eigenthümer fie kaum in fehr wirkfamer Weiſe mehr zu gebrauchen 
vermochte. Der alte Mann hatte die Malerei mit einer für einen 
Indianer ungewöhnlichen Umficht in Anwendung gebracht, indem 
er feinen Wangen blos ein Roth auflegte, welches dazu diente, den 
früher fo fcharfen Augen, welche jetzt vom Alter etwas geträbt 
waren, mehr Glanz zu verleihen. In der gewohnten, zierlichen 
Einfachheit, die in dem Wigwam und defien Umgebung berrfchte, 
war nichts verändert worden, obichon Jaaf eine alte Livree, die er 
vordem getragen, und einen Edenhut, mit welchem er ſich fonft an 
Sonn= und Feſttagen berauszupugen pflegte, an's Tageslicht ge⸗ 
fördert hatte, um an die Ueberlegenheit eines „Niggers“ über einen 
Inſchen“ zu erinnern. 
Drei oder vier roh zufammengefügte Bänke, welche zum Mo⸗ 
_Diliar der Hütte gehörten, waren \n dioer BR nun Huitis nor, 


445 


Susquefus aufgeftellt, um den Gäften einen bequemen Sitz zu bieten. 
Dahin nun ging Prairiefeuer voran, und alle übrigen Häuptlinge 
folgten ihm. Obſchon fe fih bald in dem Kreiſe aufgeftellt hatten, 
ftund es doch eine volle Minute an, ehe fle ſich auf ihre Plätze nie= 
derließen. Sie blieben diefe ganze Zeit über ehrerbietig ftehen und 
betrachteten theilnahmvoll den alten Mann, der feinerfeits ihre Blicke 
eben fo feft und angelegentlich erwiederte. Erſt auf ein Zeichen ih⸗ 
res Führers, welcher bei dieſer Gelegenheit Pratriefeuer war, lie⸗ 
Ben fie fich nieder. Diefe Veränderung in der Stellung that jedoch 
dem Schweigen keinen Abtrag, und die rothen Männer blieben 
wohl zehn Minuten ſitzen, ohne einen Blid von dem biederen 
Dnondago zu verwenden, der feine Gäfte gleichfalls flätig in's 
Auge faßte. Während diefer Paufe Iangte der Wagen meiner Groß⸗ 
mutter an, und machte unmittelbar außerhalb des Kreifes der 
ernften, aufmerkfamen Indianer Halt, von denen nicht ein einziger 
auch nur den Kopf ummwandte, um zu fehen, wer dieſe Störung veran⸗ 
laßt habe. Keine Sylbe wurde gefprochen, und meine theure Groß⸗ 
mutter beobachtete gefpannt die Scene, während die Tieblichen Ge- 
fihter um fie her die beredteften Bilder der Neugierde, mit einigen 
fanfteren und edleren Gefühlen gemifcht, in der anziehendften Form 
Darftellten, die fih ein Menfch nur denken Tann. 

Endlich erhob fi Susquefus mit würdevollem Wefen und 
ohne fichtliche Eörperliche Anftrengung, um zu fprechen. Seine 
Stimme Fam mir etwas bebend vor, obſchon hieran mehr die Auf- 
regung feines Innern, ald das Alter Schuld trug; im Ganzen 
aber verhielt er fich ruhig, und entfaltete in feiner Rede, wenn man 
Dabei feine Jahre in Rechnung zog, eine Üiberrafchende Bündigkeit 
und Klarheit. Natürlich mußte ich mich zu Erklärung aller Vor⸗ 
gänge an den Dolmetfcher Vielzunge halten. 

„Brüder,” begann Susquefus, „Ihr feid willfommen. , Ihr 
mußtet einen langen, krummen und dornigen Bid grhyen, vx den 
alten Säuptling zu finden, deffen Stamm An (ham wor UMS 


446 


Sommern unter die Hingefchiedenen hätte zählen follen. Es thut 
mir leid, daß euren Augen am Ende einer fo langen Reife kein 
befferer Anblick zu Theil wird, und wenn ich wüßte, wie ich's an⸗ 
gehen follte, würde ich euren Rũckweg nach der untergehenden 
Sonne breiter und gerader machen. Doc ich kann dieß nidht. Ih 
bin alt. Die Tanne in den Wäldern ift kaum älter; die Dörfer 
der Blaßgefichter, die ihr in Menge auf eurer Wanderung berühr⸗ 
tet, find nicht Halb fo alt. Ach wurde geboren, als das weiße Ge⸗ 
fhlecht war wie das Mufetbier auf den Bergen — da eines und 
dort eines; jept aber gleichen fie den Tauben, nachdem fie ihre 
Zungen ausgebrütet haben. Als ich noch ein Knabe war, konnten 
meine jungen Beine nie aus den Wäldern hinaus in eine Lichtung 
fommen; jetzt aber find meine alten Beine nicht mehr im Stande, 
mich in die Wälder zu tragen, da fie fo weit abliegen. Alles if 
in diefem Lande anders geworden, nur nicht das Herz des rothen 
Mannes — diefes gleicht dem Fels, der fich nie verändert. Meine 
Kinder, ihr feid willtommen.“ 

Diefe Rede, in den tiefen, heiferen Tönen eines beifpiellos 
hohen Alters vorgetragen, obichon fich auch etwas von dem Feuer 
eines Geiftes darin ausiprach, das blos gedämpft, nicht aber erlos 
Then war — übte einen tiefen Eindrud. Ein dumpfes Gemurmel 
der Bewunderung lief durch die Gäfte hin; aber Teiner erhob fi 
zur Antwort, bis die Worte der Weisheit, die fie eben vernommen, 
Zeit genug gehabt hatten, ihre Wirkung zu entfalten. Nach einer 
Pauſe, welche für diefen Zwed hinreichend erfcheinen mochte, fland 
Prairiefeuer — ein Häuptling, der im Rathe fogar noch gefeierter 
war, als im Felde — von feinem Eige auf, um zu reden. Bir 
geben feine Antwort in freier Uebertragung. 

„Vater — deine Worte find ſtets weile — fie find ſtets wahr. 
Der Pfad zwifchen deinem Wigwam und unjeren Dörfern if 
lang — es ift ein krummer Pfad, und wir haben auf demfelben 
viele Dornen und Steine gefunden, Doch alle Schwierigkeiten 


“a 


447 


laſſen fih überwinden. Bor zwei Monaten waren wir an dem 
einen, jebt find wir am anderen Ende deſſelben. Wir find gekom⸗ 
men mit zwei Kerben an unferen Stöden. Die eine fagte ung, 
wir follen nach dem großen Berathungshaufe der Blaßgefichter 
gehen und unfern großen Blaßgefichtövater befuchen — Die andere 
wies und hieher zu unfrem großen rothen Vater, Wir find in 
dem großen Berathungshaufe der Blaßgefichter geweſen und haben 
Onkel Sam gejehen. Sein Arm ift fehr lang; er reicht von dem 
Salzfee — wir verfuchten fein Waſſer zu trinken, aber e8 war zu 
falztg — bis nach unjeren Seen in der Nähe der untergehenden 
Sonne, zu den Seen, deren Waſſer füß if. Wir haben nie zuvor 
falziges Waffer gekoftet, und fanden es nicht lieblih. Wir wollen 
es nicht wieder verfuchen, denn es verlohnt fich nicht der Mühe, fo 
weit zu reifen, um Waſſer zu trinken, das falzig ifl. 

„Onkel Sam ift ein weifer Häuptling. Er hat viele Rathge- 
ber. Die Berfammlung an feinem Berathungsfeuer muß fehr groß 
fein — fie hat viel zu fagen. Ihre Worte müffen wohl etwas Gu⸗ 
tes in fich haben, denn es find ihrer fo viele. Während wir ihnen 
zuhörten, dachten wir an unfern rothen Vater, und verlangten 
hieher zu kommen. Sebt find wir da. Wir freuen und, unfern 
rothen Vater noch am Leben und wohl zu finden. Der große Geift 
liebt einen gerechten Indianer und trägt Sorge für ihn. Hundert 
Winter find in feinen Augen wie ein einziger. Wir danken ihm, 
daß er uns den Frummen und langen Pfad führte, an defien Ende 
wir den Fährtelofen — den Biederen unter den Onondagoes — 
gefunden haben. Ich habe gefprochen.“ 

Ein Strahl der Freude ſchoß über die Züge des Fährtelofen, 
als er in feiner eigenen Sprache die mohlverdiente Bezeichnung 
vernahm, die er während der Frift eines ganzen gewöhnlichen Men⸗ 
ſchenlebens nicht wieder gehört hatte. Es war ein Titel, ein Bei- 
name, der die Gefchichte feines Verhältniffes zu feinem Stamm in 
fi barg, und weder Jahre, noch Entfernung, weder neue Schau= 


448 


pläße und neue Bande, noch Kriege und Kämpfe waren im Stand 
gewefen, auch nur den Eleinften Vorfall, welcher mit der Erwerbung 
dieſes Namens in Verbindung fland, aus feinem Gedächtniß zu 
verdrängen. Mit einer heiligen Scheu betrachtete ich den alten 
Mann, deſſen Antlit unter der Flut der Erinnerungen, die in 
feinem Geift auftauchten, zu leuchten begann, und der ausdrucksvolle 
Bid, den mir mein Onkel zuwarf, belehrte mich, daß auch er den 
ganzen Eindruck der feierlichen Scene fühlte. Bielzunge befaß die 
glückliche Eigenihaft, pari passu mit den Worten des Sprechers 
überfegen zu können; er fand zwifchen uns und dem Wagen, und 
da er fozufagen Sag für Sat ein leiſes Accompagnement zu den 
vorgetragenen Reden bildete, fo ging von dem, was gefprochen 
wurde, auch nicht eine Syibe für uns verloren. 

Nachdem Prairtefeuer feinen Sig wieder eingenommen hatte; 
folgte ein abermaliges Schweigen, welches mehrere Minuten an⸗ 
hielt, und durch nichts unterbrochen wurde, als durch einige grun⸗ 
zende murmelnde Laute von Seiten Jaafs, der außer feinem Hauss 
genoffen nte einen Indianer hatte leiden können. Wir fahen deut- 
lih, daß dem Neger diefer außerordentliche Beſuch jehr zumider 
war, aber von den rothen Männern achtete nicht ein einziger auf 
fein Benehmen. Sus, der ihm am nächften ftand, mußte fein Brum⸗ 
men wohl gehört haben, ließ fich aber keineswegs Dadurch bewegen, 
auch nur einen Moment feinen Blid von den Geftchtern der vor 
ihm fitenden Häuptlinge zu verwenden. Anderer Seits fchien aus 
der Haltung der Gäfte hervorzugehen, ald ob fie von der Anweſen⸗ 
heit des Negers gar nichts wüßten — allerdings nur ein Schein, 
da fich fpäter das Gegentheil thatfächlich herausftellte. Mit einem 
Wort, der biedere Onondago war der Mittelpunkt der Anziehung 
für die Fremden, die, wie man deutfich fehen konnte, für den Aus 
genblid alles Andere vergeffen hatten. 

Endlich gab fih unter den Rothhäuten eine leichte Bewegung 
Fund, und ein zweiter Häuptling fand von feinem Sige auf. Er 


449 


war Eleiner, als die übrigen, und von magerer anmuthlofer Geftalt, 
da feinem Neußeren, wenigftens fo lange er fich ruhig verhielt, 
jener Adel fehlte, durch den fich alle feine anderen Gefährten aus 
zeichneten. Wie ich fpäter erfuhr, führte diefer Häuptling den 
Namen Adlerflug — eine Bezeichnung, die ihm wegen des kühnen 
Schwunges feiner Beredtfamfeit beigelegt worden war. Obfchon 
beim gegenwärtigen Anlaffe fih ein tiefer Ernſt in feinem interef- 
fanten Gefichte ausfprach, bemerkte man doch deutlich, daß der 
Geift in feinem Innern nicht unter außerordentlichen Wehen arbeis 
tete. Indeß Eonnte ſich ein folher Mann nicht zum Sprechen 
erheben, ohne unter feinen erwartungsvollen Zuhörern leichte An= 
zeichen von Aufregung hervorzurufen. So behutfam auch die Roth- 
häute eine Kundgebung ihrer Gefühle zu unterdrüden pflegen, 
fonnten wir doch, als Adlerflug aufrecht daftand, unter den übrigen 
Häuptlingen eine leichte Bewegung wahrnehmen. Der Redner be= 
gann in gedämpfter, aber feierlicher Weife, und feine Betonung 
wechfelte zwifchen dem tiefen, eindrudsvollen Kehllaute und einem 
fanften Schwung auf eine Art, wie dieſe nur der vollendeten Be⸗ 
redjamfeit eigen if. Während ich ihm zuhörte, Fam e8 mir vor, 
als fei ich jet zum erften Mal Zeuge von der gewinnenden Macht, 
welche die menfchlihe Stimme auszuüben vermag. Er ſprach 
langfam und nachdrudevoll, wie e8 wahre Redner ſtets zu halten 
pflegen. 

„Der große Geift Täßt Die Menfchen verfchieden werden," bes 
gann Adlerflug. „Einige find wie die Weiden, die im Wind ſich 
beugen und im Sturm zerbrochen werden, Andere gleichen den 
Tannen mit ſchmächtigen Stämmen, wenigen Zweigen und weichem 
Holz. Hin und wieder zeigt fich eine Eiche unter ihnen, die auf 
der Prairie wächst, ihre Nefte weit hin breitet und einen lieblichen 
Schatten wirft. Diefes Holz ift hart und von großer Dauerhafs 
tigkeit. Warum hat der große Geift die Bäume fo verfchieden 
geſchaffen? — warum läßt der große Geift die Menfchen fo ver- 

Ravensneft. W 


450 


fhieden fein? Er bat feine guten Gründe dazu, obſchon wir fie 
nicht kennen. Was er thut, ik immer reiht. 

„Ih habe Redner an uniren Berathungsfeuern fich darüber 
beklagen hören, daß die Dinge fo find, wie e8 die Erfahrung lehrt. 
Sie fagen, das Land, die Seen, die Flüſſe und die Jagdgründe ger 
hörten nur den rothen Männern und ein anderer ſollte fich je 
darauf blicken laſſen. Der große Geiſt hat anders gedacht, und 
was er denkt, das gejchieht. Die Menfchen haben allerlei Farben, 
einige find rotb, wie mein Vater, einige find blaß, wie meine 
Freunde hier. Es gibt auch fchwarze, und dieß ift die Farbe von 
dem Freund meines Vaters. Er if fchwarz, obgleich das hohe 
Alter feine Haut verändert hat. Alles dieß muß fo fein, denn 
der große Geift hat es gewollt, und wir dürfen ung wicht beklagen. 

„Mein Vater fagt, er fei jehr alt — die Zanne in ven Waͤl⸗ 
dern fei kaum älter. Wir willen es. Dieß if einer von ben 
Gründen, die uns bewogen haben, fo weit herzulommen, um ihn 
zu fehen; aber wir haben auch noch einen andern, und mein Vater 
fennt ihn ebenfogut, wie wir. Seit hundert Binten und Som- 
mern if ung diefer Grund nicht aus dem Sinne gekommen. Die 
Greife haben’s den jungen Männern erzählt, und die jungen Män- 
ner, als fie älter wurden, erzählten’s ihren Söhnen. In dieſer 


Weife haben auch wir davon erfahren. Wie viele fchlimme Indianer . 


baben in diefer Zeit gelebt, find geftorben und liegen im Schooß 


der Dergeffenheit! der gute Indianer aber lebt am längften in 


unfrem Gedächtniß. Wir möchten vergeſſen, daß es je ſchlechte 
Menfchen unter unfren Stämmen gab, aber die guten vergeflen 
wir nie. 

„sh habe viele Veränderungen gefehen. In Bergleichung mit 
meinem Vater bin ich nur ein Kind; und doch fühle icy die Kälte 
von fechzig Wintern in meinen Knochen. Während dieſer ganzen 
Zeit find die rothen Männer immer mehr gegen die untergehende 
Sonne Hingezogen, und bisweilen kommt mir der Gebante, jch 


451 


werde es noch erleben, fie zu erreichen. Sie muß zwar weit abge⸗ 
legen fein, aber wer nie Halt macht, Tann eine große Strede zu- 
rüdlegen. Und gehen wir auch dahin, fo werden die Blaßgefichter 
uns folgen. Warum Alles dieß fo ifl, weiß ich nicht. Mein Vater 
ift weifer, als fein Sohn, und vielleicht im Stande, es und zu ſa⸗ 
gen. Ich fee mich nieder, um feine Antwort zu hören.“ 
Obgleich Ndlersflug fo ruhig gefprochen, und in einer Weiſe 
geendet hatte, wie ich es nicht erwartete, herrichte Doch allerfeits 
eine gefpannte Theilnahme an Allem, was jeht vorging. Der 
eigentliche Grund, warum die rothen Häuptlinge fo weit von ihrem 
Weg abgegangen waren und Susquefus befucht hatten, war noch 
nicht enthüllt worden, obfchon wir Alle diefer Erklärung mit Be- 
gier entgegenjahen; die tiefe Ehrerbietung aber, welche dieſe Fremd⸗ 
linge aus den Wildniffen des fernen Weſtens gegen unfern hoch⸗ 
betagten Freund an den Tag legten, gab ung die Berficherung, daß 
wir, wenn die Hauptfache einmal zur Sprache käme, in unfern 
Erwartungen nicht getäufcht werden würden. Auf die kurze Anrede 
des lebten Sprechers folgte wie gewöhnlich eine Baufe, und Sus⸗ 
queſus erhob fib dann abermals, um das Wort zu ergreifen. 
„Meine Kinder,” fagte er, „ich bin fehr alt. Als vor fünfzig 
Herbften das Laub flel, glaubte ich die Zeit ſei für mich gefommen, 
in die glüdlichen Jagdgründe meines Volkes zu gehen und wieder 
eine Rothhaut zu fein. Aber mein Name wurde nicht gerufen. 
Ich bin allein hier zurüdgeblieben, mitten in den Feldern, Häufern 
und Dörfern der Blaßgefichter, ohne daß ein einziges Weſen von 
meiner Farbe und meinem Gefchlecht, mit dem ich hätte ſprechen 
können, in der Nähe geweſen wäre. _ Mein Haupt ift faft weiß 
geworden. Aber je mehr die Sahre meinen Körper bedrücten, defto 
mehr wandte fich der Geift meiner Jugend zu. Ich fing an, die 
Schlachten, die Sagden und die Reifen meines mittleren Lebend 
zu vergeffen, und nur an die Dinge zu denken, die ich jah, als 
ich ein junger Häuptling unter den Onondagoes war. Mein Tag 
I” 


452 


ift jeht ein Traum, in welchem mir die Vergangenheit vor die 
Seele tritt. Warum flieht das Auge von Susquefus nach hundert 
und mehr Wintern foweit? Kann mir das Jemand fagen? Sch 
glaube nicht. Wir begreifen den großen Geift nicht und verflehen 
ebenfowenig fein Wirken. Ich bin bier, wo ich war vor der Hälfte 
meiner Zage. Jener große Wigwam ift der Wigwam meiner beften 
Freunde. Obgleich fie blaffe Gefichter haben und das meine roth 
ift, find Doch unfere Herzen von derfelben Farbe. Sie vergeffe ich 
nie — nein, nicht einen einzigen von ihnen. Ich fehe fie Alle vom 
Aelteften bis zum Jüngften. Sie fcheinen von meinem Blute zu 
fein. Dieß ift eine Wirkung der Freundfchaft und der vielen Liebe, 
die fie mir erzeigten. Was ich jept fehe, find lauter Blaßgefichter, 
und die rothen Männer, die vor meinen Augen ftehen, find Alle an 
andern Pläpen. Mein Geift weilt bei ihnen. 

„Meine Kinder, ihr feid jung, und fiebenzig Winter find ſchon 
fehr viel für einen von euch. So iſt's nicht bei mir. Warum 
ih allein hier fehen bleiben mußte in der Nähe der Jagdgründe 
unferer Väter — dieß ift mehr, als ich fagen kann. Aber fo if 
e8 und jo muß es auch recht fein. Man flieht bisweilen eine 
welfe Zanne allein in den Feldern der Blaßgefichter ftehen. Sch 
bin ein folder Baum. Er wird nicht umgehauen, weil das Holz 
unnüß if und die Squaws es nicht einmal zum Stochen benupen - 
wollen. Bann die Winde wehen, fcheinen fle nur in feiner Nähe 
zu blaſen. Er ift des Alleinftehens müde, Tann aber nicht fallen. 
Der Baum fehnt ſich nach der Art, aber Niemand legt fie an feine 
Wurzel. Seine Zeit ift noch nicht gekommen. So ergeht es mir. 
— auch meine Zeit ift noch nicht da. 

„Kinder, meine Tage find jebt Träume von meinem Stamm. 
Sch fehe den Wigwam meines Vaters. Er war der befte im Dorf. 
Mein Vater war ein Häuptling, und das Wildpret mangelte nie 
in feiner Hütte. Ich fehe ihn noch, wie er von dem Kriegspfad 
fommt, mit vielen Skalpen an feinem Spieße. Er hatte viele 


453 


MWampums und trug viele Medaillone. Die Skalpe an feinem 
Spieß waren bisweilen von rothen Männern, bisweilen von Blaß⸗ 
gefichtern, und er hatte fie alle felbft genommen. Auch meine Muts 
ter fehe ih. Sie liebte mich, wie die Bärin ihre Jungen. Ich hatte 
Brüder und Schweftern — auch fie fehe ich. Sie lachen, fie fpielen 
und fcheinen glüclich zu fein. Da iſt die Quelle, wo wir Wafler 
in unfere Kürbisflafchen füllten, und dort ift der Hügel, wo wir 
wartend lagen, bis die Krieger zurüdfamen vom Kriegspfad und 
von der Jagd. Alles hat einen lieblichen Anblick für mid, Dort 
ftand ein Dorf des Onondagoes, meines Bolkes, und vor hundert 
und zwanzig Winter liebte ich fie. Ich Liebe fie noch immer, als 
fei diefe Zeit nur ein Winter und ein Sommer. Die Zeit übt 
teinen Einfluß auf den Geiſt. Fünfzig Jahre lang dachte ih nur 
wenig an mein Boll. Meine Gedanken waren auf der Jagd und 
auf dem Kriegspfad; ich theilte die Streitigkeiten der Blaßgefichter, 
unter denen ich lebte. Seht aber, ich wiederhole e8, denke ih am 
meiften an die Vergangenheit und an meine jungen Zage. Es ift 
ein großes Geheimniß, daß wir fernliegende Dinge fo deutlich fehen 
können, während das unfern Bliden entgeht, was ung fo nahe iſt. 
Und dennoch ift es fo. 

„Kinder, ihr fragt, warum die rothen Männer fortwährend 
- der untergehenden Sonne zuziehen und warum die Blaßgefichter 
ihnen folgen. Ihr fragt, ob der Platz, wo die Sonne untergeht, 
je zu erreichen fein wird, und ob wohl die blaffen Menjchen auch 
dahin gehen, um zu pflügen, zu bauen und die Bäume zu fällen. 
Wer geſehen hat, was fich ſchon zutrug, follte auch wiffen, was 
wieder eintreffen wird. Sch bin fehr alt, ſehe aber nichts Neues. 
Ein Tag ift, wie der andere. Mit jedem Sommer kommen diefel- 
ben Früchte, und die Winter find die nämlichen. Der Vogel baut 
oftmalen in denfelben Baum. 

„Meine Kinder, ich habe lange unter den Blaßgefichtern ge= 
lebt; aber dennoch if mein Herz von der nämlichen Farbe, wie 


44 


mein Gefiht. Ich babe nie vergeſſen, daß ich ein rother Man 
bin, und die Ennondagoes lebten ſtets in meinem Gedaächtniß. Als 
ich noch jung war, dedten jene Waͤlder dieſe Gegend. Nah und 
fern forangen der Hirih und das Muſethier unter den Bänmen. 
Mur der Jäger gebot ihnen Halt. Cs if anders gemorden! Der 
Bing hat den Hirſch fortgeſcheucht, und Das Mujethier bleibt nicht 
in einer Gegend, wo es die Gloden einer Kirche hört, denn es 
weiß nit, was dieß bedeutet. Der Hirich gebt zuerſt. Der rothe 
Mann hält fi an feine Epur und das Blaßgeficht bleibt nie weit 
zurüd. So iſt's geweſen, feit Die großen Canoes der Fremden 
zuerf in unſre Gewäfler kamen; io wird es jein, bis ein anderer 
Salzſee erreicht if unter der niedergebenden Eonne. Bann der 
rothe Mann diefen andern See fieht, muß er Halt machen, und in 
den offenen Zeldern flerben, wo es Rum, Tabak und Brod in 
Menge gibt — oder er muß geben in den großen Salzſee des 
Beten und ertrintn. Barum dieß fo if, Kann ich nicht fagen. 
Wie es war, weiß ich, und daß es fo fommeu wird, glaube id. 
Es if ein Grund dafür vorhanden, aber Niemand kennt denjelben, 
als der große Geifl.” 

Susquefus hatte mit ruhiger Klarheit geſprochen und Biels 
zunge überfeßte mir feine Rede Eap für Satz. Die Häuptlinge 
hörten mit fo tiefer Aufmerkjamkeit zu, daß ich ihr unterdrücktes 
Athmen hörte. Wir Weißen find jo mit uns felbft und unferen 
zeitlichen Angelegenheiten beichäftigt — auch find wir der Meinung, 
daß alle menſchlichen Raſſen jo weit unter ung ſtehen, daß wir 
felten Zeit oder Luft haben, über die Folgen unfrer Handlungen 
nachzudenken. Aber gleich dem Rade, das auf der Landſtraße da- 
hinrollt, erdrüden wir rüdfichtslos manches untergeordnete Weſen 
auf unferm Pfade. So haben wir's dem rothen Menfchen gegen- 
über gehalten, und fo wird es, wie der Fährteloje fagte, fortgehen. 
Er wird gedrängt werden — dem Salze des fernen Weſten, 

in den er fich hineinſtürzen und ertrinten way, wenn ih 


455 


tehren will, um in der Mitte des Weberfluffes zu fterben. Onkel 
Ro Eannte die Indianer und ihre Sitten mehr als irgend Jemand 
von ung, vielleicht meine Großmutter ausgenommen — denn fe.war 
in ihrem früheren Leben in häufige Berührung mit ihnen gekommen, 
und hatte als junges Mädchen mit ihrem Onkel, welchen man den 
„Kettenträger" nannte, fogar in den Wäldern und in der Nähe 
des Stammes der Onondagoes gewohnt, von denen fie den Namen 
Susqueſus oft mit hoher Achtung nennen hörte, obgleich Diefer 
fhon damals von feinem Volke gefchieden war. Nachdem unfer 
alter Freund feinen Si wieder eingenommen hatte, rief fie durch 
einen Wink ihren Sohn und mich an die Seite des Wagens, um 
mit ung über die Rede des greifen Kriegers zu fprechen, denn 
Vielzunge hatte ung die Ueberfegung laut genug mitgetheilt, daß 
unjre ganze Gejellihaft fie hören Eonnte. 

„Bei dem gegenwärtigen Befuch handelte ſich's nicht um ein 
bejonderes Anliegen, fondern nur um eine Formlichkeit,“ fagte fle. 
„Wahrfcheinlich werden die Fremden morgen mit ihrem wahren 
Zwede herausrüden. Was bis jetzt vorflel, beftand blos aus Höf- 
lichfeitSbezeugungen, mit dem Heinen Wunſch untermifcht, die Weis⸗ 
heit des Alters zu hören. Der rothe Mann übereilt fich nie, und 
Ungeduld ift ein Mangel, den er gerne und Weibern zur Laft legt. 
Nun, obſchon wir Srauenzimmer find, können wir doc warten und 
meinetwegen auch einige von und weinen, wie du dieß eben jebt, 
namentlich an Miß Mary Warren, bemerken kannt." 

Dieß war vollfommen richtig, denn die fchönen Augen ſämmt⸗ 
licher vier Mädchen glänzten in Thränen, während die Wangen der 
befonders hervorgehobenen jungen Dame noch feucht von dem Naß 
waren, das fich bei ihr im reichlicher Menge ergoffen hatte. Bei 
der Anfpielung auf ein ſolches Uebermaaß von Theilnahme trodnete 
fie ihre Augen, und ihr Antlig erglühete in einem Grade, daß ich's 
für paſſend hielt, meine Blicke abzuwenden. 

Während Diejes Zwifchenfpiels Rand Braitieieuer herum SR 


und machte dem Einleitungsbefuche durch eine abermalige kurze 
Nede ein Ende. . 

„Vater,“ fagte er, „wir danfen dir. Was wir gehört haben, 
fol nicht in Vergeffenheit gerathen. Alle rothen Männer fürchten 
fih vor jenem großen Salzfee unter der niedergehenden Sonne, in 
welchen fie, wie die Sage geht, jede Nacht fich eintaucht. Was du 
ung gejagt haft, wird und veranlaflen, mehr darüber nachzudenfen. 
Wir kommen weit her und find müde. Wir wollen jegt nad) un⸗ 
frem Wigwam gehen, um dort zu eifen und zu fchlafen. Morgen, 
wenn die Sonne dort ſteht“ — er deutete nach einem Theile des 
Himmels, durch welchen ungefähr die Stunde neun Uhr bezeichnet 
wurde — „wollen wir wieder fommen und unfre Ohren öffnen. 
Der große Geift, der dich fo lang am Leben erhielt, wird dich auf 
bis dahin ſchonen, und wir wollen nicht vergeflen, zu Eommen. Es 
ift zu Tieblich für ung, dich in unferer Nähe zu willen, als daß ung 
unfer Gedächtnig untreu werden könnte. Lebe wohl." 

Die Indianer erhoben fich jet in Maffe und blieben noch eine 
volle Minute in tiefem Schweigen ftehen, um Susquefus zu bes 
trachten; dann entfernten fie fich fehnellen Schritts in einer Zeile, 
und folgten ihrem Führer nach dem Quartiere, welches fie für die 
Nacht beherbergen follte. Wie der Zug lautlos dahinging, übers 
flog ein Schatten das düftere Antlip des Fährtelofen und er Lächelte 
denfelben Zag nicht wieder. 

Diefe ganze Zeit über hatte der Neger und Alterdgenoffe des 
Indianers durch murrende Töne feine Unzufriedenheit darüber aus⸗ 
gedrüdt, daß fo viele Rothhäute anmwefend waren, obſchon fein 
Freund nicht darauf achtete und es vielleicht nicht einmal hörte, 

„Bas Ihr thun mit denen Infchen?” brummte er, nachdem 
Die Fremdlinge verfchwunden waren, „Nie gut, wenn folche Leut 
fommen. Wie viel mal fie treib’ Deifelei in der Wald, wie Ihr 
und ich nicht fehr weit ab war, Sus. Wie alt Ihr werd’ Rothe 
haut und vergeßlih. Niemand kann's aushalt' mit farbig’ Mann. 


457 


Bob, ich zuweil’ glaub’, ich Ieb’ ebig, und es mir oft wunnerbar, 
wenn ich daran dent’, wie lang ich bleib auf diefer Erd'!“ 

Dergleihen Ergüffe waren nichts Ungewöhnliched bei dem 
alten Zaaf, und Niemand achtete darauf. Auch fehien er felbft 
"Feine Antwort zu erwarten, und e8 dachte Niemand entfernt daran, 
ihm etwas darauf zu erwiedern. Was den Fährtelofen betraf, fo 
erhob er ſich mit traurigem Gefichte, und begab fich nach der Hütte, 
einem Manne gleich, welcher wünfcht, mit feinen Gedanken allein 
gelaflen zu werden. Meine Großmutter ertheilte Weifung, daß der 
Wagen weiter fahren jollte, und wir Uebrigen kehrten zu Fuß nad 
dem Haufe zurüd, 


Einundzwanzigftes Kapitel. 


a tof’gen Tageb füße Freundin, 

Mi I bein” —A ein; 
Luftichen leid wiegt ſummend ha bie Bime, 

nd feine Klage mengt der Kulul d 
—— 


Den Abend verbrachte id im Familienkreiſe unter meinem 
eigenen Dache. Obſchon jept meine Anwefenheit auf den Befig- 
thum Allen, die fih möglicherweife dafür intereffirten, bekannt war, 
fo kann ich doch nicht fagen, daß ich wegen der Untirenters und 
der Gefahren, die vielleicht aus dieſer Entdedung hervorgingen, 
fonderliche Beforgniffe hegte. Die Memmenhaftigkeit der „Inſchens“ 
in Anwefenheit der eigentlichen Indianer und ihre frühere Groß» 
thuerei, die man für wahren Muth gehalten hatte, dienten nicht 
dazu, den Unzufriedenen Achtung zu erwirken, fondern machten mich 
im Gegentheil geneigt, ihrem Verfahren weit gleichgültiger zuzu⸗ 
fehen, al8 wohl fonft der Fall gewefen wäre. Ich fühlte mid 
glüdlih im Umgang mit meiner Schwefter, mit Mary und den 
Mündeln meines Onkels, fo dag ich den Ruheſtörern erft wieder 
einen Gedanken zuwandte, als es ſchon ganz dunkel war. Die 
Art übrigens, wie John, nachdem fi die Damen zurückgezogen 
hatten, Thüren und Fenfler verrammelte, machte einen unbehag⸗ 
lichen Eindrud auf mich, und meinem Onkel erging es ebenfo. 


x 


459 


Diefer anfcheinend wichtige Dienft war kaum beforgt, als mein 
treuer maitre d’hötel — denn dieß war gewiffermaßen die GStel- 
fung des Engländer8 — wie Robinfon Cruſoe bewaffnet zu uns 
in die Bibliothek kam, wo ich und mein Onkel ſeiner harrten. Er 
brachte Jedem von uns eine Drehpifiole nnd eine Buchſe mit ge⸗ 
hörigem Vorrath von Munition. 

„Miſſus“ — denn jo pflegte John meine Großmutter fortwäh- 
rend zu nennen, obſchon dieß bei engliichen Bedienten, nachdem fie 
drei Monate im Land gemwefen find, felten mehr vorfömmt — 
„Miſſus bat Befehl ertheilt, einen großen Vorrath von Waffen ein- 
zuthun, Mr. Hugh, und wir Alle find mit Büchjen und folchen 
Piftolen bewaffnet. Sie felbft hat für fih und Miß Martha Ge- 
wehre in ihrem Zimmer; da fie aber meint, ihr Eönnt beſſeren Ge- 
brauch davon machen, als Frauenzimmer, fo erhielt ich die Weifung, 
fie zu holen und euch anzubieten, Gentlemen. Sie find insgefammt 
geladen und werden ſich als gute Schugmittel erweifen." 

„Sicherlich hat es doch noch Feinen Anlap gegeben, von derars 
tigen Wehren Gebrauch zu machen?” rief mein Onfeh 

„Man kann nie wiflen, Mr. Roger, wann der Feind Eömmt. - 
Seit der Anwejenheit der Damen find wir zwar nur dreimal beun- 
ruhigt worden, und zum Glüd lief e8 ohne Blutvergießen ab, ob⸗ 
ſchon e8 zwiſchen und und dem Feind zum Schießen fam. Wenn 
ich fage, daß fein Blut vergoffen wurde, fo muß ich beifügen — 
auf unferer Seite lief e8 unblutig ab; denn wir fonnten nicht er⸗ 
fahren, in weldhem Grade die Antis gelitten haben, die nicht wie 
wir eine fteinerne Mauer zum Schirme hatten,” 

„Himmlifhe Barmherzigkeit, hievon hatte ich Feine Ahnung! 
Hugh, das Land ift in einem Tchlimmeren Zuftand, als ich erwartet 
hatte, und die Damen dürfen’ung über Morgen keine Stunde mehr 
bier bleiben.” 

Da zu den Damen, welche mein Onkel im Auge hatte, Mary 
Warren nicht gehörte, fo faßte ich den Gegenfland nicht ganz von 


% 


460 . 


feinem Geſichtspunkte auf. Es wurde übrigens nicht weiter von 
der Sache gefvrochen, und kurze Beit nacher fchulterte Jeder feine 
Büchfe, um nad) feinem Gemach zurüdzufehren. 

Es war Mitternacht vorbei, als ich mein Zimmer erreichte; 
aber ich fühlte Leine Neigung zum Schlafen. Der Tag war für 
mich wichtig und reich an Aufregung gewefen; auch übten Die heu⸗ 
tigen Erlebniſſe noch immer einen Einfluß auf mich, der mid an 
ein Zubettegehen nicht denken ließ. Nachdem die Thüren gefchlof- 
fen waren, und keine Bußtritte fich mehr vernehmen ließen, herrfchte 
bald durch das Haus eine tiefe Stille, und ich begab mich an ein " 
enter, um in die fchweigende Nachtlandſchaft hinauszufehen. Der 
Mond war nahezu voll, und verbreitete hinreichend Licht, um bie . 
näheren Gegenfände deutlich unterfcheiden zu laflen. Der Anbiid 
bot nichts Ungewöhnliches dar, fondern hatte blos einen Iändlih 
lieblichen Charakter. Der Fluß und die weiten Wiefen waren von 
diefer Seite des Haufes aus nicht zu fehen, wohl aber die Straße, 
melche fih auf dem Nafen hinzog, das Farmhaus, die ferne Kirche, 
die hübfche Rectorei (Mary's Wohnung) und eine lange Reihe von 
armen, die im Thal hin lagen und weſtlich gegen die Höhen 
hinauf liefen, 

Nah und fern fchien alles in die tiefe Ruhe der Nacht bes 
graben zu fein. Selbft das Vieh in den Feldern hatte ſich zum 
Schlafen niedergelegt, denn es folgt gerne, wie der Menſch, dem 
Geſetz der Ratur und theilt feine Zeit- nach Licht und Finſterniß 
ein. Sohn hatte die Lichter in mein Ankleidezimmer geftellt und 
die inneren Läden gefchloffen; ich aber ſaß an einem Fenſter des 
Schlafgemachs auf einem Stuhl, nur von dem Monde beleuchtet, 
der fich feinem Untergang näherte. Ich hatte ein halbes Ständ- 
chen oder mehr über die Ereigniffe des Tages Betrachtungen ans 
geftellt, ald es mir vorfam, als bewege fih auf dem Pfade, der 
zum Dorf führte, und der von der gewöhnlichen Landflraße ver- 
ſchieden war, ein Gegenſtand. Diefer Weg lief einige taufenb 


“Me 


461 


Schritte durch meine eigene Farm und über meine Gründe, war 
auf eine beträchtliche Entfernung hin zu jeder Seite mit hohen 
Zäunen begränzt und führte, jobald er die freien Felder verließ, 
durch das Gebüfch des Raſens. Er war angelegt worden, damit 
mein Großvater jeine Felder befahren Eonnte, ohne von Thoren oder 
Hemmftangen geftört zu werden, und lief außerdem durch den mehr 
erwähnten Waldausläufer, fo daß man, wenn man nach dem Dorfe 
wollte, eine volle Viertelftunde Wegs erfparte. Diefer Pfad wurde 
von denen, welche beritten das Neft verließen, oder nach demfelben 
famen, oft benüßt, aber in der Negel nur von Angehörigen der 
Familie. Obgleich er fo alt war, ald das Neft jelbft, Fannten 
Andere ihn doch nur wenig, weil man nicht der allgemeinen Lieb» 
haberei für die Deffentlichkeit nachgegeben und zwifchen dem Neſt⸗ 
haus und der Stelle, wo er jenſeits des Waldes ganz in der 
Nähe des Dorfs mit der Straße fich vereinigte, ein gefundes Wohn- 
häuslein angebracht hatte. Ich konnte die ganze Linie dieſes Pri- 
vatwegd, mit Ausnahme einiger Zwifchenräume, die von Bäumen 
und Dickicht verborgen waren, von dem Punkte an, wo er endigte, 
big zu feinem Eintritt in den Wald überbliden. Sa, es fand hier 
fein Irrthum flat. So fpät die Stunde auch war, galopirte 
doch ein Reiter oder eine Reiterin unter den Zaungeländern dahin, 
bald deutlich unterſcheidbar, bald auch wieder den Bliden verloren, 
Ich war des Phantoms anfichtig geworden — denn zu fo unge- 
wöhnlicher Stunde und in der trügerifchen Beleuchtung brauchte 
fih die Einbildungskraft nicht fehr anzuftrengen, um der Geftalt 
einen gefpenftifchen Charakter beizulegen, als es eben aus dem 
Walde auftauchte, und Eonnte mich über die Richtigkeit meiner 
Entdedung nicht mehr täufchen. Auf dem Rafen ging es durch 
einen ziemlich beholzten Hohlweg, und kaum war der befremdliche 
Gegenftand meinen Bliden entſchwunden, als ich meine Augen 
begierig nach der Stelle hinlenkte, wo er wieder aus feinem Ver⸗ 
fe auftauchen mußte. 


2 


462. 


Bor dem Hohlweg führte der Pfad noch zwanzig Ruthen weit 
im Schatten dahin; dann bog er fich quer über den Hafen gegen 
die Thüre zu und lag auf einer doppelt fo großen Entfernung in 
vollem Mondlicht da. Wo die Beichattung endigte, fand eine 
einzelne Eiche mit einer Ruhebank, welche während der Hitze des 
Sommers von den Damen fleißig befucht wurde. Dein Auge 
wanderte von diefem Punkte aus, welcher heil beleuchtet war, nach 
dem hin, wo der Hohlweg aufhörte. Hier Eonnte ich nun eben 
noch den ſich bewegenden Gegenſtand wahrnehmen, und ich folgte 
demjelben auf's Aufmerkjamfte. Das Pferd jagte im Galop die 
Anfteigung herauf und ermäßigte feine Eile nicht früher, bis unter 
der Eiche die Zügel angehalten wurden. Sept bemerkte ich zu 
meiner großen Ueberrafchung, daß eine weibliche Geftalt mit großer 
Behendigkeit aus dem Sattel fprang und ihr Thier im Schatten 
des Baumes feftband. Dieß war kaum gefcheben, als fie fi, 
augenfcheinlich "in großer Haft, dem Haufe zu bewegte. Da ih 
die Familie nicht ſtoͤren wollte, fo verließ ich jebt auf den Zehen 
und ohne Licht mein Zimmer, weil der Mond heil genug in die 
Hausfluren ſchien, um meinem Zwed zu dienen. Ich eilte in 
möglichfter Schnelligkeit. nach dem Erdgefchoß hinunter, mußte 
aber dort die Bemerkung machen, daß mir dennoch Jemand zu⸗ 
vorgefommen war. Als ich nämlich dig Kleine Seitenthüre er⸗ 
reichte, an welcher der Pfad endigte und wo die Damen, wenn 
fie ausreiten wollten, ihre Pferde zu befteigen pflegten, fand ich 
eine Frauengeftalt, die ihre Hand an das maffive Schloß gelegt 
hatte, als wolle fie eben den Schlüflel umdrehen. Dan. denke 
fih) mein Erflaunen, als ich beim Näherfommen in dem matten 
Lichte, das durch ein Kleines Fenfter über der Thüre einflel, Mary 
Warren erkannte, 
Diefe unerwartete Entdedung kam mir in hohem Grade bes 
fremdlich vor; aber gleihwohl Tomte id wicht wahrnehmen, daß 
meine Ankunft einen überragenden Godvo& a Kir weh 


463 


Bielleicht hatte fie, als ich.die Treppe herunterfiieg, meinen Tritt 
gehört, und dieß mochte wohl der Grund gewefen fein, daß fie auf 
die Begegnung gefaßt war. 

„Ihr habt fie auch gefehen, Mr. Littlepage — nicht wahr?" 
redete mich Mary in gedämpftem Tone an. „Was kann fle mög 
licherweife zu fo fpäter Stunde hieherführen?” 

„Ihr wißt alfo, wer die Perfon ift, Miß Warren?” entgeg= 
nete ich, und ein unbefchreibliches Wonnegefühl folgte meiner Ueber⸗ 
rafhung, als ich mir vergegenwärtigte, das holde Mädchen, wel⸗ 
ches noch eben fo angekleidet war, wie eine Stunde vorher, als es 
das Befuchszimmer verließ, müſſe, wie ich felbft, Mondſcheinbetrach⸗ 
tungen angeftellt haben — eine Art Romantik, die wenigftens auf 
eine Aehnlichkeit, auf Geſchmack, wo nicht auf eine geheime Sym⸗ 
pathie zwilchen ung hindeutete. ” 

„Allerdings,“ erwiederte Mary in feſtem Zone. „Ich glaube, 
in diefer Perſon kann ich mich nicht leicht täuſchen. Es iſt Op⸗ 
portunity Newcome.“ 

Meine Hand faßte den Schlüfel, und ich drehte ihn im Schloſſe 
um. Der noch vorhandene Riegel war gleichfalls bald zurüdge- 
fchoben, und wir öffneten die Thüre. Richtig fahen wir auch die 
erwähnte Perfon nur zehen Fuß von der Treppe entfernt, die fie 
ohne Zweifel heranzufteigen gedachte. Sie zeigte große Ueber⸗ 
raſchung, als fie bemerkte, wer ihre Pförtner waren, eilte aber 
in's Haus und blicte ängftlich zurüd, als fürchte fie ſich vor Ver⸗ 
folgung oder Beobachtung. Ich ging nad dem Bihliothefzimmer 
voraus, zündete die Lampe an, und wandte mich dann an meine 
beiden ftummen- Begleiterinnen, um mir über diefen befremdlichen 
Beſuch Aufklärung zu erbitten. 

Opportunity war ein Brauenzimmer von etwa ſechsundzwan⸗ 
zig Jahren und nicht ohne große perfünliche Reize. Der fcharfe 
Nitt und die fürzliche Aufregung hatten das Roth ihrer Banaeı 
erhöht jo daß fie ungewöhnlich lieblich aus oh. WAXVNo) wit 


464 


Opportunity Leine Berfon, die in mir eine Liebesflamme hervor⸗ 
rufen konnte, obfchon mir bekannt war, daß fie dieß längſt beab- 
fihtigt hatte. Ich muß geftehen, daß ich dem Argwohn Raum 
gab, ihr gegenwärtiges Anliegen ftehe mit diefem Plan in Ber- 
bindung, weßhalb ich darauf gefaßt war, ihrer Mittheilung nur 
mit Vorfiht Gehör zu ſchenken. Was dagegen Opportunity be= 
traf, fo zögerte fie damit, und die erfien Worte, die über ihre 
Lippen gingen, waren nichts weniger, al& zart oder frauenhaft. 

„Ei der Taufend!" rief Opportunity, „ich hätte nicht erwartet 
euch Zwet zu diefer Stunde der Nacht allein zu treffen!” 

Ich Hätte fie in Die Zunge Tneipen mögen, um fie von ihrer 
Neigung, gleich das Aergſte zu denken, zu heilen; die Beforgniß 
für Mary Warren bewog mic jedoch, ihr einen ängſtlichen Blick 
zuzuwenden. Nie hat übrigens das ruhige Bewußtfein der Unſchuld 
beffer fich geltend gemacht, als in der Art, wie das holde Mädchen 
fich diefem rohen Angriff gegenüber benahm — einer Unfchuld, bie 
feiner geheimen Abficht, einem geheimen Wunfche, Die Gefühle zu 
beunruhigen, Raum gibt, 

„Dir hatten ung bereits nach unferen Schlafgemächern zurück⸗ 
gezogen,” antwortete das edelfinnige Mädchen, „und ich glaube, 
in meinem Flügel liegt ſchon Alles im Bett und in tiefem Schlafe. 
Sch fühlte mich jedoch noch nicht aufgelegt, das Lager zu fuchen, 
und ſaß am Fenſter, um die fchöne Mondfcheinlandichaft zu bes 
trachten, als ich Euch aus dem Wald heraus reiten und den Pfad 
herauffommen ſah. Ich erkannte Euch, wie Ihr an der Eiche an⸗ 
langtet, und eilte herunter, um Euch einzulaffen, weil ich mir wohl 
denken konnte, daß nur etwas Außerordentliches Euch zu jo jpäter 
Stunde hieher führen mußte.” 

„DH, durchaus nichts Außerordentliches,‘ entgegnete Miß Oppor⸗ 
tunity in unbefümmerter Weife. „Ich Liebe den Mondfchein fo gut wie 
Hr Mary, und Ihr wißt ja, daß ich eine vefperate Reiterin bin, 
Ich Hielt es für vomantifch, nach dem Neft herüber zu galopiren 


465 


und Morgens zwifchen ein und zwei Uhr wieder zurücdzufehren. 
Weiter iſt's nicht, kann ich Euch verfichern.” 

Die Ruhe, mit welcher fie dieß ſprach, verblüffte mic) nicht 
wenig, obgleich ich nicht thöricht genug war, auch nur eine Syibe 
davon zu glauben. Allerdings war Opportunity mit einer ziem⸗ 
lihen Portion gemeiner Sentimentalität begabt, welche manche 
Mädchen irrthümlicher Weife für feine Bildung zu halten geneigt 
find. Indeß fand Doch nicht von ihr zu erwarten, daß fie um 
Mitternacht und allein dieſen Weg machte, ohne einen befonderen 
Zweck dabei im Auge zu haben. Es fiel mir ein, letzterer könnte 
auf ihren Bruder Beziehung haben, weßhalb fie natürlich ihre 
Mittheilungen unter vier Augen anzubringen wünjchte. Wir hatten 
an einem Tiſch, der in der Mitte des Zimmers ftand, Plab ge⸗ 
nommen; Mary und ich jaßen nebeneinander, Opportunity aber 
an der entgegengejehten Ede. Ich fehrieb nun einige Worte auf 
einen Streifen Papier, um Mary zu bitten, fie möchte mich mit 
unferem Bejuch allein laffen, und ſchob ihr das Billet in einer 
Weiſe zu, daß Opportunity's Argwohn nicht gewedt wurde, in» 
dem ich zu gleicher Zeit mich mit Lebterer über die ſchöne Nacht, 
über das Wetter und über ihren Spazierritt unterhielt. Während 
wir fo befchäftigt waren, erhob fih Miß Warren und verließ ruhig 
das Zimmer. ‘Dieß gefchah fo leife, daß ich glaube, meine zurüd« 
bleibende Gefährtin bemerkte es im Augenblid nicht einmal. 
Ich glaube, Miß Opportunity,” bemerkte ich, „Ihr habt durch 
die Andeutung über unfer Alleinfein Mary Warren vertrieben.” 

„Ah Himmel, was liegt daran? Ich bin daran gewöhnt, mit 
Gentlemen allein zu fein, und denfe mir nichts dabei. Aber find wir 
auch wirklich unter ung, Mr. Hugh — werden wir nicht belaufcht ?” 

„Vollkommen, wie Ihr ſeht. Wir Beide und Mary find, 
glaube ich, die einzigen Perfonen im Haufe, die nicht zu Bett find. 
Sie ſcheint ein ‚wenig gefränft zu fein und hat und deßhalb ver- 
laſſen; wir find alfo ganz allein.” 

Ravensneft. 30 


466 


„Db, ih kümmre mich nicht viel um Mary Warrens Gefühle, 
Mr. Hugh. Sie ift eine gute Kreatur” — ja, diefe elegante junge 
Dame bediente fi) wirklich dieſes außerordentlihen Wortes — 
„und muß ſchon aus Religiofität nachfichtig fein. Außerdem hat 
fie nur einen bifchöflichen Geiftlichen zum Bater, und wenn Eure 
Familie fortzieht, fo kann ich Euch fagen, daß diefes Glaubens⸗ 
. befenntniß in Ravensneft nicht mehr lange beftehen wird.” 

„So Tann ich nur erfreut fein, daß meine Familie noch hier 
ift, da ich dDiefes Glaubensbefenntniß ehre und liebe. Der Pfründe 
Toll e8 an einer guten Begabung nicht fehlen, fo lange der habgierige 
und neuerungsfüchtige Zeitgeift den Littlepage'8 noch etwas zur 
Berfügung läßt. Was Miß Warren betrifft, fo ift es mir lieh, 
aus Eurem Munde ihren nadhgiebigen Charakter rühmen zu hören.“ 

„Ich weiß dieß wohl und beabfichtige mit meinen Worten 
nicht, in Eurer Anfchauungsweife einen Wechſel bervorzubringen, 
Mr. Hugh. Mary Warren wird übrigens fi) durch meine heutige 
Bemerkung morgen nicht mehr anfechten Laffen; ich glaube nicht, 
‘daß fie fih nur halb fo viel daraus macht, als ich gethan haben 
würde. wenn fie gegen mich geäußert worden wäre.“ 

Dieß mochte wohl feine volle Richtigkeit haben, denn Mary 
Warren nahm die Andeutung -auf, wie es bei arglofen unfchuldigen 
Seelen ftets der Fall ift, wenn ihnen ihr Gewiſſen nichts vor 
zuwerfen hat, während Opportunity's Geift geeignet war, die 
Rüftung anzulegen, die ihr erfahrungsgemäß gut paßte. 

„Sicherlich habt Ihr diefen langen Spazierritt nicht blos deß⸗ 
halb gemacht, um den Mond zu bewundern, Miß Opportunity," 
warf ich jet gleichgültig hin, um fle auf den eigentlichen Gegen- 
ftand ihres nächtlichen Befuchs zu bringen. „Wenn Shr die Güte 
haben wollt, mir den wahren Zwed mitzutheilen, jo werde id 
Eud mit Bergnügen Gehör ſchenken.“ 

„Aber wie — wenn Mary am SHÄRMAH Künde und horchte?* 
entgegnete die elegante ‚Kreatur‘ wit den frame meh genen 


m—un. 


. 467 


Sinnes. „Um eine ganze Münzftadt voll Geld möchte ich nicht, 
daß fie hörte, was ich Euch mitzutheilen habe.“ 

„Sch glaube nicht, daß wir etwas der Art zu beforgen haben,“ 
antwortete ich, erhob mich aber dennoch von meinem Sig und warf 
die Thüre weit auf. „Ihr könnt Euch felbft überzeugen, daß Nies 
mand da ift, wir alfo ungeftört fprechen können.” 

Opportunity war übrigens nicht fo leicht zufrieden geftellt; 
denn da fie ſelbſt einen neugierigen klatſchſüchtigen Charakter be= 
ſaß, ſo konnte fie fich nicht wohl denken, daß möglicherweife Andere 
ſich nicht von denfelben Gefühlen leiten ließen, wie fie. Sie fand 
Daher auf, ging auf den Zehen in die Flur hinaus und hielt eigene 
Umſchau. Nachdem fie ſich endlich überzeugt hatte, daB wir nicht 
belaufcht wurden, kehrte ſie nach dem Zimmer zurück, drückte die 
Thüre leiſe zu, winkie mir Platz zu nehmen, ſetzte ſich ganz in 
meine Nähe und ſchien dann endlich eine Geneigtheit zu verrathen, 
zur Sache zu kommen. 

„Dieß iſt ein ſchrecklicher Tag geweſen, Mr. Hugh,“ begann 
fie jetzt mit einer Miene der Bekümmerniß, die fie ohne Zweifel 
wirklich fühlte. „Wer hätte auch glauben follen, daß hinter dem 
Straßenmufifanten Ihr fledtet und der alte deutfche Uhrenhaufirer 
Mr. Roger war! Wahrhaftig, die Welt feheint ganz verkehrt: zu 
werden, und Niemand fann mehr wiflen, ob er an feinem rechten 
Plage if!" 

„Es war vielleicht ein thörichtes Abenteuer; indeß muß ich 
fagen, daß wir ihm einige fehr wichtige Geheimniſſe verdanken.“ 

„Dieß ift eben das Schlimme. Ich vertheidige Euch jo gut 
ih Fann und fage meinen Brüdern, Ihr habet nichts gethan, als 
was fie jeden Augenblid felbft thun würden, wenn aud nur eine 
halbe Farm davon abhinge, während in Eurem Falle möglicher⸗ 
weiſe mehr als hundert in Frage ſtehen.“ 

„Eure Brüder beklagen ſich alſo, daß ich verkleidet unter den 
Antirenters auftrat.“ 


X 


468 


„Ja wohl, ganz defperat, Mr. Hugh — fie find völlig außer 
fih darüber. Wie fie fagen, ift es fehr unedel von Euch, daß 
Ihr in diefer Weife in Eure Heimath gekommen feid, um Euren 
Nachbarn ihre Geheimniffe abzuftehlen. Ich habe mich zwar nad 
Kräften zu Euren Gunften verwendet, aber wenn fich die Leute 
einmal etwas in den Kopf geſetzt haben, fo verfangen Worte nichts. 
Ihr wißt Mr. Hugh, ih bin von den Zagen Eurer Kindheit an 
flet8 Eure Freundin gewefen und habe mich mehr als einmal in 
Ungelegenheiten gebracht, wenn e8 galt, Euch aus einer Klemme 
zu helfen.” 

MWährend diefer Erklärung, die, nebenbei bemerkt, nicht ſon⸗ 
derlich auf Thatfachen fußte, ſtieß Opportunity einen leifen Seuf- 
zer aus, ließ die Augen finken und nahm eine fo verfhämte Miene 
an, daß ich wohl bemerken Eonnte, ein derartiges Spiel fei ihr 
zur zweiten Natur geworden. Ic, hielt e8 übrigens nicht für 


nöthig, in einem folchen Augenblide eine fehr unpaflende Ziererei : 


fund zu geben, da mir eben fo wenig einfiel, ein vertrauensvolle 
Herz irre zu leiden, als ich daran gedacht haben würde, eine Ana 
conda oder Boa conftrietor mit Regenwürmern mäften zu wollen. 
Sch ergriff daher die Hand der jungen Dame und drüdte fie fo 
fentimental als möglich, obſchon ich mich vielleicht albern genug 
dabei ausnahm. 

„Ihr feid allzu gütig, Opportunity," antwortete ich. „Sa, 
ih habe ſtets auf Eure Freundſchaft gebaut und nie daran ge 
zweifelt, daß Ihr mich vertheidigen würdet, wenn meine Abweſen⸗ 
heit mich hinderte, es felbft zu thun.“ 

Sch ließ ſodann ihre Hand wieder 108, halb in Furcht, Die 
junge Dame könnte im nächſten Augenblide fchluchzend an meinem 
Halfe liegen, wenn ich nicht einige Mäßigung beobachtete. Oppor⸗ 
tunity fohien nur ungern auf meine Hand zu verzichten, aber was 
konnte ein Mädchen thun, wenn der Gentleman felbft fo rückſichts⸗ 
vol ſich benahm? 


\ 


469 


„Sa, Seneky namentlih ift ganz befonders aufgebracht," 
nahm fie wieder auf, „und um ihn zufrieden zu flellen, willigte 
ih ein, jelbit zu diefer Stunde der Nacht herüberzureiten, um 
Euch von dem in Kenntniß zu feßen, was. Euch bedroht.“ 

„Dieß ift fehr freundlich von Euch, Opportunity; ‚aber da es 
Thon fo fpät ift, wird's vielleicht gut fein, wenn Ihr ohne Zöge⸗ 
zung mir mittheilt, was Ihr auf dem Herzen habt, und dam in 
ein Zimmer geht, um nach dem feharfen Ritt auszuruhen.” 

„Ihr follt hören, was ich Euch mitzutheilen habe, denn ’$ 
it hohe Zeit dazu; aber von Ausruhen kann Feine Rede fein. So⸗ 
bald der Mond untergeht, muß ich wieder auf mein Pferd und in 
vollem Galop zurüd, denn heute Nacht darf ich nur in meinem 
eigenen Bette fchlafen. Natürlich werdet Ihr und Mary Warren 
über meinen Beſuch Stillfchweigen beobachten, da ich nur Euer 
Beſtes dabei im Auge hatte.” 

Ich gab ihr diefe Zuficherung für Mary fowohl, als für meine 
Perfon, und drang dann in fie, die Nachricht, um derer willen 
fie fo weit geritten war, nicht länger zu verfchieben. Die Mit- 
theilung ward bald gemacht, und erwies fich als hinreichend beuns 
ruhigend. Einen Theil der Thatfachen erfuhr ich von Oppor⸗ 
tunity ſelbſt, das Webrige aber fpäter aus. unterfchiedlichen zu— 
verläffigen Quellen. Der Sachbeſtand war im Wefentlichen fol 
gender: — 

Senefa war der Inſchenbande und feinen antirentifch gefinnten 
Bundesgenofjen, als diefelben ihren fchleunigen Rüdzug nach dem 
Dorfe antraten, nachgeeilt, und feine Eröffnungen hatten eine 


allgemeine Beftürzung zur Folge. Es wurde jebt bekannt, daß 


der junge Parifer Berfchwender auf feinem Befigthum angelangt 
war, — ja daß er fi) an demfelben Tage unter den Unzufriedenen 
befunden und viele ihrer Geheimniffe erfpäht hatte. Daraus fol 
gerte man nun, er habe fich wahrfcheinlich gewiffe Pächter, deren 
Zeit dem nächftabgelaufen war, ad notam genommen, So ſchlimm 


470 


nun hiedurch die Sachen wurden, war dieß doch noch nicht das 
Aergfte; denn man nahm es für ausgemacht an, der junge Grund» 
berr habe Einige von den verkappten Verbrechern erkannt, und 
bege gegen andere Argwohn. Natürlich war der Schuldige feiner 
Gnade preisgegeben, und die Verſchwoͤrer hatten noch natürlichen 
Derftand genug, um zu begreifen, daß ein Dann, den man feines 
Befibthumes zu berauben gedachte, aller Wahrfcheinlichkeit nah 
die Waffen gegen feine Feinde kehren werde, fobald fich Gelegen- 
beit dazu darbiete. Wenn ſich Leute bei einem Unternehmen bes 
theiligen, das fo eingefleifcht fchändlich ift, wie der feiner Ans 
fprüche entkleidete und in nadter Häßlichkeit daſtehende Antirentis- 
mus, fo darf man von ihnen nicht erwarten, daß fie es blos bei 
Spielereien bewenden laſſen, und eben dem verzweifelten Charafter 
des Unfugs verdankt das Land die jchamlofe Unterdrüdung der 
Wahrheit, die fih fo allgemein in feinem weitern Verlaufe aus« 
fpriht, indem man die gefährliche Grundfaglofigkeit, die Verwir⸗ 
rung zwifchen Recht und Unrecht, und Die fchließlih daraus her- 
vorgegangenen Mordthaten ganz und gar ignorirt. Es ift bios 
das jämmerliche Prärogativ der Demagogen gewefen, dem entfitt- 
lihenden Gang der Dinge das Wort zu reden, und fo kam es 
denn, daß das Land Zeuge fein mußte, wie diefelben Quafigefeh- 
geber — Gefeßgeber durch die Stimme einer Partie und durch die 
Höflichkeit des Landes, wenn auch durch Feine andere Eigenſchaft — 
mit der Miene hoher Anfpruchgfülle einerjeits die höchſt bedenkliche 
Politik eines Verſuchs, die Menfchen durch ein Statutargefeg mo- 
raliſch zu machen, unterflüßen, andererjeitd aber mit offenkundigen 
Räubern Hand in Hand gehen. Bei einem ſolchen Zuftand der 
Gejellichaft darf e8 Niemand wundern, wenn jedes Hilfsmittel 
verfucht wurde,. mich durch Einfhüchterung zum Schweigen zu 
bringen. Ein Conclave der Rädelsfünrer beichloß fpäter, ich und 
mein Onkel follten vor einem anttrentüh gen Khdusäiten 
wegen Berlegung des tür eragemen Behand Tr Beta, 


471 


und Bewaffnung” betreffend, verklagt werden, damit wir nicht 
gegen die eigentlichen Verbrecher auftreten Fönnten. Allerdings 
hatten wir feine Masken vorgehabt, aber unfere Verkleidungen 
waren gleichwohl von der Art, daß fie in den Bereich des Geſetzes 
gefallen wären, wenn wir Waffen getragen hätten. Leptere hatten 
wir abfichtlich nicht mit und geführt; doch was machten fich 
Schurken, wie die in Frage fehenden Berfchwörer, aus einem 
Meineid? Der Friedensbeamte, an den fi) Senefa mit feiner 
Beichwerde zu wenden gedachte, hatte fchon ähnliche Schwüre an⸗ 
genommen und Berhaftungsbefehle unterzeichnet, blos um diefen 
Hauptdemagogen in die Lage zu feßen, einen Vergleich zu erwirken. 
Man hielt es übrigens nicht für zureichend, mich und meinem 
Onfel mit einer derartigen Klage zu bedrohen, fondern bot auch 
anderweitige Einfchüchterungen auf, um und Furt vor einem 
Kriminalprogeß einzujagen — eine Maßregel, welche und zeigen 
follte, daß e8 unfere Feinde in baarem Ernft meinten. Opportunity 
hatte in Erfahrung gebracht, dag man mit irgend einem gefähr- 
lichen Verſuche umging, und glaubte, daß derjelbige noch in der 
nämlichen Nacht, bewerfftelligt werden follte, obfchon fie nicht wußte, 
worin derfelbe beftand, wenn fie nicht etwa abfichtliche Unkenntniß 
vorſchützte. 

Der Zweck ihres Beſuchs lief darauf hinaus, daß ſie für ihren 
Bruder oder für ihre Brüder einen Vergleich erzielen wollte, und 
indem ſie mich vor irgend einer unbekannten, aber dringenden Ge— 
fahr warnte, hoffte fie vielleicht, aM’ jenen Einfluß wieder zu ge⸗ 
winnen, der, wie fie meinte, einer fo wefentlichen Dienftleiftung 
nicht fehlen Eonnte. Ohne Frage durfte ich von Glüd jagen, daß 
ich eine ſolche Freundin im feindlichen Lager bejaß, obgleich frühere 
Erfahrung mic, Vorficht gelehrt hatte und ich daher wohl auf der 
Hut fein mußte, daß mein unglüdliches empfindfames Herz nicht 
in den Majchen eines Nepes hängen blieb, wel Au oO N 
nach Demjelben ausgeworfen worden war. 


472 


„Ih erkenne ganz die Wichtigkeit Eures Dienſtes, Miß Op⸗ 
portunity,“ verfeßte ich, nachdem die zungengeläufige junge Dame 
ihre Gefchichtchen angebracht hatte, „und werde nicht ermangeln, 
defjelben eingedent zu fein. Natürlich kann von einem unmittels 
baren Abfinden mit Eurem Bruder Seneka feine Rede fein, weil 
ih dadurch einem Verbrechen Nachſicht zu Theil werden ließe und 
mid) ſelbſt der Strafe ausjegte, aber wenn e8 mir paffend erfcheint, _ 
kann ich mich unthätig verhalten, und Ihr dürft darauf zählen, 
daß Eure Wünfche bei mir großes Gewicht haben. Der Verſuch, 
meinen Onfel und mich verhaften zu laffen, macht mir, im Fall er 
je beabfichtigt werden follte, Feine Sorge, da er die Anftifter nur 
einer Klage wegen boshafter Verfolgung ausfepen würde. Es ik 
überhaupt noch zweifelhaft, ob wir im Sinne des Statuts verkleis 
det waren, und in keinem Fall find wir bewaffnet gewejen. Ohne 
Meineid muß aljo eine derartige Klage nothwendig fehl Schlagen —“ 

„In diefen Antiventenzeiten fchwören die Leute verzweifelte 
Eide!“ unterbrach mich Opportunity mit einem bedeutfamen Blide. 

„Sch weiß dieß wohl. Menjchliches Zeugniß ift ohnehin ſelbſt 
im beften Fall mangelhaft und oft unzuverläffig; in Zeiten der 
Aufregung, der Leidenfchaft und der Habgier aber wird es oft zur 
verbrecherifchen Lüge. Vorderhand iſt's übrigens das Wefentlichfte, 
den ſchlimmen Anfchlägen auf die Spur zu kommen, welche gegen 
uns. beabfichtigt werden.” 

Opportunity’s Auge wandte fih nicht ab, ald das meinige, 
während fie diefe Frage beantwortete, auf ihr haftete, fondern fie 
behauptete die ganze Ruhe der Aufrichtigkeit. 

„Es wäre mir lieb, ich könnte Euch davon in Kenntniß feßen, 
Mr. Hugh,” verfehte fie, „aber was Ihr bereit wißt, ift Alles, 
was ich Euch mitzutheilen im Stande bin. Ich lebe der Ueber« 
zeugung, daß heute Nacht noch etwas Schlimmeg verjucht werden 
wird; worin es aber befteht, ift mir felbft unbekannt. Sch muß 
jegt wieder nach Haufe, denn der Mond iſt beinahe untergegangen, 


473 


und es wäre mir nicht lieb, wenn ich von einem der Antirenter ge- 
fehen würde. Das Wenige, was ich zu Gunften der Littlepage’s 
bereits vorbrachte, hat mir ohnehin ſchon Felnde gemacht; man 
würde mir nie vergeben, wenn mein nächtlicher Ritt befannt 
würde.” 

Opportunity erhob fih nun und eilte mit einem Lächeln hin- 
weg, welches ich mit der vollen Gefchühfalve eines Corſaren ver- 
gleichen möchte, wenn er feine Anwefenheit fo denkwürdig als mög⸗ 
lich machen möchte. Natürlich begleitete ich fie bis nach der Eiche 
und half ihr in den Sattel. Bei diefer Gelegenheit ergaben fich 
einige Kleine Züge ländlicher Koketterie, und die junge Dame that, 
als entfernte fie fih nur mit Widerwillen, obſchon Alles bereit 
und fie in fo großer Eile war. Ihr Spiel ftand zuverläffig fo 
verzweifelt, wie das der Antirenter felbft, aber jedenfalls war fie 
feſt entichloffen, e8 auszufpielen. Der Mond war noch nicht ganz 
untergegangen, und diefer Umftand diente ihr als Vorwand zur 
Zögerung, während ich glaubte, fie möchte noch eine weitere Mit» 
theilung auf dem Herzen haben, 

„Eure Warnung ift fo freundlich gewefen, theure Opportus 
nity,“ fagte ich, fanft eine meiner Hände auf die ihrige legend, 
" während fie die Zügel hielt, „fle erinnert mich fo ganz an die 
alten Zeiten — fo ganz an Euch, wie Ihr vordem waret, daß ich 
faum weiß, wie ich Euch danken fol. Doch wir werden’d noch 
erleben, daß es wieder wird, wie ehedem, und dann Fann der 
frühere Verkehr zwifchen ung wieder eröffnet werden. Es waren 
glücdliche Tage, ald wir mit einander über die Berge galopirten — 
allerdings find wir damals noch bloße Kinder geweſen; aber ich 
hoffe, Ihr werdet zugeben, daß wir frohherzige Kinder waren.” 

„Sa wohl fein wir dieß geweſen“ — Opportunity’8 Erziehung 
und Anmuth erftredte fich im gewöhnlichen Gefpräche nicht bis zu 
einer guten Grammatik, die vielen unter und ald etwas Anti= 
republifanifches erfcheint — „ia wohl fein wir dieß gewefen, und 


474 


ich moͤchte jene Tage wieder durchleben. Doch laßt's Euch nicht 
anfechten, Hugh; Ihr werdet's ſchon ſo weit bringen, mit dieſen 
Leuten zurecht zu kommen, und dann macht Ihr Euch natürlich 
ſeßhaft und heirathet. Ihr gedenkt doc zu heirathen ?” 

Dieß war eine ziemlich unverhohlene Demonftration; aber id 
war — und welcher junger Mann von Vermögen Eönnte nicht das 
Sleihe von fih fagen? — an Derartiges fchon gewöhnt, und 
wenn man die Gefahr kennt, kann man fie leicht vermeiden. Ich 
drüdte ihre Hand fanft, ehe ich fie los ließ, und bemerkte dann in 
etwas unzufriedenem Tone: 

„Ich follte Euch freilich nicht wieder fragen, worin die Bes 
nachtheiligung befteht, die ich heute Nacht zu gewärtigen habe. 
Sch weiß, ein Bruder ift ein näherer Freund, und kann daher 
Euer Bedenken gar wohl zurecht legen.“ 

Opportunity hatte dem muthigen Thiere, das fie ritt, bereits 
die Zügel gelaffen und war im Begriffe, davon zu fprengen; aber 
die letzten Worte rührten ihr Herz. Sie lehnte ſich vorwärts, 
beugte ihren Kopf, daß unfere Gefichter kaum einen Fuß von ein- 
ander abflanden, und fagte dann mit gedämpfter Stimme: 

„Heuer if ein guter Diener, aber ein gewaltthätiger Herr. 
Ein Theekeffel voll Wafler, zur rechten Zeit darauf geworfen, hätte ' 
den legten großen Brand in VYork verhüten können.“ 

Dieſe Worte waren kaum über ihre Lippen geglitten, als das 
kühne Mädchen ihrem Pferde einen fchallenden Hieb verſetzte, und 
mit. faſt lautlofem Huf galopirte fie über den Rajen dahin. Ich 
fchaute ihr eine Weile nah und fah fie in die Hohlgafje hinein- 
reiten. Nachdem fie meinen Bliden entſchwunden war, fand ih 
Gelegenheit, allen meinen Gedanken nachzuhängen. 

„Feuer!“ — Dieß war wirklich ein verhängnißvolles Wort. 
Es it das ſtets fertige Werkzeug des gemeinen Schurken, und man 
kann fich vor dem Leden feiner verzehrenden Zunge nicht genug in 
Acht nehmen. Schon hatte es in diefen Antirentenunruben eine 


475 

Rolle gefpielt, obfchon vielleicht weniger, als unter ähnlichen Um— 
ſtänden faft in jedem andern Lande der Fall gewefen wäre; denn 
die Inſtitutionen Amerika's haben, felbft wenn fie manchen irrigen 
und übertriebenen Anfichten von Freiheit Bahn brachen, doch darin 
eine fehr wohlthätige Wirkung geübt, daß fie einige von den an— 
dern Uebeln der Dienfchheit milderten. ‚Dennod hatte man bereits 
zu Feuer feine Zuflucht genommen, und der Ausdrud Scheunen⸗ 
anzünder” ift unter uns fehr gemein geworden — weit gemeiner, 
als, wie ich mit Freuden fagen kann, die Unthat, welche zu diefer 
Bezeichnung Anlaß gab. Gleichwohl war es augenfiheinlich für 
gewifje Perſonen in Ravendneft von höchfter Wichtigkeit, mich durch 
Einfhüchterung von einem gerichtlichen Verfahren gegen fie abzu= 
halten, da, wenn anders Gerechtigkeit waltete, ihre Verbrechen 
nothwendig nach dem Gefängnifle des Staats führen mußten. Ich 
beichloß daher jelbige Nacht, mein Haupt nicht eher auf den Pfühl 
zu legen, bis ich die Heberzeugung gewonnen hätte, daß die Gefahr 
vorüber war. J 

Der Mond war jetzt untergegangen; aber die Sterne ergoßen 
ihre funkelnden Strahlen über die umnachtete Landſchaft. Ich de= 
dauerte diefen Wechfel nicht, da er mich in die Lage febte, umher— 
zugehen, ohne daß ich fo leicht wahrgenommen zu werden beforgen 
mußte. Zuerft mollte ich einige Gehilfen aufjuchen, die mich in 
meinem Wächteramte unterflügten, und da fiel mir denn ein, mich 
unter meinen Gäften, den Indianern, um Beiltand umzufehen. 
Wie Feuer durch Feuer zu bekämpfen tft, fo ift ein Indianer flets 
im Stande, es mit einem „Inſchen“ aufzunehmen, denn zwifchen 
diefen beiden Klaffen von Menfchen findet juft der Unterfchied flatt, 
der durch ihre Bezeichnung angedeutet if. Der Eine benimmt fich 
ſtets natürlih, würdevoll und in feiner Art fein — ja ich möchte 
fagen, gentlemanifch, während der Andere ein fchleichender Schurke 
und jo gemein ift, wie fein Name. Niemand würde daran denken, 
dieſe verfappten Schurfen. „Indianer” zu nennen, und die allas- 


476 


meine Stimme bat fie, ohne daß auch der forgfältigfte Sprach⸗ 
purift etwas dagegen einzuwenden hätte, „Infchens” getauft. „Il 
y a chapeau et chapeau,‘“ und eben fo gibt e8 auch „Indianer 
und Inſchens.“ 

Ohne nad) dem Haufe zurüdzufehren, wählte ich meine Rid- 
tung geradenwegs nach dem Quartier meiner rothen Säfte. Da 
ich jeden Gegenftand in meiner Umgebung kannte, fo hielt ich mid 
im Schatten und fchlich über den Raſen und die Felder auf einem 
fo verborgenen Wege, daß ich nicht fonderlich fürchten durfte, bes 
obachtet zu werden, jelbft wenn der Feind Späher ausgeftellt hatte. 
Die. Entfernung war nicht groß, und ich hatte bald den Fuß des 
kleinen Hügels erreicht, auf welchem das alte Farmhaus im Schuße 
einer dunkeln Reihe alter Johannisbeerbüfche ftand, welche fich un- 
ten an dem früheren, jet halbveröddeten Garten hinzogen. Hier 
machte ich Halt, um einen Augenblid nachzudenken und mid, ums 
zuſehen, ehe ich weiter fchritt. 

Dort ftand das gute, alte, wohnliche Haus meiner Väter in 
feinen fchattigen Umriffen, groß und maffenhaft durch das Duntel 
ragend. Es konnte allerdings von außen angezlindet werden; aber 
jedenfalls war dieß Keine fo leichte Aufgabe, da es mit Ausnahme 
des Dachs, der Piazza und der Außenthüre dem Brandftifter nur 
wenig feuerfangendes Material darbot. Gegen eine folche Gefahr 
fonnte man fih alfo durch einen geringen Grad von Wachſamkeit 
fiher ftellen. Auch bedrohte das Geſetz Brandfliftung an einem 
bewohnten Haufe, wie dieß bei Mordbrennerei nicht mehr, wie 
billig ift, mit dem Tode, und die fchleichenden Schurken unferes 
Landes magen es felten, eine ſolche Gefahr über fich ergehen zu 
laffen. Man hat zwar viel über die Zwedwidrigfeit der Beftrafung 
durch den Strang geſprochen, aber Niemand Tann fagen, wie viel 
taufendmal fie einer verbrecherifchen Hand Einhalt gethan und das 
Herz zum Zittern gebracht hat. Ehe Jemand unter uns auftreten 
kann, der dieſes wichtige Geheimnig zu enthüllen im Stande iſt, 


477 


dürfte e8 wohl eitel fein, über die wenigen Fälle zu fprechen, von 
denen bekannt ift, daß die Gefahr des Todes unzureichend war, 
einem Verbrechen vorzubeugen. So viel ift eine Erfahrungsfache, 
daß troß des Beftandes anderer Züchtigungen unter VBerhöhnung 
derfelben täglich und ſtündlich Verbrechen begangen werden; es ift 
daher nicht einzufehen, warum, dieß nicht eben jo gut ald Beweis 
für die Unzulänglichkeit der Pönitentiarftrafen aufgebracht wird, 
ald man den gleichen Grundfah gegen die Strafe des Galgens 
geltend macht. Was mich betrifft, fo bin ich vollkommen der An- 
fiht, man folle das Bewußtfein zu unterhalten fuchen, daß es 
eine Macht im Lande gebe, welche Fräftig genug ift, den Ber- 
brecher aus dem Leben zu ſchaffen, ſobald ſich's um zureichend 
wichtige Fälle handelt, um eine * jolce Warnung zweckmäßig zu 
machen. 


Zweiundzswanzigftes Kapitel. 


„D Zeit und Tod, mit fih'rem Schritte, 
enn ungleich aud, eilt ihr dahin, 
Sm wilden Lauf Palaft wie Hütte 
Und Zhrone wandelnd in Ruin. 


hr übt dieß Wert nicht in den Streichen 
Des Kriegs blod und im Hauch ber Peſt, 
Der fich gebiert in fernen Reichen 
Uud wandernd hält fein Opferfeft.“ 


® ands. 


Außerhalb des mit Steinmauern verſehenen Hauſes befanden 
ſich zahlreiche Nebengebäude. Die Kutſchen-Remiſe, die Staͤlle 
und die Scheune waren zwar gleichfalls von Stein, aber ein Brand 
in einen Heuſtock geworfen, konnte leicht großen Schaden anrichten. 
Die Scheunen, Heuſchuppen u. ſ. w. auf den Ebenen und in der 
Nähe von Miller's Wohnung waren nach Landesbrauch insgeſammt 
von Holz hergeſtellt, und wenn man die Brandfackeln an ſolchen 
Orten einlegte, fo wurde die That nicht mit dem Tod beſtraft. 
Die „Berkappten und Bewaffneten,” welche fich ein derartiges 
Berbrechen zu Schulden kommen ließen, Tiefen demnach Feine an⸗ 
dere Gefahr, als die war, welcher fie fih durch Verfolgung ihrer 
verzweifelten Plane bereit ausgefeßt hatten. Nachdem ich eine 
Weile über diefe Dinge nachgedacht hatte, brach ich mir durch die 
Stachelbeerbüfhe Bahn, um vermittelt einer Oeffnung in dem 


479 


hinfälligen Zaun den Garten und auf einem Privatweg das Haus 

zu erreichen. Ich war übrigens nicht wenig erflaunt und einiger- 

maßen auch beunruhigt, als ich, ſobald ich aus dem Dickicht auf- 
tauchte, einen Mann vor mir flehen fah. 

„Ber fein — wohin gehen — was wollen?” fragte eine von 

den ächten Rothhäuten bedeutungsvoll, 

Die Perfon, welche mich anhielt, war eine Schildwache der 
Sndianer, deren Wachjamkeit auch meine behutfame Annäherung 
nicht entgangen war. 

Ich theilte ihm mit, wer ich fei, und fagte ihm, ich fei ge- 
fommen, um den Dolmetfcher Bielzunge aufzufuchen. Mein rother 
Freund hatte mich kaum erkannt, als er mir nach indianiicher 
Sitte die Hand zum Drude hinbot und ſich vollkommen zufrieden 
zu geben ſchien. Er fellte feine Frage, verrieth keine Neugierde 
über einen Bejuh zu fo ungewohnter Stunde, und nahm Das 
Ganze auf, wie man etwa im gewöhnlichen Leben einen Befuch 
zwifchen zwölf und drei Uhr zu betrachten pflegt. So viel Tonnte 
er fich wohl denken, daß ich nicht ohne Grund gekommen war; um 
was es fich übrigens handelte, dieß machte ihm keine Sorge. Er 
begleitete mich nach dem Haufe und deutete nach der Stelle, wo 
der Dolmetjcher in einem wohlgefchüttelten Bund Stroh ſchnarchte. 

Bei der erfien Berührung meines Fingers wachte Vielzunge 
auf und erhob ſich von feinem Lager. So dunkel auch das Zimmer 
war, erkannte er mich augenblidlih; er berührte meinen Arm zum 
Zeichen, daß ich ihm folgen folle, und ging in's Freie hinaus 
voran. Nachdem wir ung außer Hörweite befanden, blieb er ftehen 
und ging wie ein Mann, der an dergleichen Unterbrechungen ge= 
wöhnt ift, zur Sache über. 

„Etwas 108 heute Nacht?" fragte der Gränzmann mit der 
ganzen Ruhe eines Menjchen, der ftets auf Alles gefapt ift. „Soll 
äh meine Rothhäute aufbieten, oder habt Ihr mir nur eine Mit⸗ 
theilung zu machen ?" 


480 


„Hierüber mögt Ihr ſelbſt urtheilen. Ohne Zweifel Tennt Ihr 
den Zuftand, in welchem fich diejer Kandestheil befindet, und die 
Unruhen, welche wegen Bezahlung der Renten für die Benutzung 
des Grund und Boden ausgebrochen find. Was Ihr Heute gefehen 
habt, ift ein Pröbchen von den Scenen, die um uns ber ohne 
Unterlaß vorgehen.” 

„Obriſt,“ verfeßte der Dolmetſcher fchleppend, nachdem er 
wie ein Jagdhund gegähnt hatte, mir einen der Titel verleihend, 
welche an der Gränze am beliebteften find, „ich könnt’ nicht eben 
fagen, daß ich den Zuftand der Dinge, wie er hier unten herum 
if, gehörig verflünde. Wie’! mir vortommt, iſt's weder das Eine 
noch das Andere, weder Tomahawk, noch Geſetz. Was beide 
bejagen wollen, ift mir wohl bekannt, aber diefe Halbheit, dieſes 
Zwijchending ſetzt mich in Verlegenheit, und ich weiß nicht, wie 
ich's zurecht legen fol. Entweder folltet Ihr das Geſetz haben, 
oder Ihr folltet Feind haben, und wie's einmal if, dabei follte 
man bleiben.” 

„Ihr wollt damit fagen, diefer Landestheil erfcheine Euch 
weder als civilifirt, noch als wild — er unterwerfe fich keinem 
Geſetz und geftatte doch nicht die naturgemäße Selbſthilfe. 

„So etwas der Art. Als ich die Begleitung dieſes Häufleins 
von Rothhäuten übernahm, fagte mir der Agent, ich komme in eine 
Gegend, wo e8 Friedensrichter gebe und wo fi Niemand, ſei's nun 
eine Rothhaut oder ein Blaßgeficht,, ſelbſt Recht verfchaffen koͤnne 
oder dürfe. Wir haben ung dephalb Mühe gegeben, Diefer Regel 
nachzuleben, und ich Tann bezeugen, daß feit unferem Uebergang 
über den Mifftifippi kein menjchliches Weſen erfchoflen oder ffalpirt 
worden ift. Ein derartiges Gefeb war unter und wohl vonnöthen, 
da wir von verfchiedenen, fich feindlich gegenüberftehenden Stämmen 
herkommen, und nichts wäre leichter gewefen, als einen Streit unter 
ung feld auszuheden, wenn irgend einer aus dem Haufen Luft 
Dazu gehabt hätte. Ich muß übrigens jagen, daß nicht nur ich, 


481 


fondern auch die meiften von meinen Häuptlingen graufam in ihren 
Erwartungen getäufcht worden find.” 

„sn Euren Erwartungen getäufcht? — Und in welcher Be- 
ztehung, wenn ich fragen darf?" 

„Sn gar vielen Stüden. Das erfle, was mich zum Nachden- 
fen brachte, war der Umſtand, daß ich die Zeitungen vorleſen hörte. 
Die Art, wie in diefen Dingen die Leute von einander fprechen, 
iſt merkwürdig, und ich kann mich nicht genug wundern, daß am 
Ende vom Jahre noch fo eine Zeitung übrig if, um im nächften 
Jahr das nämliche Spiel wieder anzufangen. Seht, Obrift Litt- 
lepage — —“ 

„sh bin Fein Obrift — nicht einmal Fähndrih. Ihr wer- 
det mich wohl mit einem anderen Glied meiner Familie ver- 
wechieln." 

„So folltet Ihr's menigftens fein, Sir, und ich will Euch 
nicht fo fehr verunglimpfen, daß ih Euch mit einem geringeren 
Titel bezeichne. Ich habe Gentlemen aus dem Welten gefannt, die 
nicht den vierten Theil von Euren Anfprüchen haben und gleich- 
wohl Schinrale genannt wurden. Sage ich doch ſchon meine fünf- 
undzwanzig Sahre in den Prairien und bin wohl fechsmal über die 
oberen See’'n gekommen; ih muß alfo jo gut wie ein Anderer 
willen, was einem Gentleman gebührt. Wie ich alfo fage, Obrift 
“ Littlepage, wollten in den Prairien draußen die Leute von einan- 
der reden, wie fie hier unter den Meetinghäufern über einander 
druden laſſen, fo gäb's fo viele Skalpe, daß fie bedeutend im 
Werth fallen würden. Ich nimm's zwar im Ganzen nicht befon= 
ders genau, aber mein Gefühl hat fich ſchon empört, wie ich der= 
gleichen Dinge nur lefen hörte; denn was das Selbftlefen be= 
trifft, fo iſt dieß eine Sache, zu der ich mich nie herabgelaffen habe. 
Ih wurde hiedurch einigermaßen darauf vorbereitet, daß ich die 
Dinge ganz anders treffen werde, je tiefer ich in die Settlements 
gerathe, und was dieß betrifft, fo ift meine Erwartung nicht ae- 

Ravensneft. —X 


482 


täufcht worden; ver alten Idee hat man einen Strich dur die | 
Rechnung gemacht." 

„Es nimmt mich nicht Wunder, Cuch jo ſprechen zu hören, 
und ich bin ganz mit Euch einverflanden, daß eine Nation aus 
übermenfchlichen Wefen zufammengefeßt fein muß, wenn fie einer 
Preffe von fo durchaus fchlechtem Charakter, wie der in dDiefem Lande _ 
ift, foll widerftehen können. Um übrigens zur Sade zu fommen . 
— nothwendig müßt Ihr Euch eine Vorftellung gebildet haben über 
diefe verfappten Wilden, und ohne Zweifel habt Ihr auch von den 
Leuten, die man Antirenterd nennt, gehört?” 

„Zum Theil, zum Theil auch nicht. Ich kann nicht begreifen, 
warum fih ein Menſch zur Rentenzahlung verpflichten und hinten- 
Drein die Erfüllung der Pflicht verweigern mag. Ein Vertrag if 
ein Vertrag, und das Wort eined Ehrenmanns gilt fo gut wie 
feine Handſchrift.“ 

„Diefe Anfichten würden hier herum Auffehen machen, und 
ich nehme felbft gewiſſe Gefeßgeber nicht aus. Bei ihnen gilt al 
moralifcher Probierftein einer jeden Berbindlichkeit, ob fie den 
Partieen zufage oder nicht.“ 

„Mit Erlaubnig, Obrift, nur ein Wort. Schenkt man den 
Beichwerden der Eigenthümer des Bodens eben fo viel Gehör, wie 
den Klagen Derer, die das Land pachten, um durch ihre Arbeit ihr 
Ausfommen darauf zu finden?” 

„Durhaus nit. Die Bejchwerden der Grundbefißer, wären 
fie auch noch fo wohl begründet, finden felbft in der Bruft des 
weichherzigften amerifanifchen Politikers nicht eine einzige ſympa⸗ 
thetifche Saite. Ihr treibt Euch in den Prairien um und könnt na 
türlich auch keine befonvere Achtung vor Grundbefigrechten haben.” 
„Die Prairie ift Prairie, Obrift, und man lebt und handelt 
auf bem Brairieboden nach dem Prairie⸗Geſetz. Aber auch Recht tft 

Rest, Obrift, fo gut ala PBroirie Vroche iR, ud ads immer 
gerne, wenn es fih Geltung ver Hocht. Sr Ts Swen 


483 


unter allen den Häuptlingen, die unter jenem Dache fehlafen, auch 
nicht eine einzige Rothhaut finden, die nicht ihre Stimme darwider 
erhübe, wenn Einer von einem feierlichen Vertrag abgehen wollte. 
Sch follte meinen, bis Einem ein ſolcher Gedanke kömmt, muß ihn 
die Weife des Gefebes ſchon hart gemacht haben.” 

„Ihr glaubt alfo, diefe rothen Männer wiffen etwas von der 
Natur der Mifhelligkeiten, die hier herum flattfinden?” 

„Sie haben davon gehört und viel über die Sache mit einan- 
der geiprochen. Es widerftrebt der innerften Natur eines Indianerg, 
fih zu etwas anheifchig zu machen und das Gegentheil zu thun. 
Doch hier ift ein Ehippewa auf dem Lugaus. Wir wollen eine 
Frage an ihn richten, und Ihr follt feine Antwort hören.” 

Bielzunge redete jetzt die Schildwache an, die in unferer Nähe 
umberfchlenderte. Nach einigen Fragen und Antworten in der 
Sprache des letzteren theilte mir der Dolmetfcher mit, was fie mit 
einander verhandelt hatten. 

„Der Ehippewa hat irgendwo gehört," fagte er, „daß es in 
diefem Theil der Welt Leute gebe, welche durch Zufage von Ren⸗ 
tenzahlung zu Wigwams kämen; wenn fie aber einmal im Beftk 
wären, gingen fie von ihren Verfprechungen ab, und verlangten, 
der Mann, dem fie die Wohnung abmietheten, folle fein Recht da= 
ran beweifen. Iſt dieß wahr, Obrift?" 

„Ohne alle Frage. Und nicht nur die Pächter tragen fich mit 
folhen Tücken, fondern fie haben auch Andere gefunden, die, obfchon 
fie fih Gefeßgeber nennen, fehr geneigt find, ihnen in ihrem Be- 
trug Vorſchub zu leiften. Die Sache ift gerade fo, als wenn ich 
Eud für einen Tag zum Jagen eine Büchfe abborgte oder abmie- 
thete; Ihr kommt am Abend, um Euer Eigenthum wieder anzu⸗ 
fprechen; aber jet halte ich Euch entgegen, Ihr follet beweiſen, 
daß Shr der rechtmäßige Eigenthümer fetet.“ 

„Was geht die Euch an? Ihr habt die Bühler vun nit, u 
Guer Recht daran if Fein anderes, als das meiigg. Ir W 

Ir 


484 


daher verpflichtet, bei Eurem Vertrag flehen zu bleiben. Rein, 
nein, Obrift; es gibt in den Prairien nicht eine einzige Rothhaut, 
die ob einem folchen Verfahren mit Revolution anfangen würde. 
Aber was hat Euch zu dieſer Stunde der Nacht hergeführt? Die 
Männer, die in Betten ſchlafen, ftehen in der Regel nicht gern 
auf, bis fie die Morgenjonne wedt.” 

Sch ertheilte nun Bericht über den erhaltenen Beſuch, ohne 
übrigens den Namen Opportunity's zu erwähnen, und berührte da- 
Hei die Warnung, Die mir ertheilt worden war. Der Dolmeticher 
ließ fih die Ausfiht auf ein Zufammenpraflen mit den Inſchens 
durchaus nicht anfechten, denn er hegte einen Groll gegen fie, nicht 
blos wegen der Eleinen Angelegenheit des vorigen Tags, jondern 
bauptfächlich deßhalb, weil fie Durch die plumpe, feige Weife, in 
welcher fie ihre Nachäfferei ausführten, die ächten Wilden in Ni 
kredit brachten. 

„Don folhen Kreaturen ift nichts Befferes zu erwarten," be 
merkte er, nachdem wir die Sache nad allen ihren Theilen bes 
fprochen hatten, obfchon ſelbſt in den Prairten das Feuer als ge 
jegliches Kriegsmittel gilt. „Was mich betrifft, fo thut's mir nicht 
leid, wenn's hier etwas zu thun gibt, und auch meine Häuptlinge 
werden's nicht beklagen, denn 's ift gar langweilig, Monate und 
Monate hinter einander nichts zu thun, als beim Berathungs- 
feuer zu rauchen, vor Leuten, die nur leben, um zu ſchwätzen, 
zu effen und zu trinken. Xhätigkeit gehört zur Natur eines 
Prairiemanns, und wenn er eine Zeitlang Ruhe gehabt hat, 
freut er ſich flets, feinen Slintenftein wieder zu fchärfen. Ich 
will dem Chippewa fagen, er folle hineingehen und die Roth⸗ 
häute herbringen; dann koͤnnt Ihr ihnen Eure Weifungen er- 
theilen.“ 

„Wachſamkeit wäre mir lieber, als Gewalt. Die Männer 
können fi in der Nähe des Hauptgebäudes auf die Lauer Tegen, 
und es wird auch gut fein, einiges Waffer bereit zu halten, damit 


485 


man, wenn's fo weit kömmt, das Feuer löfchen kann, ehe es um 
fich greift " 

„Ganz zu Befehl, Obrift — denn für mich feid Ihr Kapitän 
General. Laßt Euch übrigens jagen, wie ich's in den Prairien 
draußen einmal hielt, als ich einen fehuftigen Siour erwijchte, wel⸗ 
her eben das Feuer anbließ, das er an eine von meinen Hütten 
angelegt hatte. Ich legte ihn auf die Flamme, und er mußte fie 
mit feinem Blute löſchen.“ 

„Wir dürfen ung feine Gewaltthat erlauben, wenn es nicht 
zur Rettung der Gebäude unerläßlich nothwendig wird. Das Ges. 
feß geftattet und nur im äußerften Rothfall den Gebrauch der 
Waffen. Dagegen iſt's mir lieb, wenn Ihr Gefangene macht, denn 
fie können als Geifeln dienen und zugleich als Beifpiel benützt wer⸗ 
den, um zugleich die anderen Geſetzes⸗Uebertreter einzufchlichtern. 
Sch verlaffe mich darauf, daß Ihr unferen rothen Freunden die be= 
treffende Warnung zugehen laßt.” 

Eine Art Grunzen war die einzige Antwort des Dolmet⸗ 
ſchers. Das Gefpräh nahm übrigens feinen weiteren Forfgang, 
da jebt die Indianer, einer nach dem andern aus dem Haufe 
herausgefchlichen Famen. Ihre Mienen waren finfter und ihre 
Geberden voll Vorſicht; auch hatten fie insgefammt ihre Waffen 
bei fih. Bielzunge hielt es nicht für paflend, fie lange hin- 
zuhalten, fondern theilte ihnen unverweilt mit, was zu gewär= 
tigen fland. Von jebt an hatte übrigens fein Anfehen großen- 
theils aufgehört, und Kiefelherz übernahm nun die hervorra= 
gendfte Rolle, obgleich auch Prairiefeuer und ein anderer Krieger 
mit Ertheilung von Befehlen an die Uebrigen bejchäftigt waren. 
Sch bemerkte, daß Adlersflug bei diefen eigentlich militäriichen 
Verhandlungen ſich nicht betheiligte, obſchon er ſich gleich den 
Anderen: bewaffnet aufſtellte und der plößlichen Berufung Folge 
leiſtete. Nah fünf Minuten hatten fit fämmtliche Indianer 
meift paarweije entfernt, jo daB nur noch wir Beide, der Daß 


486 


metfcher und ich, an der Borderfeite des verlaffenen Haufes zurüd- 
blieben. 

Es war jebt ein Uhr vorbei, und ich hielt es für wahrfcein- 
(ih, daß meine Feinde, wenn fie überhaupt in Diefer Nacht kamen, 
bald erfcheinen dürften. Ich ſchlug daher, von dem Dolmetfcher 
begleitet, den Weg nach dem Nefthaufe ein, um fo mehr, da mir 
beifiel, e8 Könnten im Lauf des Morgens Waffen nöthig werden. 
Ich hatte nämlich, als ich aus meinem Zimmer ging, die Büchfe 
und die Piftole, welche mir John gebracht hatte, dort gelaffen, und 
beabfichtigte jet, mich wieder in's Haus zu fchleichen, die Waffen 
zu holen und mein Licht auszulöfhen, dann aber, ohne die Schla- 
fenden zu flören, meinen Begleiter wieder aufzufuchen, 

Diefer Plan kam, foweit ſich's um das Erreichen meines Zim- 
mers und um die Rückkehr nach der Hausthüre handelte, erfolgreih 
zur Ausführung, unten aber trat mir eine Störung entgegen. Als 


ich eben das Pförtchen — wie wir fcherzweife die Thüre nannten 


— fliegen wollte, fühlte ich, daß fich eine Kleine weiche Hand auf 
die meinige legte, mit welcher ich eben die Thüre zumachen wollte. 
Am Nu war ich wieder drinnen’ und an der Seite Mary Warrens. 
Ich war erſtaunt, fie noch auf zu finden, und drüdte meine Bejorg- 
niß aus, ihre Gefundheit könnte in Folge eines fo ungewöhnlichen 
Wachbleibens leiden. 
„Nach dem, was heute Nacht vorgegangen ift, Eonnte ich nicht 
ſchlafen, ohne vaß ich wußte, was alle dieſe Bewegungen zu be⸗ 
deuten haben,” antwortete fie. „Ih bin an meinem Fenſter ges 
fanden und habe geſehen, wie Ihr Opportunity auf's Pferd Halft, 
dann aber nach dem alten Farmhauſe, dem Quartier der Indianer 
ginge. Sagt mir unverholen, Mr., Littlepage, ſteht uns eine 
Gefahr bevor?“ 
„Ih will offen gegen Eud fein, Mary" — wie leidht und 
angenehm wurde es mir nicht, mich diejer zarten Bertraulichkeit 
zu bedienen, welche ich wir unter den obwaltenden Umfänden wohl 


— Cm. . 


487 


herausnehmen durfte, ohne als anmaßend zu erſcheinen; „ich will 
offen gegen Euch fein, Mary, denn ich weiß, Eure Klugheit und 
Selbſtbeherrſchung wird Euch hindern, unnöthigen Lärmen zu 
machen, während vielleicht Eure Wachſamkeit von Nugen fein könnte. 
Es ift einiger Grund vorhanden, die Brandfadel zu fürchten.“ 

„Die Brandfadel?” 

„Sp möchte ich Opportunity's Aeußerungen zufolge glauben, 
und ich kann mir nicht denken, daß fie zu folcher Stunde einen 
fo weiten Ritt gemacht haben würde, wenn ſich's nicht um eine 
ernftliche Angelegenheit handelte. Das Feuer ift das bequemfte 
Werkzeug des Antirenters, und feine Verkleidung paßt vollkommen 
Dazu. Sch habe übrigens die Rothhäute indgefammt auf die Spähe 
geſchickt, und hoffe nicht, daß heute Nacht ein Unfug geftiftet wer- 
den kann, ohne fogleich eine Entdeckung zur Folge zu haben. Mor- 
gen aber Eönnen wir die Behörden um ihren Schuß angehen." 

„Ich Tann heute Nacht nicht fchlafen,” rief Mary, indem fie 
Das leichte Halstuch, welches fie zum Schuß gegen die Nachtluft 
umgeworfen hatte, noch fefter anzog, wie etwa der Mann im Aus 
genblide der Gefahr feine Rüſtung enger ſchnallt. „Es ift mir 
nit um den Schlaf zu thun. Sie follen und dürfen Euch diefen 
Schaden nicht zufügen, Mr. Littlepage. Habt Ihr Beforgniffe für 
diejes Haug?" 

„Man Fann nicht wiffen, auf was e8 eigentlich abgefehen if. 
Bon außen iſt das Haus nicht Teicht in Brand zu fteden, und ich 
fann mir nicht wohl denken, daß fih im Innern ein Feind befinden 
ſollte. Die Dienftboten find erprobt und fchon lange in der Fami- 
lie; ich glaube daher nicht, daß fi) Jemand aus dem Gefinde hat 
erfaufen laffen. ‚Aber objchon ich von denen im Haufe wenig be= 
forge, fo muß ich doc) geftehen, daß mir die Widerfacher draußen 
ziemlich bange machen. Feuer ift ein furchtbarer Feind, und. auf 
dem Land hat man jo wenig Hilfe gegen das Umfichgreifen der 
Slammen. Ih will Euch nicht bitten, Ihr follet Euch zur Ruhe 


488 


begeben, denn ich weiß, daß Ihr nicht jchlafen werdet — ja, nicht 
ſchlafen Eönnt; aber wenn Ihr die nächfte Stunde, oder bis id 
wieder zurüdfehre, von Fenfter zu Fenſter gehen wollt, fo findet 
Euer Geift Beichäftigung, und möglicherweiſe läßt fih dadurch 
einem Unheil vorbeugen. Ein unfihtbarer Beobachter, der hinter 
einem Fenſter ſteht, kann vielleicht einen Verjuch entdeden, welcher 
Denen entgeht, die draußen auf der Lauer liegen.“ 

„Es ſoll geſchehen,“ verſetzte Marv haſtig; „und wenn id 
etwas bemerke, öffne ich einen Laden meines Zimmers. Ihr ſeht 
dann das Licht durchfcheinen, und wenn Ihr jehnell nach dieſer 
Thüre kommt, fo follt Ihr mich hier finden und von mir erfahren, 

was ich entdedt habe." 

Unter diefer Verftändigung trennten wir ung, aber nicht früher, 
Dis ich diefem lieblichen und doc fo entfchloffenen, Kar blidenden 
Mädchen zärtlich die Hand gedrüdt hatte. Dann fehrte ich zu 
Bielzunge zurüd, der in dem Schatten der Piazza fland, wo er 
nicht gefehen werden Eonnte, wenn man ihm nicht ganz nahe Fam. 
Nachdem wir mit einander kurze Rückſprache genommen hatten, 
fhlug der Eine von ung feine Richtung nach der Nordfeite, der 
Andere nach dem Süden des Gebäudes ein, um nachzufehen, ob 
ein Mordbrenner an einem der Flügel fein Werk verjuche. 

Das Nefthaus war derartigen verbrecherifchen Anfchlägen weit 
weniger preisgegeben, als die meiften amerikanifchen Wohnungen. 
Da das Gebäude felbft aus Stein beftand, fo war nur wenig 
brennbares Material zugänglich, denn das Haus hatte, wie bereits 
erwähnt, nur zwei äußere Thüren — die eine allerdings fehr groß, 
fo daß ein geladener Wagen nad) dem innern Hof durchfahren 
fonnte. Dieje befand fi auf der Südfeite des Flügels, und unter 
dem Bogen deffelben Eonnte ein Brandftifter wohl feinen Verſuch 
machen, objchon ein gewandter Schurke alsbald die Schwierigfeiten 
hätte einfehen müffen,, da außer dem maſſiven Thor auch bier nur 
wenig Holz war, und deßhalb es den Flammen bald an Nahrung 


489 


fehlen mußte. Demungeachtet unterfuchte ich den Platz, und da ich 
auf meiner Seite des Gebäudes Alles ficher fand, fo kehrte ich zu. 
dem Dolmetfcher zurüd, mit dem ich mich verftändigt hatte, er folle 
mich unter einer fchönen Buche erwarten, die, etwa hundert Schritte 
vom Haus entfernt, ihre Zweige weit über den Rajen hin breitete. - 
Diefer Baum fland ganz vorn, jo daß er ung trefflihen Schuß 
- and überhaupt einen Standpunkt bot, wie ihn fern und nah Schild- 
wachen, die gleich ung in einem fo eigenthümlichen Dienft bejchäf- 
tigt waren, nicht befjer hätten finden können. 

Unter diefer Buche num fand ich Vielzunge, und der Umftand, 
Daß ich felbft feine Geftalt kaum zu unterfcheiden vermochte, ſprach 
um jo mehr zu Gunften des Poſtens. Ich ſah ihn nicht früher, bis 
ich ihm fo nahe fland, daß ich ihn fat mit den Händen greifen 
fonnte. Er faß auf einer Bauf, und fchien fi als ein Mann, der 
an Hinterhalte, Wachſamkeit und nächtliche Angriffe gewöhnt war, 
durch das Abenteuer nicht fonderlich anfechten zu laffen. Wir rap« 
portirten ung gegenfeitig den Stand der Dinge, und nachdem wir 
ung überzeugt hatten, daß Alles geheuer war, nahmen wir Beide 
neben einander Platz, um uns die Zeit durch ein Geſpräch über 
mancherlei Dinge zu Fürzen. 

„Bir haben geftern Abend einer fehr intereffanten Scene an⸗ 
gewohnt," eröffnete ich die Unterhaltung; „ich meine die Begegnung 
zwiſchen dem alten Fährtelofen und Euren rothen Gefährten. In 
der That, ich möchte wohl wiflen, welche befonderen Anfprüche 
unfer betagter Freund an jene fernen Stämme hat, und was diefe 
angejehenen Häuptlinge bewegen mag, ihn von fo weit her zu 
bejuchen. ” 

„Sie fommen nicht geraden Wegs von den Prairien aus nach 
diefem Plabe, und der Befuch ift deghalb nicht der urfprüngliche 
Zwed, obfchon ich nicht daran zweifle, fie würden auch fonft den 
weiten Weg nicht gefcheut haben. Hohes Alter, wenn es von 
Weisheit, Nüchternheit und einem guten Rufe begleitet ift, gilt im 


490 


Allgemeinen bei ven Wilden gar viel; indeß müflen die früheren 
Thaten des Fährtelojen etwas Eigenthümliches haben, das mir 
nicht bekannt ift, gleichwohl aber ihn ungewöhnlich hoch ſtellt in 
den Augen der Rothhäute. Ich hoffe, der Sache noch auf den 
Grund zu kommen, ehe wir diefe Gegend verlaflen.“ 

Es folgte nun eine Pauſe, nach welcher ich von den Prairien 
zu fprechen anhub, und von dem Leben in jenen weiten Flächen ein 
Bild zu entwerfen verſuchte, das, wie ich meinte, in den Ohren 
eines Mannes von den Gewohnheiten meines Gefährten beifälligen 
Anklang finden mußte. 

„Ich will Euch jagen, wie es ift, Obriſt,“ erwiederte der Dols 
metfcher mit mehr Gefühl, als ich bisher im Laufe unferer Eurzen 
Bekanntfchaft an ihm wahrgenommen hatte, „ja, ih will Euch ge- 
nau fagen, wie e8 damit fteht. Das Prairieleben ift ganz entzüdend 
für Diejenigen, welche Freiheit und Gerechtigkeit lieben." 

„Freiheit — dieß kann ich mir wohl denken,” fagte ih, ihn 
überrafcht unterbrechend — „was aber die Gerechtigkeit betrifft, 
fo möchte ich glauben, daß hiezu Geſetze unbedingt nöthig find.“ 

„Sa, ich weiß, dieß ift jo eine Idee, wie man fie in den Sett- 
lements hegt; aber e8 liegt nicht halb jo viel Wahrheit darin, als 
Manche meinen. Es gibt keinen befferen Gerichtshof und kein zu⸗ 
verläffigeres Schwurgericht, als die ſes, Obriff" — er ichlug dabei 
mit Nahdrud auf den Schaft feiner Buͤchſe — „und Pulver aus 
dem Often in Berfhwörung mit dem Galena-Blei liefert die beften 
Advofaten. Ich hab's mit beiden verfucht und kann daher aus 
Erfahrung ſprechen. Das Geſetz hat mich in die Prairien hinaus- 
getrieben, und aus Vorliebe für fie bleibe ich dort. Hier unten 
. herum habt Ihr weder das Eine noch das Andere — weder Gefeb 
noch Büchfe, denn hättet Ihr ein Geſetz, wie es. fein follte, fo 
müßten wir nicht zu diefer Stunde der Nacht hier figen, um zu 
verhindern, daß dieje After-Infchens Euch Haus und Scheune über 
dem Kopf anzünden.” 


491 . 


In diefer Tegteren Nußatwendung des offen fich ausfprechenden 
Dolmetjchers Tag jo viel Wahrheit, daß dagegen nichts zu erwiedern 
war; denn wenn man auch den Schwierigkeiten Des Falls und den 
unerwarteten Umfländen Einiges zu gut hielt, fo konnte doch Fein 
unparteiifcher Mann in Abrede ziehen, daß es nicht fo weit hätte 
fommen können, wofern mit den Geſetzen nicht ein ſchnödes Spiel 
getrieben worden wäre. Wie Vielzunge alfo behauptete, hatten wir 
weder den Schuß des Gefehes, noch durften wir ung durch unfere 
Büchfen jelbft ſchirnen. In der That, man follte durch's ganze 
Land an allen Straßen und öffentlichen Pläßen mit ehernen Buch⸗ 
flaben die Warnung ausftellen: ein Bufland der Gefellfchaft, 
der jenen Schuß verfpricht, welcher der Eivilifation ge- 
bührt, und nicht Wort hält, macht die Sage des ehrlichen 
Eheils der Bevölkerung nur um fo fchlimmer, indem er 
fie der Schirmungsmittel beraubt, welche die Watur ſelbſt 
an har Hand gibt, ohne daß er dafür einen Erfah ge- 
währt. 

Der Dolmetfcher und ich fagen wohl eine Stunde unter dem 
Baume, und wir unterhielten ung in gedämpften Lauten über aller⸗ 
lei, was ung eben gerade zu Sinn fam. In den Anfichten meines 
Gefährten lag viel ächte Prairie-Philofophie, was ungefähr fo viel 
heißen will, wie wenn ich fagte, — fie waren ein Gemifch von 
klarem natürlichem Nechtsfinn und eingefleifchten Lofalvorurtheilen. 
— Das legte, was er gegen mich äußerte, war fo bezeichnend, daß 
ich es wohl hier aufführen muß. 

„sch will Euch fagen, wie es ift, Obriſt,“ fagte er; „Recht 
ift Recht und Unfinn ift Unfinn. Wenn wir nur jebt einen von 
Diefen verfappten Schurken erwifchen könnten, wie er eben Euer Haus 
oder Eure Scheune anzünden will, man könnte da mit der Gerech- 
tigkeit leicht zu Stande fommen und die Sache auf dem Platz in's 
Reine bringen. Dürft’ ich meinem Sinn folgen, fo knebelte ich den 
Kerl an Händen und Füßen und ſchmiſſe ihn ins Feuer, damit er 


492 


doch die Frucht feiner eigenen Arbeit genöße. Ein fchlechter Kerl 
gibt das allerbefte Brennholz.” 

An demfelben Momente ſah ich den oberen Laden von Mary 
Warrens Schlafzimmer aufgehen, denn meine Blicke hatten inzwi⸗ 
ſchen unverweilt auf dem befprochenen Fenfter gehaftet. Das Licht 
ftand fo nah hinter der Yaloufie, daß die Veränderung im Ru bes 
merklich wurde; e8 unterlag alio feinem Zweifel, daß meine fchöne 
Schildwache irgend eine wichtige Entdedung gemacht hatte. Rad 
folcher Aufforderung zögerte ich nicht länger, fondern eilte, nachdem 
ih Vielzunge aufgefordert hatte, feine Wachſamkeit fortzufeßen, 
mit den Schritten der Jugend und der gefpannten Erwartung über 
den Raſen. Zwei Minuten fpäter lag meine Hand auf der Klinte 
des Thürchens, und einen Moment nachher ftand letzteres offen. 
Mary Warren empfing mich, winkte mir mit der Hand, dag ih 
behutſam fein folle, und fchloß leije die Thüre. Ich bat fie nun um 
Aufklärung. 

„Sprecht nicht zu laut," flüfterte das beforgte Mädchen, ob- 
ſchon fle im Allgemeinen eine Faſſung zeigte, welche in Anbetracht 
der außerordentlichen Berhältnifje berunderungswürdig zu nennen 
war. „Sch habe fie wahrgenommen; fie find hier!" 

„Hier? — doch nicht in dem Haufe?" 

„Sa, in dem Haufe — in der Küche, mo fie in diefem Augen⸗ 
blicke auf dem Boden Feuer anzünden. Kommt hurtig — wir 
dürfen keine Zeit verlieren.“ 

Es wird hier am Orte ſein, die Einrichtung der Kücen- und 
Wirthſchafts⸗Räume zu fehildern, damit nachfolgende Erzählung 
verftändlicher werde. Die bereits erwähnte große Einfahrt trennte 
den füdlichen Flügel des Haufes in zwei gleiche Theile, die Zimmer 
aber erftredten fi) nach der ganzen Länge und liefen natürlich) 
über dem Thore hin. Auf der weftlichen Seite des lebteren bes 
fanden ſich die Speifezimmer und die dazu gehörigen Wirthichafts- 
gelaffe, auf der öftlichen aber die Küche, die Bedientenftube, der 


493 


Scheuerplatz und eine ſchmale Treppe, die nach den Schlaffammern 
des Gefindes führte. Die äußere Thüre zu Diefem Theile des Ge= 
bäudes war unter dem Bogen der Durchfahrt angebracht, und ihr 
gegenüber befand fich eine andere, welche den gewöhnlichen Dienft 
vermittelte. Dann war ein Hof vorhanden, der auf drei Seiten 
von dem Hauptgebäude und den mehr erwähnten beiden langen nied= 
rigen Flügeln umgeben, auf der vierten aber gegen die Klippe hin 
offen war. Letztere hatte, obichon fie faft fenkrecht abflel, Keine be= 
fondere Höhe, fo daß ein behender Mann wohl im Stande war, 
unter der Benüßung der Zerflüftungen daran hinauf oder auch hin 
abzufteigen. Als Knabe hatte ich- dieſes Wagniß oft und vielmal 
beftanden, und aud) die männlichen Dienftboten und die gemietheten 
Arbeiter machten häufig diefen Berfuh. Da fiel mir denn mit 
einem Male ein, die Brandftifter könnten wohl durch Erfteigung der 
Klippe in's Haus gelangt fein, -und die Klippe lieferte natürlich 
vornweg das für ihre Abficht taugliche Material. 

Der Lefer kann fich denken, daß ich, nachdem mir Mary Barren 
die obgedachte Mittheilung gemacht hatte, mich nicht Damit aufhielt, 
alle diefe Dinge mit ihr ausführlich zu verhandeln. Mein erfter 
Gedanke war, fie zu bitten, fie möchte nach der Buche hingehen, 
um Bielzunge herbeizubefcheiden, aber fie weigerte fih, meine 
Seite zu verlaffen. 

„Rein — nein — nein. hr dürft mir nicht allein nach der 
Küche gehen," fagte fie haſtig. „Es find ihrer zwei; fie ſehen 
ganz verzweifelt aus, haben fich die Gefichter gefehwärzt und führen 
Musketen bei ih. Nein — nein — nein. Kommt nur mit — 
ich will Euch begleiten.” 

Ich zögerte nicht länger, fondern ging weiter, und Mary hielt 
fih dicht an meine Seite. Zum Glüd hatte ich die Büchfe bei 
mir, und die Drehpiftofe flat in meiner Taſche. Wir gingen den« 
felben Weg, welchen Mary bei ihrer Wache eingefchlagen hatte, 
dur die Speis- und Wirthſchaftszimmer zurüd; denn bei ihrer 


494 


Runde hatte fie vermittelt eines Kleinen Fenſters, das in Die Durd- . 
fahrt hinausging und einem Küchenfenfter gegenüber lag, das 
Zreiben der nächtlichen Uebelthäter bemerkt. Unterwegs erzählte 
mir das muthige Mädchen, fie fei, während ich vor dem Haufe 
draußen auf meinem Poften ftand, ohne Unterlaß in den unteren 
Gemächern des ganzen Gebäudes umbhergegangen; Da habe denn 
ein Licht, das durch die vorerwähnten Fenſter blinkte, ihre Auf- 
merkjamkeit auf fih gezogen und fie in die Lage gejebt, deutlich 
zwei Männer mit gefehwärzten Gefichtern zu unterfcheiden, die in 
einer Ede der Küche, wo die Flammen ſich bald der Treppe umd 
ipäter den oberen heilen, wie auch dem. Holzwert des Dad 
mittheilen mußten, Feuer anzündeten. Zum Glüd beftand in diefem | 
ganzen Theile des Haufes der Boden aus Badfleinen, und nur die 
Bedientenftube, die ſich jenfeits des fchmalen Treppenraums befand, 
machte hievon eine Ausnahme. Sobald Mary Warren die Gefahr 
entdedt hatte, eilte fie nach ihrem Gemad hinauf, um an ihrem 
Fenſter das verabredete Signal zu geben, und kehrte dann nach der 
Thüre zurüd, um mich von dem Thatbeftand zu unterrichten. Seit 
der Zeit aber, als fie zum erften Mal fich von der drohenden Ge- 
fahr unterrichtet hatte, waren bereits drei oder vier Minuten ent- 
fhwunden, jo daß wir ung jetzt mit aller Haft nach dem Fenfter in 
der Durchfahrt begaben. 

Ein greller Lichtichimmer an dem gegenüberliegenden Fenſter 
zeigte uns an, welche Kortichritte Die Mordbrenner gemacht hatten. 
Ich bat Mary, fie folle bleiben, wo fie fei, ging durch die Thüre 
und flieg nach dem Pflafter des Durchlafjes hinunter. Das Kleine 
Fenfter unter dem Bogen war zu hoch angebracht, als daß ich hätte 
durchſehen können; indeß war noch eine Reihe niedriger Fenfterchen 
vorhanden, die in den Hof hinaus gingen. Sch begab mich hurtig 
nach einem derfelben Hin, und konnte nun deutlich wahrnehmen, 
was drinnen vorfiel. 

„Da find fie!" flüfterte Mary, die, ohne auf meine Bitte Rück⸗ 


495 


fiht zu nehmen, nicht von meiner Seite gewichen war; „Zwei 
Männer mit geſchwärzten Gefihtern — und das Holz, mit dem 
fie ihr Feuer anzündeten, fladert bereit lichterloh.“ 

Das Feuer, wie ich es jet ſah, beftätigte die Bejorgniß nicht, 
welche ich gefühlt hatte, als es mir nur meine Einbildungsfraft 
vormalte. Unter der Treppe befand fich ein offener Platz, und die 
Brandftifter hatten auf dem Ziegelboden darunter ihren Holzfloß 
aufgefchichtet. Diefer hatte zur Unterlage das Brenn-Material, 
welches für die Bedürfniffe der Köchin vorhanden war, und die 
Verbrecher hatten zum Anzünden defjelben die Kohlen des Herds 
benugt. Der Holzhaufen war beträchtlich und brannte ſchon hell 
auf; auch trugen die beiden Schurken, als ich fie zum erften Mal 
bemerkte, die Stühle der Küche als weiteren Brennfloff herbei. 
Es war ein guter Grund gelegt, und zehn oder fünfzehn Minuten 
fpäter hätte diefer ganze Theil des Haufens in Flammen ftehen 
müffen. 

„Ihr habt von Musketen gefprochen, welche die Elenden bei ſich 
hätten,“ flüſterte ich Mary zu. „Seht Ihr jetzt etwas davon?“ 

„Rein. Als ich fie zum erſten Mal wahrnahm, hatte Jeder 
feine Muskete in der einen Hand, während er mit der andern Holz 
herzutrug.“ 

Ich hätte die Schurken ohne Mühe oder Gefahr für mich 
niederſchießen können: indeß mochte ich doch keinem Menſchen das 
Leben nehmen. Freilich ſtanden die Dinge ſo, daß ich einen ernſt⸗ 
lichen Kampf beſorgen mußte; es war alſo nothwendig, Beiſtand 
herbei zu berufen. 

„Wollt Ihr nach dem Zimmer meines Onkels gehen, Mary, 
und ihm ſagen, er möchte augenblicklich aufſtehen? Dann habt die 
Güte, von der Vorderthüre aus Vielzunge zuzurufen, er ſolle ſo 
ſchnell wie möglich hieher kommen. In zwei Minuten iſt Beides 
geſchehen, und ich will in der Zwiſchenzeit dieſe Schurken beob⸗ 
achten.“ 


496 


„Ih fürchte mih, Euch bei den Elenden bier allein zu laſſen, 


Mr. Littlepage,” flüfterte Mary leife. 


\ 
1 


Eine dringende Bitte von meiner Seite bewog fie jedoch, zu | 


willfahren, und fobald das theure Mädchen einmal ihren Entfchluß 
gefaßt hatte, eilte fie eigentlich im Fluge dahin. Wie es mid 
däuchte, war kaum eine Minute verfloffen, als ich fie fchon dem 
Dolmetfcher zurufen hörte. Die Nacht war fo flille, daß der leife 
Zon diefes Rufs auch die Ohren der in ihrem hölliſchen Werke bes 
griffenen Mordbrenner erreichte, wenn fie nicht etwa blos etwas gehört 
zu haben meinten. Genug, fie geriethen in Unruhe, fprachen mit- 
einander, jchauten einen Moment nach dem brennenden Holzſtoß 
hin, und griffen nach ihren Waffen, welche in einer Ede der Küche 
fanden. Sie ſchickten fi zum Nufbrucd an. 

Die Krifis war nahe. Bor ihrem Entweichen war die An 
kunft eines Beiftandes unmöglich, und ich mußte entweder mit den 
beiden Kerlen anbinden, oder fie entwifchen laſſen. Mein erfler 
Gedanke war, den Bordermann niederzufchießen und den andern 
zu paden, ehe er Zeit gewänne, von feiner Waffe Gebraud zu 
machen; aber ein glüdlicher Gedanke hinderte mich an Diefem ges 
wagten Schritte. Die Mordbrenner waren im Rüdzug begriffen, 
und es Fam mir ein Bedenken, ob es auch gejeglich ſei, einen 
flühhtigen Verbrecher zu tödten. Meine Nusfichten vor einem 
Schwurgericht geftalteten fich, wie ich glaubte, weit fchlimmer, als 
die eines gewöhnlichen Taſchendiebs oder Straßenräuberg, denn id 
habe genug gehört oder gelefen, um die Meberzeugung zu gewinnen, 
daß Taufende um mich her wohnten, welche fich mit der Meinung 
trugen, der Umfland, daß ich der Eigenthümer von Farmen fei, 
welche Andere zu beſitzen wünfchten, fei hinreichend, um im mora⸗ 
fischen Sinne auch die ſchlimmſten gegen mich geübten Schritte zu 
entfchuldigen. 

Eine Majorität meiner Landsleute wird diefe Borftellung als 
erzwungen und unwahrfcheinlich erklären, aber auch Majoritäten 


497 


find in ihrem Urtheil durchaus nicht untrüglich, und ein verftän- 
Diger Mann mit nur gewöhnlicher Beobachtungsgabe braucht nur 
Das, was täglich um ihn vorgeht, in's Auge zu fafen, um fich 
bievon zu überzeugen. Wenn er nicht findet, daß die Menfchen 
gar jehr geneigt find, bei Verfolgung eines Planes von Grund- 
fägen und Gerechtigkeit Umgang zu nehmen, jo will ih einräus 
men, daß ich nichts von der Menfchennatur verftehe — wenig⸗ 
ftens von der Menfchennatur, wie fie fich in unferer gefegneten 
Nepublif verzerrt hat. 

Es war übrigens Feine Zeit zu verlieren, und das Verfahren, 
zu dem ich mich entjchloß, wird am beſten aus dem Verlauf der 
Ereigniſſe erhellen. Ich hörte die Thüre aufgehen und machte mich 
zum Angriff bereit. Ob die Mordbrenner die Abficht hatten, ver⸗ 
mittelft der Klippe den Nüdzug anzutreten oder das von innen 
verriegelte Thor zu öffnen, wußte ich nicht; aber ich hielt mich 
auf jeden diefer beiden Fälle gefaßt. 

Kaum vernahm ih auf dem Pflafter des Durchlafjes einen 
Schritt, als ich meine Büchfe in die Luft abfenerte, um damit ein 
Lärmfignal zu geben. Dann faßte ich mein Gewehr, ſprang vor» 
wärts und brachte den VBorderften mit einem tüchtigen Stolbenfchlag 
auf feinen Hut zu Boden. Der Kerl flel nieder wie ein Ochſe 
unter dem Beil des Schlächtere. Dann ließ ich die Büchfe fallen, 
fprang über den Körper des Hingeftrediten weg und padte feinen 
Spießgefellen. Alles dieß gefchah fo fchnell, Daß Die Ueberraſchung 
feinem der Schurken Zeit ließ, fih zur Wehr zu flellen. Der An- 
griff auf meinen zweiten Gegner, der noch aufrecht fland, war in 
der That fo plötzlich, dag er feine Büchfe fallen laffen mußte, und 
nun begann der Ringkampf; wir hielten uns wie ein paar Bären 
in der Todesumarmung umfaßt. Ich war jung und behend, mein 
Gegner aber mit größerer Körperfraft begabt. Auch er verftand 
fi) gut auf den Ringkampf, und ich fiel zu Boden, während mein 
Feind über mich hinftürzte. Zum Glück fiel ich auf den Körper 

Ravensneft. Ey} 


498 


des anderen Morbbrenners, der eben jept nach dem gewaltigen 
Schlage, den er erhalten hatte, Zeichen des wiederkehrenden Be- 


wußtfeins verriet. Wenn nicht Beiftand kam, hatte ich nur ges | 


tinge Ausfihten. Der zweite Mordbrenner hielt mich am Hals: 


tuche gefaßt und drehte es zufammen, um mich zu erftiden; aber 


plöglid Tieß er in feinen Anftrengungen nah. Das Feuer, defien 
Helle durch die Küchenthüren herausdrang, ließ nun Alles, was 


unter dem Bogen vorging, deutlich unterfcheiden. Mary war eben 


im rechten Augenblide zurückgekehrt, um mich zu retten. Mit einer 
Entfchloffenheit, die ihr Ehre machte, griff fie die Büchfe, welde 
ich hatte fallen Laffen, wieder auf, ftedte den Lauf zwijchen den 


gebogenen Armen und dem Nüden meines Gegners durch, und be . 


diente fich zu gleicher Zeit der Waffe als eines Hebels. Diefer 
Beiftand ließ mich wieder zu Athem Tommen; ich nahm meine vol 


Kraft zufammen, padte meinen Feind an der Kehle, fchüttelte in 


ab, warf ihn auf die Seite und war im Nu wieder auf den 
Beinen. Jetzt zog ich die Piftole hervor und rief dem Schurken 


zu, er folle fich ergeben oder die Kolgen auf fich nehmen. Da 


Anblick diefer Waffe ficherte mir den Sieg, denn der gefchwärzte 
Mordbrenner kroch in eine Ede zurüd und flehte auf's Kläglichfe, 
ich möchte ihm nicht erfchießen. Im nächften Augenblide erfchien 
der Dolmetfcher unter dem Bogen. Der ganze Indianerhaufen, 
folgte ihm auf dem Fuße, denn mein Schuß hatte ihnen als Leit 
fignal gedient. 


DE JE "UL, A 


b 


Dreiundswanzigftes Kapitel. 


„Du jagft, entrsumden feien alle 


Bon jenem tapfern, edeln Stamm, 
Die Räpne —X die fonft | fo fpielend 
wiegten auf der Wellen Kamm. 


m —— en er jonft durchſtreifte, 
3 — mit bes Sn Auf vorbei; 
Doc, eb e fein Name auf den Waflern — 
Dort bleibt er ewig jung und neu!“ 


Mrs. Sigourned. 


Nachdem ich Vielzunge die Weiſung ertheilt hatte, die 
Brandſtifter zu binden, ſprang ich in die Küche, um die Flam⸗ 
men zu löſchen. Es war hohe Zeit, obfchon mir auch hierin 
Mary Warren bereitd zuvorgefommen war. Sie hatte mehrere 
Eimer voll Waſſer auf das euer, das ſchon dur die Stühle 

- zu praffeln begann, auögeleert und jo der Flamme wejentlichen 
Eintrag gethan. Ich mußte, daß ſich in der Küche eine Wäffe- 
rungs⸗Maſchine befand, die einen reichlichen Vorrath Wafler lie⸗ 
ferte. So füllte ih denn mehrere Eimer, goß deren Inhalt auf 
die Lohe aus, und in einer halben Minute war das ganze Ge= 
laß mit dickem Rauch erfuut Dem grellen Lichte folgte eine 


32* 





500 


| 
tiefe Duntelheit,; fo daß wir zu Lampen und Lichtern unfre Zu⸗ 
flucht nehmen mußten. 

Der durch die vorbefchriebene Scene veranlaßte Lärm brachte 
bald alle Infaflen des Haujes an Ort und Stelle. Die männ- 
lihen und weiblichen Dienfboten Tamen die Treppe herunter, 
unter welcher das Feuer angezündet worden war, und im Ru fah 
man in allen Richtungen des Haufes Lichter ſich bewegen. 

„Der Zaufend, Mr. Hugh," rief John, nachdem er den Zu 
fland der Küche beaugenfcheinigt hatte, „da fieht's ja fchlimmer 
aus, als in Irland, Sir! Die Amerikaner wollen fich flets 
über die armen Srifchers luſtig machen und nennen die Heimath 
derjelben ein wildes Land, das ganz unpaflend fei, bewohnt zu 
werden; aber dort fieht's lange nicht fo ſchlimm aus, als es 
bier zu werden anfängt. Noch ein paar Minuten, und die 
Treppe hätte gebrannt; fand aber dieſe einmal im euer, fo 
hätte Niemand von ung Dahftühchen- Bewohnern dem Tod ent 
rinnen Eönnen. Man foll mir jeßt nur wieder über Irland 
ratfonniren!" 

Der arme John! Seine Vorurtheile waren die eines Eng 
länders von feiner Klaffe, und dieß will Alles heißen, was man 
einem Borurtheil nur nahrühmen kann. Aber dennoh — wit 
viel Wahrheit lag in feiner Bemerkung! Die Ruhe, mit welche 
wir uns in Betreff der Moral, der Ordnung, der Gerechtigkeit und 
der Tugend über alle anderen Nationen erheben, enthält wahrlid 
eine gewichtige Lehre, jobald man einmal die Dinge betrachtet, wie 
fie wirklih find. Es liegt nicht in meiner Abficht, die Mängel 
meines Baterlandes über Gebühr zu vergrößern; aber zuverläffig 
bin ich nicht jo gewiſſenlos, fie zu verheimlichen, wo ein ber ' 
artiger Fehlgriff die gefährlichiten Folgen nach fich ziehen Eönnte. 
Im Ganzen gibt e8 allerdings bet uns in Amerika weit weni 
ger Unruhen, Zumulte und Erfchütterungen, als vielleicht, ſo⸗ 
fern Zahlen dabei in Frage kommen, unter den meiflen anderen 


4 


+ 








* 
501 


chriftlichen Nationen, jelbft die Zeit mit eingere 
der große Berfuch begonnen hat; aber den Grund davon müffen 
wir in unfern Zuftänden fuchen, da diefe unabhägig von dem 
Nationalcharakter daftehen. Unfre Inftitutionen haben den Maffen 
nichts gelaffen, nach dem fie ringen Eönnten, und der Hunger 
ift unter und unbefannt. Doc was bietet ung die andere Seite 
des Gemäldes? Kann mir irgend Jemand ein Land in Europa 
namhaft machen, in welchem eine große politifche Bewegung von- 
einem fo Fedftirnig fchurfifchen Grundfa ausgegangen wäre, als 
der if, welcher die Uebertragung des Eigenthums von einer 
Bevölferungs- Klaffe auf die andere fordert? Daß ein folder 
Plan unter ung verfolgt wird, ift über allen billigen Wider⸗ 
ſpruch erhaben, und ebenjowenig läßt fich in Abrede ziehen; daß 
dieſes Treiben auch die Gefebgebung mißbraucht hat und Die 
Regierung in ihren gewaltigften Werkzeugen vergiftet. John 
hatte recht, ‚wenn er fagte, wir hätten nicht nöthig, über die 
Aufwallungen des mißhandelten und mit Füßen getretenen Ir⸗ 
lands die Nafen zu rümpfen, fo lange in unferem eigenen Banne 
folche Vergehungen gegen die einfachflen Gebote des Rechts vor⸗ 
fielen. 

Das Feuer war gelöfht und das Haus in Sicherheit. Im 
der Küche hatte fih der Rauch bald verloren, und an feiner 
Stelle ſah man eine wahre Wolke von Rothhäuten. “Prairies 
feuer, Adleröflug und Kiefelftein — Alle waren zugegen, um 
mit finfteren, aufmerffamen Bliden die Wirkungen des Feuers 
zu unterfuchen. Sch ſah mich nah Mary Warren um; allein 
das fanfte, fittige Mädchen hatte, nachdem fie eine Geiftes- 
gegenwart und Entfchloffenheit Eundgegeben, die einem jungen 
Manne von ihrem Alter Ehre gemacht haben würden, mit dem 
Zartgefühl ihres Gefchlehts fih zurüdgezogen und die übrigen 
FSrauenzimmer aufgefucht. Ihr Dienft, der uns jo wejentlichen 
Nupen brachte, war beendigt, und fie wünfchte jetzt nur, dag 


, Teit welcher 


r 1 
t. 502 








n dem ganzen Borgange der Bergefjenheit über: 


ihre Theilna 
geben werbemfmöge. Dieß erfuhr ich freilich erſt am andern | 


Tage. 
Vielzunge hatte fich der Brandſtifter verfichert, die ſich jetzt | 
mit auf den Rüden gebundenen Händen und Armen gleichfalls 
in der Küche befanden. Da ihre Gefichter noch immer gefchwärzt 
waren, fo vermochte ich Keinen von Beiden zu erkennen. De 
Kerl, den ich mit dem Büchfenfchaft zu Boden gefchlagen, war 
noch immer ganz verwirrt, und ich befahl den Domeſtiken, ih 
zu wafchen — einmal, weil ich hoffte, daß er hiedurch mehr 
zur Befinnung komme, und dann, weil ich zu fehen wünjdt, 

wer er war. 

Dieß war bald gefchehen und damit mein doppelter Zwed 
erreicht. Die Köchin bediente fich eines Tellertuches mit folder 
Gewandtheit, daß fchon nach der erfien Anwendung der Mohr 
zu einem Weißen umgewandelt war; bald fah er fo fäuberlih 
aus, wie ein Kind, das die Wärterin, ehe es in die Schule 
geht, herausgepußt hat. Nach Befeitigung der Verkappung zeigte 
fih das befchämte und erfchredte Gefiht Zofua Brighams, de} 
gemietheten Knechts meines Farmerd Miller — oder vielmeht 
meines eigenen Taglöhners, da in Wirklichkeit feine Belohnung 
aus meiner Safe floß. 

Ja, dieß war eine von den Wirkungen der gefährlichen An⸗ 
fihten, die fih in dem Lande jo weit verbreitet hatten — Al 
unter dem Einfluffe jenes jchweren moralifchen Wahnfinns, der 
mit einer Gefahr unter und wüthet, weit größer, verderblicder 
und gefährlicher, als diejenige ifl, welche im Gefolge der Cholera 
auftritt. Ein Kerl, der fat mit meiner Familie unter Einem 
Dache wohnte, hatte fih nicht nur mit Andern verfchworen, mih 
in großartigem Maohſtabe meins Eiqenttums zu berauben, for 

dern fogar feinen Anſchlog \o weit giiiiten, dh nr ar But 
fadel und zur Büchle rin, um arte derartiger Betas N 








6 
tugendhaften Entwürfe zur Vollggdung zu 
obendrein war dieß nicht das Reſultat 
Sinne, fondern nur die Folge eines weity 
welches unter den Politikern des Landes fd 
Blut übergegangen ift, und das von Menfchen, 
das Gewicht der Majoritäten verlaffen, Tedftirni 
Hallen der Gefeßgebung vertheidigt wird *). 

Ich geftehe, daß die Ausſchaalung des Joſua Brigham mich 
in Betreff feines Spießgefellen ein wenig neugierig machte. Hefter, 
die Köchin, erhielt die Weifung, auch das andere Kindlein zu fäus 
bern, und die gute Perfon fchidte fi) wohlgemuth an, das Werk 


in umlg ve iger hetannd 
, niöht glauben m ıeB einzigen 
Ausfunftsmitteld € — 
gegrifen baten, um Eon] 
et Bereimigten Gt au erlafen, 
durch welche die ] ! biefe- Bots 
forge der Föderal-E ıhlen Längft 
gelungen, unter 5 emthum der. 
enigen unter feib ngen! Dies 
ed Befet, übrigens „ DiB gegen 
ie Mitte ded neun 
Entwurf Beglüct m wollen und 
ben müffen", zu Der Staat 
{ern tigt, d 58 if daher 
in ber Orfeagebüng a, bejagtes 
Heimfalle-Statut fü ein Grunde 
— ber auf feinen Eob abgeht 
ober’ ein Heimfall t Inne, damit, 
fein Pachtgut in ei agejchrie 
were fat m} zieh, ins 
immer ı Tlaufet bed 
Beben inet u | 3, iR aber 
nißt geneigt, sen Staaten et» 
#läen, der Gontral ö über den 
Charafter der Gefet m dad vore 
erwähnte Abhülfem ionfiitution 
umgeben foll. 


Seit der Zeit, in weicher Ddiged gefrieben morben, en, iDa8 erwähnte Deich 
wirklich bei der Affembip —— obfchon eB bei dem Senate noc) nicht an« 
genommen nwurbe. Die Verfügung faßt alled vermiethete Grundeigentjum in ih, 
— Wertzäge auf mepr ald einundgmangig Zahte uber au RE 


u. 


— 


8 


an denke Ich unfer Erflaunen, als fchon der 
naflen Lappen ung das Gefiht des abermals 
ewceome enthüllte! Man wird fich erinnern, 
daß wir Diefi n Ehrenmänner zum letzten Mal gefehen hatten, 
er Landftraße herumbalgten. 
dedung erjhütterte mich in hohem Grade. Aller 
dings hatte e8 in dem Gefchlecht der Nemceome’s von dem Großvater 
an, der es in Ravensneft gründete, bis auf Opportunity herab nie 
ein Glied gegeben, das unter ung gefchäßt und geachtet worden wäre. 
Arglift,. Tücke, Betrug und Uebervortheilung maren von dem Tage 
an, an welchem Zafon den Mühlplap miethete, bis auf die gegen 
wärtige Stunde herunter flets ein Familienzug gewefen. Gleichwohl 
lebten fie in unferer Nähe, und die Gewohnheit hatte eine gewifle 
Zheilnahme für fle erzeugt. Außerdem befaß die Familie eine Art 
Anfpruch, welcher fie weit öfters, als die meiften übrigen Pächter 
mit ung in Berührung brachte. Der Großvater hatte einige Er 
ztehung genoffen, die fich gewiffermaßen bis auf den unglücklichen 
Elenden fortgefeßt hatte, der nun als Gefangener, flagrante 
delictu in einem todeswürdigen Verbrechen ergriffen, vor ung fland. 
Seneka war zwar nie ein Mann von Bildung geweſen, wie dieſer 
Ausdruck von wirklich gebildeten Leuten genommen wird, aber er 
gehörte einem Beruf an, welcher den Menfchen wefentlich über die 
Stufe der Bemeinheit erheben ſollte. Auch Opportunity hatte ihre 
quasi-Erziehung erhalten, und zwar eine weit anfpruchsvollere Er⸗ 
ziehung, als die meiner eigenen Schwefter war; allein der Unter- 
richt, den fie genoffen, Eonnte nicht8 weniger ald gut genannt wer⸗ 
den, denn fie hatte nicht einmal leſen gelernt, fofern fie dieſe Kunſt 
mit einer provinziellen Ausfprache übte, die bisweilen den Ohren 
weh that. Indeß befaß fie doch Gefühl und Eonnte feine Ahnung 
von den Abfichten ihres Bruders gehabt haben, ald fie mir jene 
wichtige Mittheilung machte. Aayerden war Ge in Tolge ihres 
beſchran fteren Umgangs wertüene AB Sen, RU TEÄRE UNKL= 


—X 















wartete Ergebniß ihrer eigenendvandlung 
zur Verzweiflung treiben. 

Ich dachte noch immer über dieſe Dinge 
Großmutter zu ſich rufen ließ. Sie befand ihrem An⸗ 
kleidezimmer und war von den vier Mädchen um ,‚ auf deren 
lieblichen Gefichtern fih ein intereffantes Gemiſch von Schredien 
und Neugierde ausdrüdte. Mary allein war in ihrer regelmäßigen. 
Toilette, während die Andern mit inftinktartiger Koketterie ſich in 
einer Weife eingehüflt hatten, daß fie fich ſchoͤner als je ausnahmen. 
Was meine liebe Großmutter betraf, fo hatte fie zwar ſchon er- 
fahren, daß für das Haus nichts mehr zu beforgen fland; indeß 
fühlte fie doch ein unbeftimmtes Verlangen, mich zu fehen, und es 
konnte dieß unter obwaltenden Umftänden auch nicht auffallen. 

„Der Zuftand des Landes ift ſchrecklich,“ fagte fie, nachdem 
ich einige ihrer Fragen beantwortet und ihr zugleich mitgetheilt 
hatte, wer die Gefangenen waren. „Wir Eönnen faum mehr mit 
Sicherheit hier bleiben. Schon der Gedanke, daß einer der Newco- 
me's — daß namentlich Senefa bei feiner öffentlichen Stellung und 
einer Erziehung fi bei einem folchen Verbrechen betheiligen konnte.“ 

„Ei, Großmutter,” fiel ihr Patt ein wenig ſchelmiſch in's 
Wort, „ich habe Euch noch nie den Neweome’s viel Gutes nach⸗ 
rühmen hören, und Opportunity duldetet Ihr ja blos in der Hoff⸗ 
nung, daß fih an ihr etwas beſſer machen laſſe.“ 

„Du haſt recht; es iſt ein ſchlimmes Geſchlecht, und die Um⸗ 
ſtände zeigen jetzt, wie nachtheilig irrige Begriffe, die fich durch 
Generationen vom Vater auf die Kinder forterbten, in einer Fa⸗ 
milie werden können. Hugh, übermorgen dürfen ung diefe lieben 
Mädchen Feine Stunde mehr hier bleiben. Morgen — oder viel- 
mehr heute, denn wie ich jehe, ift e8 fchon zwei Uhr vorbei — heute 
iſt's Sonntag, und wir können die Kirche beſuchen. Die Nacht 
wollen wir auf der Hut fein, und am Montsg Moraı ug VEn 
Onfel mit allen drei Mädchen nach Satanstr aufbrechen” 


> —B 







konnte fie wohl 


als mich meine 


5 


on meiner@ieben Großmutter ,“ entgegnete 
wenig wäre es freundlih von uns, Mary 
Barren an eine Platze zurückzulaſſen.“ 

„Ich muß falls bei meinem Vater bleiben,” verſetzte Mary 
mit ruhiger feit. „Seine Pflicht fordert e8, daß er bei feinen 
Pfarrkindern aushalte, und jebt fogar mehr, als zu jeder anderen 
Zeit, da fo viele von ihnen irre geleitet find. Was aber mich be- 
trifft, jo verlangt es Pflicht ſowohl als Liebe, bei ihm zu bleiben.” 

War dieß Comödienfpiel und Heuchelei, oder war es Achte 
Ratur, reine Eindliche Liebe und Anhänglichkeit? Ohne alle Frage 
das Letztere; und hätte nicht fchon der einfache Ton, der Ernft und 
die faft erfchrodene Haft, womit das theure Mädchen fprach, Zeug- 
niß dafür abgelegt, jo brauchte man nur ihr heiteres, argloſes Auge 
anzufehen, um fich aller Zweifel zu überheben. Meine Großmutter 
lächelte der Lieblichen Sprecherin in ihrer freundlichften Weile zu, 
ergriff ihre Hand und fagte mit Innigfeit: 

„Mary und ich, wir Beide bleiben bei einander. Ihr Vater 
ſchwebt in feiner Gefahr, Denn fogar die Antirenter müſſen einen 
Diener des Evangeliums achten und können zu der Einftcht gebracht 
werden, daß es ſeine Pflicht iſt, ihre Suͤnden zu rügen. Was je- 
doch die übrigen Mädchen betrifft, ſo iſt es eine ernſte Obliegenheit 
für ung, wenigſtens den Mündeln deines Onkels nicht zu geſtatten, 
daß fie fich fernerhin Gefahren ausfeßen, wie die waren, welche wir 
in legter Nacht erleben mußten. ” 

Die beiden jungen Damen thaten jedoch in der zierlichften 
Weife von der Welt ihren Entfchluß Eund, daß fie die „Groß⸗ 
mama”, wie fie die Mutter ihres Bormunds nannten, nicht ver⸗ 
laſſen würden, und während noch davon die Rede war, trat Onkel 
Ro, der eben von der Küche kam, in's Zimmer. 

„Dieß iſt eine ſaubere Geſchichte!“ rief der alte Junggeſelle, 
ſobald er in unſerer Mitte erſchienen war. „In dem Herzen der 
weiſeſten und beſten Gemeinſchaft, welche es je auf Erden gegeben, 


Le 








„Ich weiche 
Patt, „und eb 


Hoꝛ 


gehen Mordbrennerei, Antirentismus, Töd 
heuerlichkeiten aller Art Hand in Hand, w 
in ſo tiefem Schlaf liegen, als ob ein ſolch 
ſogar verdienſtlich ſei. Dies überbietet die 
fach, Hugh.“ | 

„Wohl, mein lieber Onfel, wird aber nicht den zehnten Theil 
fo viel zu ſprechen machen. Betrachtet nur die Zeitungen, die wir 
morgen früh frifch von Wall-Street, Pine-Street und Anne-Street 
erhalten werden. Wenn etwa ein unglüdlicher Wicht von einem 
Senator den Antrag ftellt, einem Infanterie-Regiment einen Extra⸗ 
Corporal beizugeben, jo werden die Zeitungsſchmierer ob dieſer be⸗ 
unruhigenden Kriegs⸗Demonſtration in Gichter fallen oder von dem 
Sinken der Curſe bei einem Staatspapier ſprechen, das keinen Cent 
innern Werth hat, als ob der Sturz einer ganzen Nation daran 
hänge; dabei ſchlummert man ganz gemächlich über dieſem Vulkan, 
der unter dem ganzen Gemeinweſen tobt und fi mehr und me 
fräftigt, die Nation felbft, welche die Schöpfertn der —E 
iſt, mit Vernichtung bedrohend.“ 

„Die maaßloſe Selbſtſucht, die fih überall breit macht, iſt 
wahrhaftig ein fehr fchlimmes Symptom, und Niemand Tann 
willen, wohin fie noch führen wird. So viel aber ift zuverläffig, 
daß die Menfchen Anlaß daraus nehmen, alle ihre Berechnungen 
auf den gegenwärtigen Augenblid zu bauen, und um eine Berdrieß- 
lichkeit, die unfere augenblidlichen Intereffen bevrängt, zu befeiti- 
gen, fegen fie lieber die ganze Zukunft aufs Spiel. Doch was 
follen wir mit Seneka Neweome und feinem Bundesgenoffen, dem 
andern Mordbrenner, anfangen ?” 

„Ich bin Willens, dieß Eurer Umficht zu überlaflen, Onkel. 
Sie haben fih, wie ich vermuthe, des Verbrechens der Mord⸗ 
brennerei ſchuldig gemacht, und müſſen nun, wie jeder andere 
Uebelthäter, die Folgen auf ſich nehmen.“ 

„Sie werden noch immer gut genug dabei wegkommen, bugh. 











werſuche und Unge⸗ 
dabei die Geſetze 
bauliches Treiben 
hnung zwanzig⸗ 







v 

3 508* 

eka Newcome's Küche ertappt, wenn du 
eben im Begriffe alien wäreſt, fein Haus in Brand zu ſtecken, 
fo würde ohne all iderfpruch erbarmenlos die verdiente Strafe 
über dich ergehen; bei ihnen iſt's aber ganz anders. Ich wette 
Hundert, fie werden nicht verurtheilt, — und im Kalle es doch 
fo wäre, Zaufend, daß fie begnadigt werden.” 

„Bon Freiſprechen kann Feine Rede fein, Onkel. Miß Warren 
und ih, wir Beide find Zeuge geweſen, wie fie das euer anzlin- 
deten, und in Betreff ihrer Identität fehlt e8 auch nicht an den 
nöthigen Beweifen. “ 

Diefe unbefonnene Rede Ienkte alle Blicke auf meine Helferin, 
und fämmtlihe Damen, alt und jung, wiederholten den Namen 
„Mary“ in der lieblichen Weife, wie das zarte Gefchlecht feine 
Meberrafhung ausdrüdt. Mary dagegen wich ſchüchtern und er- 
röthend zurüd; die Glut der Scham bededte ihr Antlig, obfchon fle 
fih ſelbſt keinen Grund dafür angeben konnte, wenn diefer nicht 
etwa in dem gebeimen Bewußtfein lag, daß fie wirklich auf eine 
feltfame Weiſe mit mir in Verbindung gekommen war. 

„Miß Warren ift allerdings noch in dem Anzug des geftrigen 
Abends,” fagte meine Großmutter mit einigem Ernft, „und kann heute 
Nacht nicht zu Bette gewefen fein. Wie kommt dieß, meine Liebe?“ 

Sp aufgefordert zögerte Mary Warren, die fich eines reinen 
Sinnes bewußt war, feinen Augenblid mehr, den Hergang zu bes 
richten. Jeder Vorfall, den fie in Erfahrung gebracht hatte, wurde 
einfach und mit Klarheit vorgetragen, objchon fie aus Rüdficht ge= 
gen Opportunity den Namen unferes nächtlichen Gaftes verfchwieg. 
Alle Anweſenden waren zu zartfühlend, um fle nach dieſem zu fragen, 
fondern hörten blos der Erzählung mit gefpannter und beifälliger 
ZTheilnahme zu. Sobald Mary zu Ende gekommen war, gab ihr meine 
Großmutter einen Kuß, und Patt, das edle Wefen, umfchlang ihren 

£eib mit ber liebevollen Innigteit einer tyeiinegnenten Stancter.. 
„Es feheint alfo, daß wir unfere Sihergit yauyiiin Im 







Hätte man dich in 


509 


verdanken!" rief meine gute Großmutter; „Benn ohne ihre Sorg- 
falt und ihre Wachſamkeit hätte Hugh wahrſcheinlich auf dem Ra⸗ 
fen draußen gepaßt, bis es zu Tpät gewefen wäre, das Haus oder 
und zu retten.“ | 

„Dieß ift noch nicht Alles," fügte Onkel Ro bei. „Jede an⸗ 
dere Perfon hätte ‚Feuer‘ gerufen oder fonft einen unverftändigen 
Lärm gemacht; aber aus Mary Warrens treuem und klarem Be⸗ 
richt geht hervor, daß ohne die ruhige, befonnene Weife, in welcher 
fie ihre Rolle fpielte, nicht die Hälfte von dem: Gefchehenen hätte 
erwirkt werden Eönnen, fo daß das Haus am Ende doch verloren 
gewefen wäre. Ja, hätten diefe Elenden Hugh überrafcht, ftatt daß 
er fie überrajchte, fo befinden wir ung jet vielleicht in der Lage, 
feinen Berluft zu beklagen.” | 

3h bemerkte, wie Patt und Mary, die fich noch immer um⸗ 
armt hielten, zufammenfchauderten; namentlich war Ießtere in einer 
Weiſe ergriffen, daß ich das Wort nahm, um fie zu beruhigen. 

„Sch fehe nicht ein, wie diefe Mordbrenner auch nur entfernt 
eine Ausficht hätten, zu entkommen,” bemerkte ich gegen meinen 
Onkel. „Sollte das Zeugniß, das gegen fie aufgebracht werden 
kann, nicht zureihen? Sch bin in der That erflaunt, wie Ihr 
über das Ergebniß des gerichtlichen Verfahrens nur einen Zweifel 
erheben Eönnt.” 

„Du fühlt und ſchließſt, wie ein jehr junger Menfh, Hugh, 
— wie ein Menfch, welcher meint, die Verhältniffe ftehen dem, 
was fie jein follten, viel näher, als dieß aus den Thatſachen her- 
vorgeht. Heutzutage ift Die Gerechtigkeit blind — nicht aus Unpar> 
teilichkeit, fondern aus dem einfachen Grunde, weil fie allzu oft 
nur die eine Seite einer Frage berüdfichtigt. Wie fie entkommen 
werden? Vielleicht find die Gefchworenen der Anfiht, das Anzün- 
den eines Holzftoßes und einiger Stühle fei nit als Anzünden 
eines Haufes zu betrachten, mag auch der Animus \p wahr ren, 
daß fie mit den Rafen darauf ftoßen mühen. Dit ın u, SM 


510 


Littlepage, ehe noch ein Monat um ift, werden eben die Ereignifle 
diefer Nacht zu Gründen verzerrt fein, die dem Antirentismus Vor⸗ 
ſchub leiſten müffen. ” 

Ein gemeinfamer Ausruf, welchem fich ſogar meine Großmutter 
anſchloß, gab zu erkennen, daß alle Anmefenden anderer Meinung 
waren. 

„Schon gut, meine Damen,” entgegnete Onkel Ro gelafien — 
„ſchon gut, Mafter Hugh; aber warten wir nur erft den Ausgang 
ab. Ich habe bereits von anderen Mißbräuchen der Antirenters 
gehört, die al Gründe namhaft gemacht wurden, warum die Ges 
feße geändert werden follten — damit nämlich die Menſchen nicht 
über ihre Sträfte verfucht würden; und warum follte nicht diefelbe 
Schlußfolge auf dieſes Verbrechen in Anwendung kommen können, 
wenn man fie doch fchon in Fällen von Mord benützte? „Das 
Grund» Pachtverhältnig drängt die Leute zum Mord‘, heißt es, „und 
deßhalb muß es aufgehoben werden‘. ‚Das Grund-Pachtverhältniß 
veranlagt die Leute zu Mordbrennerei‘, wird man dann fagen, 
‚und wer wollte wohl Geſetze beibehalten, die foldhe Verbrechen 
herbeiführen 2°" 

„Nach demfelben Grundſatz könnte man behaupten, es folle 
fein bewegliches Eigenthum geben, weil durch daffelbe die Men» 
ſchen über Gebühr verfucht und zum Diebftahl verleitet werden.” 

„So weit würde e8 auch ohne Zweifel kommen, wenn dadurch 
politijches Mebergewicht zu erlangen wäre. Nein, es gibt Feinen 
Zrugihluß, fein moralifches Sophisma, das zu Erreihung eines 
folchen Ziels nicht wünfchenswerth wäre. Doch es ift jpät, und 
wir follten daran denken, die Gefangenen für heute Nacht ficher 
unterzubringen. Was bedeutet dieſe Helle? Das Haus iſt am 
Ende doch in Brand gerathen!” 

In dem Ankleidezimmer meiner Großmutter waren die Läden 
gefchloffen und die Vorhänge niedergelafjen; aber gleichwohl drang 
ein ungewöhnliches Licht zu ung herein und erfüllte ung mit plöß« 


911 


lichem Schreden. Sch öffnete die Thüre und fand alle Gänge ber 
leuchtet; Doch trug Alles im Innern den Charakter der Ruhe und 
der Sicherheit. Dagegen ließ fih vom Hof her ein Gefchrei ver- 
nehmen, und urplößlich fcholl der furchtbare Kriegsruf der Wilden - 
Durch Die Luft. Wie es mich däuchte, Fam das Getöfe von Außen, 
weßhalb ich nach der Kleinen Thüre hinſtürzte, und als ich auf den 
Raſen hinaustrat, Töste fih mir augenblidlich das Geheimniß. 
Eine große Heufcheune, welche mit dem Ertrag der Ernte des 
Jahrs gut angefüllt war, fland in Feuer, und die gefpaltenen 
wehenden Flammenzungen leckten wenigftens hundert Fuß hoch 
in die Luft. Dieß war nur ein neuer Beweis gegen das Grund» 
pachtſyſtem und follte den „Geift der Inftitutionen‘ den menſch⸗ 
lihen Sinnen ein wenig lebhaft nahe rüden. Ueber's Jahr figurirt 
er vielleicht in der Botichaft eines Gouverneurs oder in den philane 
thropifchen Leiftungen irgend eines Albany-Rednerd, wenn anders 
dann noch derjelbe „Seit“ in den „Snftitutionen” herrſcht, wie 
heutzutage. ft ein Eontrakt zu dulden, der freie Männer verleitet, 
Scheunen in Brand zu fleden? 

Die brennende Scheune fland in der Ebene unter der Klippe 
und etwa taufend Schritte von dem’ Neft entfernt. Die Lohe 
fladerte weit auf und verbreitete natürlich ein helles Licht. Der 
Berluf für mich überftieg vielleicht einige Hundert Dollars nicht, 
und obſchon diefer Beweis zu Gunften des Antirentismus nicht 
fehr angenehm war, traf er mich doch nicht fo empfindlich, als 
wohl der Fall gewefen wäre, wenn er in derfelben Weile an 
andern Gebäuden verfucht worden wäre. Mit andern Worten, 
der Schaden machte mich nicht in fo hohem Grade beftürzt, daß 
mir nicht noch einiger Sinn für die Schönheit der Scene übrig 
geblieben wäre, namentlich, da mir Onkel Ro zuflüfterte, Dun 
ning habe alle meine Baulichkeiten in der auf Wechfelfeitigfeit 
begründeten Saratoga » Affecuranz verfihern laffen — ein Um⸗ 
ftand, welcher wahrfcheinlich einen beträchtlichen Theil der Pächter 


512 


in die unangenehme Lage verfebte, für ihren Spaß zahlen zu 
müflen. 

Da es zu fpät war, an eine Rettung der Scheune und ihres 
Inhalts zu denken, auch außerdem Miller mit feinen Leuten fi 
bereit8 an Ort und Stelle begeben hatte, um nach den Zäunen 
und fonftigen Gegenfländen, die durch die fprühende Afche gefähr- 
det werden Eonnten, zu fehen, fo blieb ung nichts übrig, als un- 
thätig zuzufchauen. Der Anblid war wenigſtens in Wahrheit 
fehenswerth und verdient daher wohl eine kurze Schilderung. 

Das Licht der brennenden Scheune verbreitete ſich auf eine 
weite Strede hin und wär „einer fchlimmen That in einer ſchlech⸗ 
ten Welt” vergleichbar; denn abgefehen von der hohen Autorität 
Shakeſpeare's find es zuleßt doch die ‚Ichlimmen Thaten‘, welche 
die hellſte Lohe verbreiten und in dem Prüfungszuftand, in welchem 
wir leben, ihre Strahlen am weiteften hin entfenden. 

Die merkwürdigften Gegenftände in dieſer merfwürdigen Scene 
waren die ächten und falfchen Rothhäute — die „Indianer” und 
die „Inſchens“, die fih auf den Wiefen hin und her bewegten. 
Bon der Klippe aus, auf welcher wir flanden, Eonnten wir (die 
Damen befanden fi) an den Senftern ihrer Zimmer) Beide deutlich 
unterjcheiden, obſchon fie fih wahrſcheinlich gegenfeitig nicht fo gut 
zu beobachten im Stande waren. 

Die Indianer beobachteten in ihren Bewegungen eine gute 
Drdnung und näherten fich dem anderen Haufen in verftohlener 
Weiſe, indem fie auf allen Vieren weiter Trochen, oder fi 
wie Panther auf die Erde duckten, dabei fich eines jeglichen Ver⸗ 
fledes bedienend, der fich ihnen darbot. Zwifchen beiden Haufen 
befand fich Die brennende Scheune, und dies war der Haupt« 
grund, warum die „Inſchens“ die Gefahr, in welcher fie ſchweb⸗ 
ten, nicht fo bald bemerften. Lebtere waren eine Bande von etlich 
und vierzig oder fünfzig vertagnten Bemoffneten, die ſchreiend umd 

Järmend umbertanzten — der Brandgätke wor gan wu iin va 


913 


Anblicks erfreuen zu können, obſchon die Stelle, wo fie fich befan- 
den, nicht ihre nothwendige Verbindung mit der Unthat nachwies. 
Wie wir und denken Fonnten, follte ihre Anwefenheit und ihr Trei= 
ben ung bemerflich machen, daß fie in jener Nacht bei der Befchä- 
Digung meines Eigenthbums heimlich mitgewirkt hatten — eine Art 
Warnung für mid, was ich zu gewärtigen habe, wenn ich dem 
„Geift der Inftitutionen” ferner widerftehe. Vielzunge, dem eine 
gewiſſe unbeftimmte Vorftellung von der Nothwendigkeit vorjchwebte, 
fih auf die Windſeite des Geſetzes zu halten, begleitete feine rothen 
Brüder nicht, fondern Fam aus der Durchfahrt heraus und fchloß 
fihb mir und meinem Onkel an. Wir fanden unter dem Schirm 
eines edlen Kaftanienbaums auf den Rand der Klippe und fahen 
dem Berlauf der Dinge auf der Wiefe zu. Als ich ihn bemerkte, 
drüdte ich meine Ueberraſchung gegen ihn aus, und fragte ihn, ob 
Kiefelherz oder Prairiefeuer feiner Anwefenheit nicht benöthigt 
fein dürften. 

„Durchaus nicht, durchaus nicht, Obriſt,“ antwortete er mit 
der größten Kälte: „Für das Gefchäft, in welchem meine guten 
Freunde begriffen find, brauchen fie feinen Dolmetfcher, und wenn 
die Begegnung einen üblen Ausgang nimmt, ſo iſt's vielleicht am 
beften, wenn die beiden Partien fich nicht verftehen, da dann Alles 
als ein Spiel des Zufalls gedeutet werden kann. Sch hoffe, fie 
"werden nicht beſonders auf Skalpe erpicht fein; denn als ich Kie— 
felherz verließ, bedeutete ich ihm, daß in diefem Theile der Welt 
die Leute es nicht gerne fähen, wenn fie ffalpirt würden.“ 

Dieß war der einzige Troft, den und der Dolmetfcher ertheilen 
fonnte; auch fchien der Gränzmann der Anficht zu fein, die Dinge 
feien jeßt gerade im rechten Gang, und jede Schwierigkeit werde 
bald secundum artem ihre Erledigung finden. Die Infcheng ge- 
wannen übrigens der Sache einen ganz andern Gefichtspunft ab, 
und hatten es nicht eben auf eine ernftliche Balgeret mt ad 
abgefeden; um jo weniger aber waren fir geneigt, mi Kelten SU 

KavenSneft. 3 


514 


dem berufenen Charakter der Nothhäute anzubinden. Wie ihnen 
die Nähe ihrer Gegner kund geworden war, Tann ich nicht fagen, 
obfchon ich es für wahrſcheinlich halte, daß man fie troß ihrer 
Sorgfalt in den Wiefen dahin fhleichen fah, und dadurd in 
Schreden gerieth. Der Schreden war wenigſtens zuverläffig Mei- 
fler geworden, denn der Haufen des vorigen Tages hätte fich kaum 
mit größerer Eile aus dem Gehölz flüchten können, als heute die 
„vertappten Bewaffneten” mit einemmale unfichtbar wurden. Weber- 
haupt benahmen ſich dieſe Wichte flets, fo oft fie mit bewaffneten 
Haufen in Berührung kamen, felbft wenn diefe der Zahl nach we- 
niger ftark waren — in einer ähnlich feigen Weife. Sie zeigten 
fih wild und fogar viehifch genug bei verfchtedenen Anläffen, in 
welchen fie e8 nur mit einzelnen Perſonen zu thun hatten; aber jedes- 
mal, wenn aud noch fo Kleine bewaffnete Abtheilungen gegen fie 
ausgeſchickt wurden, wichen fie ſcheu von hinnen und verriethen ge 
waltige Furcht vor einer Berufung an diefelbige Gewalt, die fie 
durch ihre früheren Handlungen fo vermeffen herausgefordert hat- 
ten. Iſt es alfo wahr, daß diefe soit disant „Infchens” nicht den 
gewöhnlichen Muth ihres Geſchlechts befipen, und daß fie tief unter 
den Amerikanern ftehen, die mit den Waffen in den Händen einen 
fo tapferen Geift entfalten? Nein, dieß ift nicht der Fall. Nur das 
Bewußtfein der Schuld hat fie zu Memmen gemacht; fie wiffen, 
daß „des Königs Name eine ftarfe Veſte“ ift, und fürchten fich da- 
ber vor Kämpfen, in weldien, wie die von Oben eingepflanzte in- 
nere Stimme ihnen jagt, fle eine nichtswürdige Sache verfechten, 
und durch unrechtfertigbare Mittel nach Erreichung eines fchnöden 
Zwedes ringen müffen. Ihr Benehmen beweist, wie leicht es ge- 
weſen wäre, ihren Räubereien ſchon von Anfang an Einhalt zu 
thun, wenn der Staat vernünftigen Gebrauch von feiner Gewalt 
gemacht hätte; aber eben daraus erhellt auch, welche fchwere Ver⸗ 
antwortlichkeit auf denen Lattet, Vie in Bete dieler Angelegenheit 


ifre Pflicht vernachläſſigt haben. 


515 


Sobald Kiefelherz und feine Begleiter die Ueberzeugung ges 
wonnen hatte, die „verfappten Bewaffneten" Hätten wirklich Reißaus 
genommen, und es fei Feine Ausficht vorhanden, den Morgen, wie 
wohl Zeder unter ihnen gehofft hatte, in einem Scharmüßel zu 
verbringen, brachen fie in ein gellendes Gefchrei aus, wie wäh 
rend der letzten achtzig Jahre nie ein ähnliches in diefem Thale 
gehört worden war. Die Zeit der Indianerfämpfe in der Gegend 
von Ravensneft lag außer dem Bereich der Erinnerung; denn hin 
und wieder ein falfcher Lärm während des Revolutiondkrieges kann 
nicht hieher gezählt werden. Wie wir von unferer Klippe aus deut- 
Lich jehen Eonnten, übte dieſes Gezeter die Wirkung, daß die Flücht- 
finge ihren Rüdzug um fo mehr befchleunigten; die vorfichtigen 
Krieger der Prairien aber waren zu behutfam, um ihre Körper 
Hloßzuftellen, und vermieden es daher, fich der lodernden Scheune 
allzufehr zu nähern. Augenfcheinlih waren fie nicht unzufrieden 
darüber, daß es nicht8 zu thun gab, und da fie keine Parade ma= 
chen wollten, wo dieß nicht durch irgend einen Dienft geboten wurde, 
jo zogen fie fih langfam aus dem Thal zurüd und fanden fi in 
einer Weife, die wohl ihnen ſelbſt am beften bekannt fein mochte, 
wieder auf der Klippe ein. 

Diefe militärifche Demonftration von Seiten unferer rothen 
Brüder bliben nicht ohne nüßliche Folgen; fie zeigte den Inſchens, 
dag man auf der Hut und bereit war, es mit ihnen aufzu⸗ 
nehmen — eine Thatfache, welche für diefelbe Nacht jeder weiteren 
Störung vorbeugte, und den Infaffen des Neſts die Ueberzeugung 
gab, daß wir für den Augenblid Feine Gefahr mehr zu beforgen 
hatten. Diefes Sicherheitsgefühl erſtreckte fich nicht nur auf mei⸗ 
nen Onkel und mich, jondern auch auf die Frauenzimmer, die, wie 
wir bei unferer Nüdfehr nach dem Haufe bemerkten, den ganzen 
Vorgang von den oberen Fenſtern aus mit angefehen hatten. Nach 
einer Eurzen Unterredung mit meiner Großmutter entfchloß fich Diele, 
fib wieder zur Ruhe zu begeben, und nadyden yoir BucherittuungN 

II” 


916 


zur Aufftellung einer Wache getroffen hatten, waren alle Haus- 
genoffen wieder nach ihren Schlafgemächern entlaffen. Bielzunge 
übernahm das Amt eines Auslugers, objchon er den Gedanken für 
lächerlich hielt, daß im Laufe der Nacht noch eine weitere Ruheſtoͤ— 
rung vorfallen könnte, 

„Was die Rothhäute betrifft," fagte er, „fo fchlafen fie zu 
diefer Jahreszeit eben fo gerne unter den Bäumen draußen, als 
unter einem Dad, und wenn es fih um's Wachen handelt, fo gehen 
fie über die Kapen. Nein, nein, Obrift; überlaßt nur Alles mir, 
und ich will Euch fo ruhig durch die Nacht bringen, als wären wir 
in den Prairien und lebten unter gutem, gejundem Prairiegeſetz.“ 

„So ruhig, als wären wir in den Prairien!" fo weit war's 
alfo in New-Mork gefommen, dag nad) einem Brande ein Bürger 
wirklich hoffen dürfte, den Neft der Nacht fo ruhig wie in den 
Prairien zuzubringen! Und zwanzig Stunden vor ung faß zu Albany 
jene träge, morfche, nublofe Machine, Gouvernement genannt, — 
fo ruhig, fo felbftzufrieden, jo vollfommen überzeugt, Die amerifa= 
nifche Nation fei die größte auf der Erde, fie ſelbſt aber die glor- 
reiche Vertreterin derfelben, als feien die aufgewühlten Counties 
lauter Baradiefe, ehe darin Sünde und Unrecht bekannt war! Wenn 
fie überhaupt etwas that, fo berechnete fie wahrfcheinlich dag Mi- 
nimum, das der Pächter für das Land feines Grundherrn zahlen 
ſollte, jobald Lebterer hinreichend abgeängftigt war, daß er fi 
gerne von feinem Beſitzthum trennte. Vielleicht auch erläuterte fie 
ihre Anfichten von Freiheit dadurch, daß fie auf's Genauefte die 
Summe feftfegte, mit der fih ein Bürger begnügen müffe, damit 
die Habgier eines andern zufrieden geftellt werde! 

Sch wollte eben zum erftenmal in diejer Nacht mein Lager 
aufiuchen, ald Onkel Ro gegen mich bemerkte, e8 dürfte wohl paf- 
fend fein, nach unferen Gefangenen zu fehen. Es war früher die 
Weifung ertheilt worden, den Elenden ihre Bande abzunehmen und’ 
fie, in einen leeren Vorrathsraum zu fperren, welcher außer ber 


517 


Thüre feine zum Entkommen benußbare Deffnung befaß. Wir be- 
gaben uns dahin und wurden natürlich von den Schildwachen ohne 
Widerrede eingelaffen. Senefa Neweome fuhr bei meinem Eintritt 
zufammen, und ich geftehe, daß ich nicht wußte, wie ich ihn anre= 
den jollte, denn ich mochte eben jo wenig mir den Anjchein des 
Triumphs geben, als ich ein Zugeftändniß zu ertheilen geneigt war. 
Mein Onfel war übrigens, wahrfcheinlich weil er feinen Mann 
befjer kannte, nicht jo bedenklih, und ging ohne Weiteres zur 
Sache über. 

„Der ſchlimme Geift muß in der Gegend fehr um fich gegrif- 
fen haben, Senefa Neweome, wenn fih Männer von Euren Kennt⸗ 
niffen in fo gefährliche Anfchläge verwideln,” fagte Onkel Ro in 
finfterem Zone. „Was hat mein Neffe je gethan, dab Ihr Euch 
verlodt faht, gleih dem Dieb in der Nacht als Mordbrenner in 
fein Haus zu kommen?“ 

„Fragt mich nichts, Mr. Littlepage,” entgegnete der Attorney 
- mürrifch, „denn ich werde Euch nicht antworten.” 

„Und diefes unglüdliche verführte Gefchöpf, das Euer Bundes- 
genofje im Verbrechen gewefen ift! Zum leßtenmal fahen wir diefe 
beiden Menfchen, Hugh, als fie auf der Landftraße wie Hund und 
Katze an einander waren, und man fieht es an ihren Gefichtern, 
daß die Nauferei nad unferer Entfernung noch feindfeliger ge= 
worden iſt.“ 

„And hier finden wir fie beifammen als Gefährten in einer 
Unternehmung, bei der fih’8 um Leben und Tod handelt!” 

„Sp iſt's immer mit Schurken. Sie treiben ihre Zwiftigfeit 
auf's Aeußerfte und find im Nu wieder einig, wenn der Dämon der 
Habgier ihnen einen Gegenftand zu gemeinfchaftlicher Beraubung 
zeigt. Du fiehft denjelben Geift auch in der Politik und fogar in 
der Religion. Menfchen, die ihr halbes Leben über in Feindfelig- 
feit gelebt, und ſich wegen felbftjüchtiger Zwede berumgeftritten 
haben, vereinigen zur Erreichung eines gemeinfamen Ziels plöglich 


518 


pre Kräfte und arbeiten mit einander wie die erprobteften Sreunde, 
fo lange ihnen die Ausficht vorfchwebt, ihre Wünfche zu verwirf- 
lichen. Waͤhre die Ehrlichkeit nur halb fo thätig, wie Die Büberei, 
fo würden wir viel beffer daran fein. Aber der ehrlihe Mann hat 
Bedenken, achtet fich felbf, und feine Grundfäge jowohl, als feine 
Conſequenz zeichnen ihm die Laufbahn vor, von der er nicht bei 
jedem neuen Impulfe abgehen kann, wie der Schurke, der heute 
Feind und morgen Freund ift. Sch frage Euch,” er wandte fih 
jegt an Joſh Brigham, der finfter vor fich hinſtierte — „Euch, der 
Ahr in Hugh Littlepage'8 Brod flandet: was hat er gethan, daß 
Ahr ihm um Mitternacht in's Haus fallt, um ihn wie eine Raupe 
im Frühling zu verbrennen ?” 

Er hat feine Farm lang genug gehabt," brummte der Kerl; 
„es ift Zeit, daß auch arme Leute eine Ausficht gewinnen.” 

Mein Onkel zudte die Achfeln, dann aber, als befänne er fih 
plöplich "eines Beſſeren, lüpfte er feinen Hut, verbeugte fich mit der 
Würde eines Gentleman, wünjchte Seneka gute Nacht und entfernte 
fih. Unterwegs drüdte er gegen mich feine Meberzeugung aus, im 
gegenwärtigen Falle fei jede Vorftelung nutzlos — man müffe 
daher nothwendig dem Gejeß feinen Lauf laffen. Es dürfte zwar 
unangenehm fein, einen Newcome wirklich hängen zu fehen, aber 
nichts als eine derartige Operation fet im Stande, die Brut von 
ihren ſchlimmen Wegen abzuführen. Nach den Ereigniffen der Nacht 
erichöpft, begab ich mic, jebt zu Bette und fchlief bis tief in den 
anderen Morgen hinein. Es war Weifung ertheilt worden, im 
Haus Ruhe zu erhalten, und fo brachte denn Jeder die verfäumte 
Zeit ein, fih fo forgenlos feines Schlafes erfreuend, wie in den 
Zagen, ald noch das Gefeg in der Republik Geltung hatte. 


Vierundzwanzigſtes Kapitel. 


„Wohl dürfen wir vom Zauber fingen 
Des Landes, dem wir und vermählt, 
Bon feinem Lächeln, feiner Fülle 
Und feiner ganzen Blumenwelt. 
Ruft alles dieß und nicht in Stunden 
Der Wonne zu verlodend jüß: 
Trägt aud) dein Herz der Sünde Wunden, 
Haft du doch hier ein Paradies. 


Simms. 


Der folgende Tag war ein Sonntag. Ich ſtand erſt um neun 
Uhr auf. Als ich die Vorhänge zurückzog und die Läden meines 
Fenſters öffnete, um auf den Raſen, auf die Felder jenſeits und in's 
blaue Himmelsgewölbe hinauszublicken, kam es mir vor, als ob nie 
ein lieblicherrr Tag — ein Tag, der mehr im Einklang mit dem 
ruhigen Charakter der ganzen Landfchaft ftand, über der Gegend ge- 
lagert hätte. Ich warf das Fenſter auf und athmete in vollen Zü- 
gen die Morgenluft, erfüllt von den balſamiſchen Gerüchen füß 
duftender Blumen und Sträucher. Eine Sabbathruhe fchien über 
Menfhen und Thier zu liegen. Die Bienen und Eolibris fumm- 
ten um die Blumen ber, als feien fie auch in ihrem gewöhnlichen 
Treiben fich der Heiligkeit des Tages bewußt. Auf dem Land kann 
wohl Niemand gegen den Unterfchied unempfänglich fein, der Wie 
fen einem Sonntag und jedem andern Tag in der Bor ßWRGV. 


920 


Ohne Zweifef befteht er zwar meift in der einfachen Folge der 
Enthaltfamkeit vom Gefchäft, aber abgefehen von ver hiftorifchen 
Bedeutung des Feſttags find die gewöhnlichen Gebräuche, Die ihn 
begleiten, und die beilige Ruhe, die ringsum zu herrfchen Tcheint, 
fo augenfällig und eindrudsvoll, daß mir fchon als blog poetifche 
Paufe in den rührigen Getümmel der Welt ein milder Zuni-Sonn- 
tag ſtets wie ein entzüdender Ruhepunft vorfömmt. So war «8 
nun mit jenem Morgen nach der fo ereignißreichen Nacht, er befaß 
ganz die Eigenfchaft, Die Gemüther zu befchwichtigen, Beforg- 
niffe zu bannen und der nüchternen Erwägung Raum zu geben. 
Allerdings hatten wir die rauchenden Ruinen der Scheune, dad 
Thwarze Denkmal einer boshaften That vor und; aber die Stim- 
mung, in welcher fie begangen wurde, fchien entwichen zu fein, und 
in jeder andern Beziehung hatten fih nah und fern die Farmen 
von Ravensneſt nie in einem Colorit gezeigt, das fo ſehr im Ein- 
Hang geftanden hätte mit dem wohlwollenden Lächeln einer von 
Fülle überquellenden Natur. Während ich die Gegend betrachtete, 
Tchienen mit einemmal alle früheren Empfindungen wieder aufzu⸗ 
leben , und ich jchäme mich nicht, zu geftehen, daß ein tiefes Dank⸗ 
gefühl gegen Gott in mir übermächtig wurde, wenn ich bedachte, 
daß ich feiner heiligen Borjehung das Glück verdankte, als der 
Erbe eines folchen Befigthums geboren zu werden, da fie mich ja 
eben fo gut unter die Leibeigenen und Snechte anderer Länder 
hätte werfen fönnen. 

Nachdem ich eine Minute am Fenfter geſtanden und mich des 
lieblichen Anblicks eyfreut hatte, trat ich zurück, weil plößlich das 
peinliche Bewußtfein in mir auftauchte, wie weit fich die gefähr- 
liche Gombination verbreitet hatte, die mich meiner Anrechte an 
dieſe Yändereien zu berauben gedachte. Amerika fchien mir nicht 
länger Amerifa zu fein. An die Stelle der alten Achtung vor 
dem Geſetz, der raſchen Untekgeidung uiihen Recht und Unrecht 

und ber nüchternen, verftändigen Brähet, wäh nie at 


921 


gegen die Ungerechtigkeit der Gewalt firäubte, als fie die Ueber— 
treibungen der Bolföverblendung umging, war die Habgier des 
Räubers getreten, die noch furchtbarer wurde Durch die hinterliftige 
Weiſe, mit welcher fie in die Triebräder der politifchen Mafchinerie 
eingriff und von den Elenden bemäntelt wurde, die mit Gewalt und 
Anfehen begabt waren — von Menfchen, die den Demagogen 
Alles in die Hände jpielen, um fich für die Fortdauer ihres eigenen 
Einflufjes eine Majorität zu fihern. War denn der Staat wirklid 
fo verderbt, daß er feine Beihilfe bot zu Verfolgung fo heillojer 
Zwede, als die waren, welche die Antirenters fo offen zur Schau 
trugen? 

Gewiß nicht. Vier unter Fünf, wo nicht mehr fühlen recht 
wohl, daß ein Gelingen diefer ſchnöden Umtriebe den Beftand des 
ganzen Gemeinwefens gefährden müßte, und würden morgen Herz 
und Hand erheben, um den Uebelftand ohne Erbarmen gänzlich 
auszutilgen; aber fie haben ſich ſelbſt zu Sklaven der Lampe ge- 
macht, find in die Reihen der Partei getreten und wagen es 
nicht, fich ihren Führern zu widerfegen, welche, gleich Napoleon, 
über die Maffen gebieten, um ihre Privatzwede zu fördern, obſchon 
fie flet3 thun, als huldigten fie blos den Prinzipien der Freiheit! - 
Dieß ift die Gefchichte unferes ganzen Gefchlechts! 

Während des Frühſtücks herrfchte eine auffallende Ruhe unter 
der Familie. Was meine Großmutter betraf, fo kannte ich ihren 
durch frühe Erfahrung gereiften Geift zu gut, fo daß es mich 
nicht Wunder nahm, fie gefaßt und befonnen zu finden; aber diefe 
Eigenſchaft fchien fie auch ihren vier jüngeren Gefährtinnen mit- 
getheilt zu haben. Patt lachte zwar und ließ ihrer natürlichen 
Heiterkeit den Zügel, als ob gar nichts vorgefallen jei, und die 
übrigen Mündel meines Onkels behaupteten eine würdevolle Ge= 
lafjenheit, der man durchaus Feine Furcht anmerkte, Mary Warren 
aber überrafchte mich durch ihre Miene und ihre Haltung. Sr ar 
ſich auf ipren gewöhnlichen Platz am Tiſch und nom Vh wu nid 


522 


als die mädchenhaftefte, fanftefte und fchüchternfte von allen ihren 
Freundinnen aus. Wer hätte auch von der erröthenden, befchei- 
denen, hübſchen Zochter des Nectors glauben follen, fie Eönne das 
gewandte, entfchiedene und Ear blidende Mädchen fein, das mir in 
der lebten Nacht jo weientliche Dienfte geleiftet hatte — das Mäd- 
chen, deren Verſtand und Ruhe wir Alle das Dach über unſern Häup- 
ten, ja, Einige von uns höchft wahrfcheinlich Das Leben verdankten! 

Aber trog der anfcheinenden Unbefangenheit wurde Doch das 
Frühſtück fchweigfam und gedanfenvoll eingenommen. Die Unter 
haltung beſchränkte fich hauptfächlich auf meinen Onkel und meine 
Großmutter, die fich unter Anderem auch über die Art, wie man 
mit den Gefangenen verfahren follte, befprachen. Sn der nächften 
Umgebung des Neſts befanden fih nur Öffentliche Beamte, die fih 
bei dem Antirentismus betheiligt hatten, und wenn man Seneka 
und feinen Gefährten einem derartigen Friedensrichter überantwor⸗ 
ten wollte, fo war dieß gerade fo viel, ald ob man ihn ohne weites 
red frei ließ. Dem Namen nad) wäre allenfall$ eine Bürgichaft 
aufgelegt worden; oder im Falle wirklicher Verhaftung hätte höchſt 
wahrjcheinlich der betreffende Eonftabel eine gewaltfame Befreiung 
zugelaffen, wenn es je als nöthig erachtet wurde, eine derartige 
Schauftelung von Pflichterfüllung zu geben. Mein Onkel entſchied 
fih daher für nachftehenden Plan. Er hatte die beiden Mordbren- 
ner nah dem alten Farmhauſe bringen laſſen, unter welchem fih 
ein vollkommen trodener, leerer Keller befand. Diefer bot die 
Sicherheit eines Kerkers, ohne daß ihm der gewöhnliche Mangel, 
nämlich Duntelheit und Näffe, anklebte. Die rothen Häuptlinge 
hatten das Amt der Bewachung übernommen, und einer derfelben 
fand als Poſten an der Thüre, während ein anderer das Fenſter, 
durch welches Licht einflel, beauffichtigte, obfchon dieſes kaum groß 
genug war, um einen menjchlichen Körper fich durchdrängen zu 
laffen. Der Dolmetfcher hatte von dem Agenten die Weifung er- 
halten, den riftlichen Sabbath zu achten; da aljo für den Tag 


523 


fein Manöver in Ausficht ftand, jo paßte der vorerwähnte Dienft 
vollfommen gut zu dem Müffiggang , in welchem Indianer fih an 
Raſttagen fo gerne zu ergehen pflegen. Man hatte natürlich nicht 
vergeffen, die Gefangenen mit Lebensmitteln und Waſſer zu ver- 
fehen; dieß fchien übrigens meinem Onkel Ro zu genügen, da er 
im Sinn hatte, am Montag Morgen die Verbrecher zu einem ent- 
fernt wohnenden Eounty-Richter bringen zu laffen. Von der Ruhe⸗ 
förung der vergangen Nacht Tieß ſich nirgends auch nur eine Spur 
hliden, und da das Neft ziemlich frei daftand, fo brauchten wir und 
nicht vor einer Ueberraſchung zu fürchten. 

Während wir noch beim Frühſtück ſaßen, tönte die Glocke von 
St. Andrews klagend durch die Luft zu uns herüber — eine 
Aufgebot, daß wir uns für den Gottesdienſt vorbereiten ſollten. 
Die Kirche war nur etwa zweitauſend Schritte entfernt, und die 
jüngeren Damen drückten den Wunſch aus, zu Fuß dahin zu gehen. 
Meine Großmutter bediente ſich daher, nur von ihrem Sohne be= 
gleitet, des Wagens, während das junge Volk etwa eine halbe 
Stunde vor dem zweiten Zeichen indgefammt zu Fuß nach dem 
Gotteshaufe aufbrah. Wenn ich den Zuftand des Landes und die 
Gefchichte der vergangenen Nacht in's Auge faßte, mußte ich mich 
über meine eigene Gleichgültigfeit bei dDiefem Anlaß, noch mehr 
aber über die Ruhe meiner lieblichen Begleiterinnen wundern, und 
ich fäumte nicht, meinen Gedanken Worte zu leihen. 

„Man muß zugeben, unfer Amerika if doch ein merfwürdiges 
Land," fagte ich, als wir über den Rafen gingen, um den Fußpfad 
zu erreichen, dev ung über ſchöne Waidegründe bis an die Kirchen- 
thüre führte, ohne daß wir, mit Ausnahme einer einzigen Kreuzung 
die Landftraße zu betreten brauchten. „Die ganze Umgegend ift fo 
ruhig, wie wenn fie nie durch ein Verbrechen befleckt worden wäre, 
und doch find es kaum zwölf Stunden, ald noch Hunderte von unferen 
Nachbarn auf Mordbrennerei, Aufruhr und vielleicht Mord fannen. 
Der Wechſel ift in der That wunderbar.” 


924 


„Du mußt nit vergeften, Hug, daß es Sonntag iſt,“ vers | 
jeßte Patt. „Den ganzen Sommer hindurch, fo oft der Sonntag 
kam, hatten wir nichts von Ruheſtörern zu befürchten, denn die 
Bewohner diefer Gegend find viel zu religiös, als daß fie daran 
denken Tönnten, durch Gewaltthat und bewaffnete Banden den 
Sabbath zu entweihen. Die Antirenterd würden, wenn fie ein 
anderes Benehmen einfchlügen, weit mehr verlieren, als ge⸗ 
winnen, ” | 

„Ich könnte dieß wohl glauben, denn man findet unter und 
häufig, daß Taufende an dergleichen Neußerlichkeiten halten, nad- 
dem das fromme Gefühl, welches urfprünglich Anlaß dazu gegeben 
hat, längſt erlofchen if. Etwas Aehnliches bemerkt man auch in 
anderen Ländern und felbft unter den höheren einſichtsvolleren 
Klaſſen; denn nicht felten bezeugt man äußerlich dem Altar und 
dem Ritus der Religion die größte Achtung, obſchon die Menfchen 
jelbft ftündlich fich gegen die erften und einfachften Gebote der Ge- 
febes- Tafeln vergehen. Diefer gleißnerifche Schein findet fich daher 
nicht blos bei ung, fondern in einer oder der andern Weife überall, 
wo e8 Menfchen gibt." 

Jedenfalls wurde diefe zweideutige Frömmigkeit an jenem Tage 
zu Ravensneſt in hohem Grade fund gegeben. Diefelben Männer, 
die fih in habfüchtiger Gier faft verzehrten, kamen nach der. Kirche 
und machten den Gottesdienft in fo viel fcheinbarer Andacht mit, 
als ob fie fich keines Arges bewußt fein. Mit einem Worte, es 
[dien im Lande ein allgemeiner Waffenftillitand zu herrfchen, ob- 
gleich Viele zugegen fein mußten, welche die Schmach der letzten 
Nacht bitter empfanden. Gleichwohl Konnte ich in den Gefichtern 
der meiften alten Pächter weder ein verändertes Aussehen, noch 
kalte Blide bemerken; fie zeigten.gang die alte Freundlichkeit, welche 
fo lange zwifchen ung beftanden hatte. Die Löfung diefes Räthfels 
wahr fehr einfach. Die Drmagagen daten den So — wicht der 

“ Imfitutionen, fondern der Habiuht in Veen sen uust, 


525 


und jo lange diefe fchlimme Tendenz vorherrfchte, war nur wenig 
Raum für befiere Gefühle vorhanden. 

„Sch werde jept das Dach meines Kirchenftuhls wieder fehen,“ 
rief ih, als wir auf unferem Weg nach dem Gotteshaus das 
lebte Feld betraten. „Diefer harmloje Stein des Anftoßes ift mir 
faft ganz in Bergefjenheit gefommen, bis mich mein Onkel wieder 
daran erinnerte, indem er mir mittheilte, Sad Dunning, wie er 
feinen Freund und Nathgeber nannte, habe ihm gefchrieben, daß es 
herunter müjfe.‘ 

„Ich bin vollfommen mit Mr. Dunning einverftanden,” ergriff 
Martha raſch das Wort, „und wünfche von Herzen, Hugh, du 
möchteft Befehl ertheilen, daß dieſes häßlich ausfehende Ding fchon 
in dieſer Woche abgeichafft werde.” 

„Wozu diefe Eile, meine liebe Patt? Das häpliche Ding ift 
da geweſen, feit die Kirche gebaut wurde, alfo ſchon an die fechzig 
Fahre — und meines Wiffens hat es Niemand gefchadet.” 

„Haft du an feiner Häßlichfeit nicht genug? Es entftellt die 
Kirche, und außerdem bin ich der Anficht, daß derartige Auszeich- 
nungen nicht für das Haus Gottes paffen. Sch weiß, dieß ift auch 
flet8 die Meinung unferer Großmutter gewefen; aber als fie fand, 
welchen Werth ihr Schwiegervater und ihr Gatte auf foldhen Zi er⸗ 
rat h legten, fo fügte fte fi während ihrer Lebzeiten drein.“ 

„Was jagt Ihr zu alledem, Miß Warren?” fragte ich meine 
Begleiterin, denn ein geheimer Zug ließ mich nicht von ihrer Seite 
weichen, „Seid Ihr für das Dach oder heißt es bei Euch gleich⸗ 
falls, nieder damit?“ 

„Nieder damit,“ antwortete Mary mit Feſtigkeit. „Ich theile 
vollkommen die Anficht der Mrs. Littlepage: Kirchen follten fo 
wenig als möglich Merkmale weltlicher Auszeichnung enthalten. 
Sch weiß zwar, daß foldhe Unterfpeidungen fih vom Leben nicht 
trennen laffen, aber der Eintritt in ein ſolches Sehnde AR em 
Vorbereitung auf ben Tod.“ 


926 


„Und Euer Bater, Miß Warren — habt Ihr ihn je über 
meinen unglüdlichen Kirchenftuhl fprechen hören?” 

Mary zögerte einen Augenblid, mwechjelte die Farbe und blidte 
mir dann mit einem fo edeln Lieblichen Ausdrud in's Geficht, daß 
ih ihr fogar die firengfte Rüge meiner Thorheit hätte vergeben 
tönnen. 

„Mein Bater möchte überhaupt alle abgefchloffenen Kirchenftühle 
verbannt wiflen, antwortete fie, „und kann daher nicht eben wün- 
hen, Daß der Eurige erhalten bleibe. Er fagt mir, in den katho⸗ 
liſchen Kirchen fiße, ftehe oder Eniee die Gemeinde unter einander 
gemifcht vor dem Altar, oder ſammle fih um die Kanzel her, ohne 
dag Rang-Unterfchiede gemacht werden. Sicherlich ift dieß befler, 
als wenn man die Eäglichfte aller weltlichen Klaffificationen, die 
des bloßen Geldes, fogar in den Tempel mitbringt.“ 

Ihr Habt hierin vollfommen recht, Miß Warren, und es 
wäre mir herzlich Tieb, wenn diefe Sitte auch hier Eingang finden 
fönnte. Aber die Kirche, die am beften der Unterflüßung entrathen 
tönnte, welche von den Kirchftühlen erzielt wird, und durch ihre 
Größe auch befonderd geeignet wäre, einer neuen Sitte zum Beifpiel 
zu dienen, hat, wie ich höre, die alte Weife eingefchlagen und befipt 
ihre Stühle jo gut, als eine andere.” 

„Stammt vielleicht der bei uns herrfchende Gebrauch von 
England her, Hugh?” fragte Martha. 

Allerdings, wie ed bei dem Meiften, was wir haben, mag 
es nun gut, jchlimm oder gleichgültig fein, der Fall ift. Von einem 
Lande wie England, läßt fih ſchon vorn weg annehmen, daß es 
dem Vermögen Reſpekt zollt, und außerdem ift e8 nicht durchgängig 
wahr, daß jelbft: in den Kirchen des alten Kontinents Alles unter 
einander fibt. Der Seigneur unter dem alten Regime Frankreichs 
hatte gewöhnlich jeinen Kirchenſtuhl, und in keinem Lande findet 

‚man, daß fich die hohen Wiüxrventtäger tes Staats mit der Mafle 
der Andächtigen vermiügen, fe wein gie SÄRER inter 


927 


Freilich kann man in den katholiſchen Kirchen großer Städte auch 
die Herzogin in dem Gedränge knieen jehen, denn es gibt da zu 
viel derartige Perfonen, als dag man fie alle mit befonderen Sitzen 
auszeichnen könnte — eine Ehre, Die nur den Höchſten vorbehalten 
bleibt; aber auf dem Lande trifft man gemeiniglich Kirchenftühle, 
welche für den Gebrauch angejehener Berfonen aus der Umgegend 
an den Seiten angebracht find. In diefer Beziehung. find wir nicht 
ganz fo Ihlimm, al8 wir wohl glauben, obſchon ich dem Gebrauch 
nicht eben das Wort reden will.” 

„Du wirft aber doc zugeben, daß ein bedachter Kirchenftuhl 
für unfer Amerika unpaffend ift, Bruder?” 

„Barum für Amerika unpaffender, als für jedes andere Land? 
Sch gebe zu, daß fie in feinem Gotteshaus am Pla find, denn die 
Heinlichen Unterfchiede zwifchen den Menſchen, die nur durch die 
Zandesfitte beftimmt werden, jollten ganz und gar verfchwinden, 
wenn man jo zu fagen in der unmittelbaren Gegenmart der gött- 
lichen Allmacht ſteht. Uber ich finde, daB in Amerika ein Geift 
um fich greift, welcher von gewiſſen Verfonen der ‚Geift der Infti= 
tutionen‘ genannt wird, und vermöge defjelben will man Niemand, 
ſelbſt den Verdienſtvollſten nicht, auch nur die mindefte Belohnung, 
Ehre und Anerkennung zu Theil werden laffen. Sobald ſich der 
Kopf eines Bürgers über die Menge der ihn umringenden Geftchter 
erhebt, wird er zu einer Zieljcheibe für faule Eier, als jei er auf 
einem Pranger ausgeftellt; denn feine Mitgefchöpfe geftatten nicht, 
daß man fich durch moralifche Größe vor ihnen auszeichne.“ 

„Wie Eönnt Ihr dieß zufammenreimen mit der großen Anzahl 
von Catos und Brutufe, der Gracchen gar nicht zu gedenken, die 
man fo häufig unter ung findet?" fragte Mary Warren jchelmifch. 

„Sb, dieß find bloße Ausgeburten der Parteifucht — große 
Männer für irgend einen befonderen Zwed. Sie find daran ge- 
wöhnt, fih zu Faktionszwecken brauchen zu laſſen, und werden ie. 
nach Umftänden darum begrüßt. Daher tommt 23 denn ud | DW 


. | 928 - 


neun Zehentheile von den Eatog, deren Ihr Erwähnung thut, nach 
jeden politifchen Luftrum vergeffen, und nicht einmal mehr dem Na⸗ 
men nach bekannt find. Es foll fih aber nur einmal ein Mann, 
unabhängig von dem Volke, durch fein eigenes Berdienft er⸗ 
heben, dann wird man bald fehen, wie das Volk mit ihm umfprin- 
gen wird. Gerade fo ergeht ed nun meinem Kirchſtuhl, — er ift 
ein großer Kirchſtuhl und if e8 geworden ohne die Mitwirkung des 
„Volks‘; eben deßhalb kann ihm auch Das Volk nicht Leiden.“ 

Die Mädchen lachten über dieſe Vergleichung, wie Leichtherzige, 
frohfinnige Wefen Über irgend einen derartigen Einfall lachen kön 
nen; Patt aber gab fih nody nicht zufrieden, fondern griff den Wir 
derfpruch in ihrer beftimmten geiftvollen Weife wieder auf. 

„Er ift ein großes, häßliches Ding, wenn dieſes Zugeftänd- 
niß deiner Eitelkeit ſchmeicheln Tann," fagte fie; „ich flehe daher 
inftändigjt, er möchte noch in diefer Woche einen großen Stuy 
erleiden. In der That, du haft gar keinen Begriff davon, Hugh, 
wie viel Redens er in lebter Zeit veranlaßt hat." 

„Daran zweifle ich nicht, mein liebes Kind; aber all’ dieſes 
Gerede zielt blos auf die Pachtverhältniffe ab. Was fich nur im- 
mer erdenfen läßt, wird gegen ung arme Örundbefiger an den Haa= 
ren herbeigezogen, damit unfere Sache ja recht unpopulär werde und 
man befjere Ausficht gewinne, uns ungeftraft zu berauben. Das 
gute Volk diefes Staates läßt jih wenig träumen, 
daß diefelben Hebel, welche von den Feinden unferer 
Snftitutionen längft voraus gefagt, und von ihren 
Freunden ſo warm zurückgewieſen wurden, jebtge 
waltigunterunsum ſichgreifen —ja, daß das große 
Erperimentinder bedrohlichſten Gefahrſchwebt, in 
demſelben Augenblickfehl zu ſchlagen, in welchem 
man am lauteſten über ſeinen glücklichen Erfolg ju- 
Belt. Wenn dieſerVerſuh anidas&igentfumaugnod 

fo mittelbar gelingt, ſo werden MUELLER clean 


929 


fo unvermeidlic, unter die Kuthe des Defpotismus als einzi- 
ges Bufluchtsmittel gegen dje Anarchie treiben, als Arſachen 
ihre Wirkungen nad) fich ziehen. Die Gefahr befteht fchon jeßt 
in ihrer ſchlimmſten Form, in der des politifchen Demagogismus; 
man muß ihr Angeficht in Angeficht gegenüber treten, mit gedieges 
nen Grundfägen fie bekämpfen und fie mannhaft unterdrüden, oder 
wir find verloren. Dieß ift meine unmaßgebliche Anſicht. Heuch⸗ 
leriſches Gefchrei tft das vorherrichende Lafter unferer Religion, na⸗ 
mentlich in politifchen und religiöfen Dingen — und ein foldhes 
Geſchrei darf nie durch Zugefländniffe zufrieden geftellt werden. 
Meine Stuhlbedachung foll ftehen bleiben, jo lang ed noch einen 
Antirentismus zu Ravensneft gibt, oder muß durch Gewalt nieder- 
geriffen werden. Sind die Leute wieder zur Befinnung zurüdges 
fehrt und fangen an, zwifchen dem Mein und Dein einen vernünf- 
tigen Unterfchied zu machen, fo kann ihn die Köchin jeden Tag in 
der Woche zum Ofenholz haben.” 

Da wir jebt im Begriff ftanden, unmittelbar vor der Kirche 
in die Landftraße einzubiegen, fo wurde das Geſpräch als unpaf= 
fend für den Plab und die Gelegenheit aufgegeben. Die Gemeinde 
von St. Andrews war Kein, wie e8 auf dem Lande bei den Ge⸗ 
meinden der bifchöflichen Kirche ſtets der Fall ift, weil namentlich 
die Abkömmlinge der Puritaner fie mit Mißtrauen und nicht fel- 
ten mit entjchiedenem Widerwillen betrachten. Die rohe Religion 
— halb Heuchelei, halb Gottesläfterung — welche von Cromwell 
und feinen Anhängern fo vielen Engländern als Erbtheil hinterlaf= - 
fen worden war, aber doch eine gewifle wilde engherzige Aufrich- 
tigkeit in fih barg, iſt unferem Lande wahrfcheinlich mit viel 
mehr urjprünglicher Eigenthünmlichkeit übermacht worden, als man 
heutzutage in jedem andern Theil der Welt findet. Bon der Eng⸗ 
herzigkeit ift viel zurüdgeblieben; aber fie hat unglüdlicherweife, 
wie es ſtets zu gehen pflegt, wenn in ſolchen Sekten dx Kreise 
Jität Eingang zu gewinnen anfängt, den Ehnratter der Rain 

Ravensneft. YA 


530 


angenommen. Mit einem Worte, die Webertreibungen und die fal⸗ 
Then Grundfäge der religiöfen Fanatiker Amerika's, welche wäh- 
rend des fiebzehnten Zahrhunderts Heren verbrannten, Quäder 
bängten und Alle zur Hölle verdammten, bis auf die wenigen Aus⸗ 
erwählten, nehmen jebt ihren natürlihen Gang und jagen auf das 
offene Ziel des Unglaubens los. Ebenſo wird es auch mit den 
Mipbräuchen der politiichen Freiheit ergehen, die nothwendig zum 
Despotismus führen müfjen, wenn ihnen nicht in Zeiten Einhalt 
gethan wird. Sie liegen freilich nicht in dem „Geift der Inſti⸗ 
tutionen”, fondern in der Tendenz der menſchlichen Natur, und fe 
ben in einem engen Zufammenbang mit einem Zuflande, in wel 
chem man von dem Recht abgehen will, um das Unrecht zu unter: 
ftüßen. 

Wie ich fand, war Mr. Warren ein populärer Prediger, ob- 
Thon feine Sekte im Allgemeinen einer fehr befondern Gunft fid 
erfreuen durfte. Ein provinzielles, von Borurtheilen befangenes 
Volk, hegte natürlich einen Widerwillen gegen Alles, was mit ſei⸗ 
nen Anfihten und Gewohnheiten nicht im Einklang fund, und die 
einfache Thatfache, Daß er zu einer Kirche gehörte, welche Bifchöfe 
befaß, galt an fih ſchon als ein Beweis, daß feine Gemeinde «8 
mit der Ariftofratie und den privilegirten Klaffen hielt. Allerdings 
hat faft jede andere Sekte im Land auch ihre kirchlichen Würden, 
Die unter der Bezeichnung von Geiftlichen, Aelteften und Diakonen 
befannt find — ein Bormurf alfo, der eben fo gut auf fie ſelbſt 
anwendbar iſt; aber fie befigen feine Bifchöfe, und in derarti⸗ 
gen Fällen nimmt man nicht an dem, was man felbft nicht hat, 
fondern an dem, was Andere haben, Anftoß. Aber troß diefer Hin 
derniffe, welche der Popularität fo jehr im Wege flehen, erfreute 
fh doch Mr. Warren der Achtung feiner ganzen Umgebung, und 
fo jonderbar es auch fcheinen mag, that ihm hierin der Umſtand 
feinen Abtrag, daß won der gamen SÄRÜSEÄL in ber Gegend er 

allein e8 gewagt hatte, den won 1b artüienten SR her Disust, 


531 


den man fo gern mit dem Titel „Geift der Snftitutionen” bemän- 
teln möchte, Öffentlich zu rügen. Diefer Pflicht Hatte er fich bei 
mehr als einer Gelegenheit mit Beftimmtheit und Nachdruck entle= 
digt, obſchon er dabei ftetS den milden Geift chriftlicher Liebe wal« 
ten lieg. Sein gewiflenhaftes Benehmen hatte zwar Anlaß zu 
Drohungen und anonymen Briefen — dieſen gewöhnlichen Zu⸗ 

. Huchtsmitteln feiger Gemeinheit — gegeben, zugleich aber auch Das 
Gewicht feines Charakters gekräftigt, und Vielen, die ihm gene 
gegrollt haben würden, wenn e8 in ihrer Macht gelegen hätte, ein 
geheimes Gefühl von Ehrerbietung abgerungen. 

ALS wir in der Kirche anlangten, faßen meine Großmutter und 
mein Onfel bereits in dem gedachten Stuhle. Mary Warren begab 
fih mit meiner Schwefter nach einem andern Theil des Schiff zu 
einem Sig, der dem Rektor vorbehalten war, während die beiden 
andern jungen Damen im Gitterchor ihre gewohnten Pläße einnah⸗ 
men. Sch folgte nach, und faß nun, zum erſten Mal in meinem Le= 
ben mit allen Rechten des Eigenthümers bekleidet, unter dem an» 
ſtößigen Baldachin. Unter dem Ausdrud „Baldahin” darf übrigens 
der Lefer nicht an eine feftonirte Draperie, Scharlachfarben und 
Goldfranfen denken, denn unfer Ehrgeiz hatte fich nie fo Hoch aufs 
gefhwungen. Der Unterfchied unferes Stuhls in Vergleichung mit 
jedem anderen beftand einfach darin, daß er größer und bequemer 
war, als die Umſtehenden — ein Bortheil, deflen fich jeder in 
gleicher Weile hätte erfreuen Fönnen, der, wie wir, Zahlung dafür 
leiftete; der Baldachin aber beftand in einem fehwerfälligen, plums- 
pen, ungeftalten Dach, einer vollkommenen Karrifatur des berühm⸗ 
ten Baldahino von St. Peter in Rom. Die erftere Bequemlich⸗ 
feit erregte wahrfcheinlich feinen fonderlichen Neid, da fie ganz in 
den gewöhnlichen Landesbrauch des „für Geld geigt man Einem“ 
fiel; aber das Dach war ariftokratifch und Fonnte daher nicht ge⸗ 
duldet werden, fintemalen ed, glei dem Bahtnergiiuntie Den 
„ Geift ber Iuftitutionen” widerfpracd. Alerdinge ger BÄN 

Jar 


532 


feinen Beftand Niemand Schaden zu, und hatte als Denkzeichen 
vergangener Anfichten und Bräuche wohl einigen Werth; es war ein 
Eigenthum, das ohne Verlegung von Eigenthumsrechten nicht ans 
getaftet werden konnte, und jede Perfon, die es ſah, mußte fi in 
ihrem Innern fagen, daß im Grunde nichts fo Abfonderfiches daran 
jet, wenn ein derartiger Stuhl einem Littlepage gehöre; namentlich 
aber hatte e8 damit feine Richtigkeit, daß Diejenigen, welche darin 
faßen, nie auch nur einen Augenblid glaubten, daß fle Durch ihren 
Stuhl beſſer over fehlechter würden, als ihre übrigen Nebenmen- 
ſchen. Gleichwohl aber war er, nächft dem Pachtverhäftniffe, bei 
weiten der anftößigfte Gegenftand, welcher damals in Ravensneft 
eriftirte, und es frägt fich fehr, ob das Kreuz an der Stelle, 
welche der allgemeinen Anficht nach durch einen Wetterhahn geziert 
fein follte, oder Mr. Warrens Ueberfchläge nur halb fo viel Aer⸗ 
gerniß erregten. 
ALS ich nach der Privatandacht, die nach dem Eintritt in die 
Kirche unter uns Halbpapiften üblich if, das Haupt erhob und 
mich umſah, fand ich, daß das Gebäude faft zum Ueberfirömen voll 
war, und ein weiterer Blick belehrte mich, daß beinahe jedes Auge 
auf mir haftete. Da der Baldachin letzter Zeit fo viel Auffehen 
gemacht hatte, fo glaubte ich Anfangs, die Aufmerkfamkfeit gelte 
diefem; aber bald gewann ich Die Uebergeugung, daß meine eigene 
geringe Perfon die Zielfcheibe war. Ich will mich nicht damit auf- 
halten, aller der müſſigen und einfältigen Gerüchte Erwähnung zu 
thun, welche über die Art und den Grund meines verkleideten Auf⸗ 
tretens im Dorfe oder über fonftige damit in Verbindung flehende 
Umftände wie ein Lauffeuer um fich gegriffen hatten, obſchon eines 
davon ſogar harakterifiiih und für die vorliegende Frage fo bes 
zeichnend ift, daß ich es nicht übergehen kann. Man erzählte ſich 
nämlich, ich habe in der zweiten Nacht meiner Ankunft eine meiner 
eigenen Scheunen in Brand Frden {fen un don Sehifkge der 
That jenen „tugendhaften —SFXE 


533 


Laſt zu legen, welche nur eine ungefeßliche, bewaffnete Bande auf 
den Beinen hielt, um mir durch Einjchüchterung mein Eigenthum 
zu entleiden. Ja, da faß ih, vollflommen unbewußt der Ehre, die 
mir geſchah, und von der vollen Hälfte der Gemeinde als der ge⸗ 
achtete, rechtlich gefinnte Jüngling angefehen, der einen jolchen 
ſchurkiſchen Plan erfonnen und zur Ausführung gebracht hatte, 
Niemand, wer nicht Gelegenheit zur Bergleichung gehabt hat, Tann 
fich eine VBorftellung bilden, wie weit mächtiger und furchtbarer das 
amerikaniſche „Volfsgerede” ift, als die gewöhnlichen Gerüchte un« 
ter jedem andern Zuftand der Gefellfchaft. Das franzöfifche on dit 
ift eine pure Aermlichkeit in Vergleihung mit jenem gewaltigen 
Hebel, der gleich dem des Archimedes nur eines feften Punktes be- 
darf, um die Welt zu bewegen. In Amerika hat der Ausdrud 
„Das Volk jagt”, jo lange man ſich mit demfelben trägt, eine ges 
wiſſe Allmacht, welche nicht aus dem Geift, fondern aus dem Ch a⸗ 
rakter der Inſtitutionen hervorgeht. Wo das Volk herrſcht, if 
Das „Volk“ auch entfchloffen, dem, was e8 „ſagt“ Kraft zu geben, 
und die Gerechtigkeit einer folchen Entfcheidung wird jo wenig bes 
anftandet, daß jogar die heilige Schrift nicht fo viel praftifche Wir- 
kung übt und nicht die halbe Gewalt befißt, die einem derartigen 
Gerüchte inwohnt, fo lang es der öffentlichen Stimmung genehm 
ift, es fortzupflanzen. Wenige wagen einen Widerfpruch und noch 
weniger erdreiften ſich, die Richtigkeit der Frage zu bezweifeln, ob- 
ſchon fie wunderfelten eine Wahrheit in fih birgt. Durch ein fol- 
ches Volfsurtheil köͤmmt man, je nachdem man es zeitweilig gut 
verbreitet, zu einem Auf oder verliert ihn; ja, e8 jchafft oder ver⸗ 
nichtet Batrioten. Mit einem Worte, obfchon nie eine volle Wahr- 
heit und jelten viel Wahrheit darin liegt, fo wird es doch, wie uns 
gereimt dieß auch erfcheinen mag, pro hac vice zur unumftößlichen 
Gewißheit. Allerdings weiß Jedermann, daß das, was das Volk“ über 
irgend etwas jagt, keinen Beftand hat, fintemal da8 Nu! st, 
Ja faſt immer fpäter dem „wideripricht" , wos es wor KB Rassien 


534 


gefagt hat; gleichwohl aber muß man ſich der Autorität des Dictums 
unterwerfen, jo lang ed dem „DBolt" beliebt, etwas zu „fagen”. 
Die einzige Ausnahme von diefer Regel, die übrigens auch wieder 
als Beftätigung dient, findet während der politifchen Parteikämpfe 
Statt; denn da gibt es ſtets zweierlei „Volksfagen”, von Denen jede 
der anderen platterdings widerjpricht — ja bisweilen wohl ein hal- 
bes Dugend, von denen feine zwei mit einander Aehnlichkeit haben. 
Da faß ich nun, wie ich fpäter erfuhr, als „das Zielblatt für 
alle Beobachter,” blos weil e8 zu den Zweden Derjenigen, die mir 
mein Befigthum zu entreißen gedachten, gehörte, allerlei Gerüchte 
zu meinem Nachtheile auszubreiten, von denen, wie ich mit frohem 
Bewußtfein jagen kann, auch nicht ein einziges begründet war. ' 
Meine erfte Umfhau in der Gemeinde überzeugte mich, daß bei 
weitem der größte Theil aus Solchen beftand, die nicht zur St. Ans 
drewssftirche gehörten. Neugierde oder vielleicht ein fchlimmeres 
Gefühl hatte heute die Zahl von Mr. Warrens Zuhörern oder — 
wie ich mich richtiger ausdrüden könnte — meiner Beobachter 
verdreifacht. 
Der Gottesdienft erlitt Feine andere Störung, als diejenige, 
welche durch das Tinkifche Wefen fo vieler an das Ritual nicht 
Gewöhnter herbeigeführt wurde. Die Achtung, welche man allge= 
mein religiöjen Gebräuchen zu zollen pflegt, hielt die Anwefenden 
in Ordnung, und obſchon allgemein eine fo boshafte und jelbftfüd- 
tige Stimmung herrichte, als dieß bei einem fo geringfügigen Ans 
laſſe nur möglich war, fo wurde doch weder Gewaltthat noch Bes 
fhimpfung an mir verfuht. Was mich felbft betraf ,- jo Tonnte 
über meinen Charakter und meine Eigenfchaften zu Ravensneft nur 
wenig befannt fein. Die Schule, das College, meine Reifen und 
ein Winteraufenthalt in New⸗NYork hatten mich auf meiner eigenen 
"Domäne fo zu jagen zu einem Fremden gemacht, und man betrachtete 
mich daher mehr durch die Brile meiner Haltaetteäge, als ih 
nad bekannten Thatſachen peuuigelt werten tume. DR Sir 


935 


ließ fich gewifjermaßen auch von meinem Onkel jagen, der fo lange 
im Auslande gelebt hatte, daß man ihn fogar für einen halben 
Ausländer anfah, der die Fremde feinem Vaterland vorzog. Dieß 
ift ein Anftoß, welchen die Maffen in Amerika kaum verzeihen kön⸗ 
nen, obſchon Diejenigen, welche Gelegenheit zu Bergleichungen 
gehabt haben, die Sünde nicht fehr hoch anfchlagen werden. 
Die älteren Nationen bieten jüngeren fo viele Verlockungen, daß 
Leute von Bildung, welche über ihre Zeit gebieten können, gern 
unter ihnen verweilen, und es darf daher nicht Wunder nehmen, 
wenn der gereiste Amerikaner Europa feinem eigenen Welttheile 
vorzieht. Aber eben diefer Vorzug wird einem provinzialen Volke zu 
einem Dorn im Aug’, und es ift durchaus nicht geneigt, eine Derartige 
Bernachläffigung feiner felbft zu vergeben, Was mich betrifft, io, 
habe ich fagen hören, und ich glaube auch, daß einige Wahrheit 
darin liegt, — Länder, die, nachdem fie einmal auf dem Gipfel der 
Civiliſation geftanden haben, im Abnehmen begriffen find, bieten 
müffigen Leuten einen weit angenehmeren Wohnplag, als die im 
Sturme des Fortfchritts dahineilenden Nationen. Dieß ift einer 
von den Gründen, warum Stalien weit mehr Fremde anzieht, als 
England, obſchon man in der Vergleichung auch dem Klima die 
geeignete Rechnung tragen muß. Alfo wie gefagt, die häufige lange 
Abwejenheit und die augenfcheinliche Vorliebe für das Ausland 
hatten meinen Onkel in den Augen der Maffe jehr unpopulär gemacht; 
denn dieſe hat nie etwas Anderes gehört, und iſt Durch die felbft- 
füchtigen, efelhaften Lobhudeleien ihrẽs eigenen gefellfchaftlichen 
Buftandes zu der völligen Ueberzeugung gekommen, es gehöre etwas 
mehr, als bloßer Geſchmacksmangel — ja faft eine völlige Grund⸗ 
faglofigfeit dazu, wenn man ein anderes Land vorziehen könne. 
Diefe Unpopularität wurde jedoch bedeutend gemildert durch den 
weit verbreiteten Ruf der Rechtlichkeit meines Onkels, und feine 
Freigebigfeit trug gleichfalls nicht wenig dazu bei, denn fein Geld⸗ 
beutel bedurfte eben fo wenig einer Schnur, 8 Sau Hurtium® 


536 


Thüre einer Klinke. Bei meiner Großmutter Dagegen verhielt fich 
die Sache ganz anderd. Sie hatte den früheren Abfchnitt ihres 
Lebens in dem Neft verbracht, und ed war unmöglich, daß eine fo 
treffliche Frau nicht allgemeine Achtung fand. Allerdings war fie 
für die Antirenter ein ärgerlicher Hemmftein geweſen, namentlid 
wenn fih’s um Ausführung jenes Theils ihrer Plane handelte, 
der auf Berleumdung und die Iegitime Zochter derjelben, die Ver⸗ 
breitung von Borurtheilen abzielte. Es ging nicht wohl an, eine 
fo edelfinnige, mildthätige, muthige und gerechte Frau zu ver- 
leumden; aber fo gewagt das Experiment auch erfcheinen mochte, 
wurde es doch verfucht, und nicht ganz ohne Erfolg. Man befchuls 
Digte fie, daß fie in höchſt ariftofratifcher Weife ihre eigene- Familie 
den Familien des übrigen Volkes vorziehe. Patt und ich, behaup⸗ 
tete man, feien nur ihre Enkel, die auch außer ihren Befigungen 
zu Ravensneft im Vollauf zu leben hätten; eine Frau aber von 
Mrs. Littlepage's Alter, die fchon einen Fuß im Grabe habe, follte 
zu viel allgemeine Menjchenliebe haben, um das Wohl von Per- 
fonen, die blos ihre Enkel feien, dem Antereffe von Kindern ver 
Männer vorzuziehen, die nun feit fechzig Jahren ihrem Gatten und 
ihren Söhnen Renten bezahlt hätten. Diefer Angriff rührte noch 
obendrein von der Kanzel oder vielmehr von einem Syrupfaß ber, 
das einem wandernden Prediger ftatt der Kanzel dienen mußte. 
Diefer Menfch betrieb es als fein Tagewerf, die Gebote des 
Evangeliums und .die des Antirentismus als das große Ziel des 
Lebens darzuftellen. 

Wie gefagt, in Folge des vorerwähnten Angriffs hatte meine 
gute Großmutter einigermaßen in der öffentlichen Achtung verloren. 
Es ift zwar wahr, hätte man die Verbreiter diefer einfältigen 
Schmähung offen darüber zur Rede geftelt, fo würden fie ihre 
Mitwirkung entfchieden in Abrede gezogen haben; aber nicht8deftos 
weniger ließ fih nicht Läugnen, Day unter yundert uheren Beſchul⸗ 

. Digungen, die nur geradweife, wit herinder Betistweälieen 


537 


waren, auch diefer fleißig in Umlauf gefeßt wurde, um die Little 
page’8 unpopulär zu machen. Unpopularität aber gilt in Amerika 
als eine Sünde, welche alle üblen Bolgen jeder anderen Vergehung 
nach fich zu ziehen pflegt. 

Der Lefer, welcher mit unferem gefellfchaftlichen Leben nicht 
befannt ift, muß nicht glauben, daß ich um der Wirkung willen die 
Farben zu grell auftrage. Im Gegentheil, ich bin mir vollfommen 
bewußt, das Colorit meines Gemäldes fehr gedämpft gehalten zu 
haben, denn es ift eine unläugbare Wahrheit, daß heutzutage, we⸗ 
nigftens in diefem Theile Amerika's, nichts von einigem Intereſſe 
der einfachen Entjcheidung der Grundfäße und Geſetze überlaflen 
bleibt. Das Uebergewicht der Zahlen ift fo groß, daß kaum ein 
wichtiger Privatprozeß vor ein Schwurgericht gebracht werden / kann, 
ohne daß man mehr oder weniger unmittelbar den Verſuch machte, 
die öffentliche Stimmung für eine oder die andere Seite zu ge= 
winnen, um dadurch die Gefchwornen zu veranlaffen, daß fie die 
Entſcheidung im Sinne der Mehrheit abgeben. In Europa werden 
die Richter von den Parteien aufgefucht und beftürmt; bei ung 
aber muß das Publitum in diefer Weife behandelt werden. Es 
liegt nicht in meiner Abficht, die Gebrechen meines Baterlandes 
auszupofaunen, weil ich aus eigener Wahrnehmung weiß, daß ent⸗ 
Tprechende Uebel, die nur in ihrem äußeren Anfchein und in der Att, 
wie fie wirken, verfchieden find, allenthalben eriftiren; aber fo äußern 
fih einmal einige von unferen Mängeln, und wer fie zu bemänteln 
wuͤnſcht, ftatt fie zu rügen, aufzudeden und zu verbefiern, ift weder 
ein Patriot, noch ein ehrlicher Mann. Die Anficht des „nil nisi 
hene“ hat dem Lande ſchon unendlichen Schaden zugefügt, und in 
der Rückwirkung natürlich auch der Freiheit. 

Sch glaube nicht, daß an jenem Tage in der St. Andrews⸗ 
Kirche zu Ravensneſt fonderliche Andacht herrfchte; denn die Hälfte 
der Gemeinde tappte fich durch die Liturgie dur, vd Arter Ver 
in feinem Gebetbuch den Faden verlor oder An gar wit Rider 


538 


konnte, ſchien zu glauben, es jei für das Ritual von uns Halb- 
yapiften hinreichend, wenn er fein Auge auf mich und meinen be 
dachten Stuhl heftete. Ich weiß zwar nicht, wie viele ſolche Pha⸗ 
rifäer anwefend waren, welche wirklich glaubten, ich hätte meine 
Scheune anzlinden laffen, um die Schmach den „tugendhaften”, 
„ehrlichen" und „hart arbeitenden” Pächtern zur Laſt zu legen — 
desgleichen war mir unbekannt, wer von denen wohl zugegen fein 
mochte, welche die Gerichte über meinen Befigtitel und den übrigen 
Unfinn, der von der berechnenden Habgier im Lande ausgefchrieen 
wurde, für gute Münzenahmen; fpätere Ereignifje gaben mir übri⸗ 
gend Grund zur Annahme, daß folder Perfonen nicht wenige.dem 
Gottesdienft angewohnt hatten. Ohne Zmeifel verließen an jenen 
Morgen Viele den Tempel, deren Seelen von Plänen der gröbften 


_n Biel. 


Ungerechtigkeit erfüllt waren, während fie zu gleicher Zeit Gott : 


danften, daß fie nicht fo jchlimm feien, wie Diejenigen, die fie zu 
berauben trachteten. 


Nachdem die Gemeinde entlaflen war, blieb ich noch zurück, um 


in der Safriftei ein Wort mit Mr. Warren zu fprechen, da nicht 
er, fondern nur feine Tochter die Nacht mit und im Refte zugebradit 
hatten. Wir befprachen ung über die Ereigniffe des Morgens, von 
denen der gute Rektor wohl gehört hatte, obſchon er nicht wußte, 
wer die verhafteten Brandftifter waren. Ehe wir das Gotteshaus 
verließen, warf ich einige allgemeine Bemerkungen hin. 

„Ihr habt diefen Morgen eine ungewöhnlich große Anzahl von 
Zuhörern gehabt, Sir,” fagte ich Tächelnd, „objchon fie nicht ganz 
fo aufmerkjam waren, als man wohl hätte wünjchen mögen.“ 

„Sch Ichreibe dieß auf Rechnung Eurer Rüdkehr, Mr. Little 
page, und die Erlebniffe der legten paar Tage mögen gleichfalls 
viel dazu beigetragen haben. Ich fürchtete einen Augenblid, man 
trage fich mit einem geheimen Anſchlag, der den Sabbath und den 

Zempel mit Entweihung und Gewaltigat wine. Jodes iſt doch 


Alles gut abgelaufen, wad ih date, Dr vier Act. 


539 


Menfchen Keine weiteren fehlimmen Folgen hat. Wir Amerikaner 
hegen große Hoffnung vor heiligen Dingen, und dieſe wird ſtets das 
Haus des Herrn ſchuͤtzen.“ 

„Wie, Ihr glaubt alſo, daß die St. Andrews⸗ Kirche heute 
mit Gefahr bedroht war?“ 

Mr. Warren erröthete ein wenig und ſtockte eine Weile, ehe 
er mit der Entgegnung herausrüdte. 

„Ohne Zweifel it Euch wohl bekannt, junger Sir," nahm 
er endlich das Wort, „weldhe Stimmung gegenwärtig im Lande 
herrſcht. Um feine Zwede zu erreichen, bietet der Antirentismug 
alle Hilfsmittel auf, die er möglicherweife für fich benügen Tann, 
und unter anderen Dingen geht e8 namentlich gegen Euren bedach⸗ 
ten Kirchenftuhl los. Ich geftehe, daß ich Anfangs beforgte, es 
möchte Diejem eine Beſtürmung zugedacht fein." 

„Mögen fie's immerhin verfuchen, Sir. Der Kirchenftuhl foll 
feiner Zeit in einer Weife verändert werden, wie fie für den heiligen 
Ort paßt, aber nicht eher, bis der Neid, die Bosheit und die Hab- 
fucht aufgehört haben, gegen ihn zu Felde zu ziehen. Es wäre 
weit fchlimmer, folchen Leidenfchaften gegenüber Zugeftändniffe zu 
ertheilen, als wenn der Stuhl in feiner gegenwärtigen Geftalt noch 
ein halbes Sahrhundert ftehen bleibt.” . 

Mit diefen Worten verabfchiedete ich mich und eilte fort, um 
auf den Feldern draußen die Mädchen einzuholen. 


Fünfundswanziaftes Kapitel. 


Ein ächter Freiftaat — wild und ftark dabei, 
Stolz demokratiſch, wo ein Jeder treu 

Dem bleibt, was er gelobt — gut oder ſchlecht, 
Und eifrig hält an feiner blauen Sasung; 
(Denn bieße „roth" fie, ſpräche Draco Recht). 


Halle. 


I verließ die Kirche in fo großer Haft, daß ich mich weder 
nach rechts oder links umſah. Die leichte, aber fchön gerundete 
Geſtalt Mary Warrend bewegte ſich unter den Webrigen weiter, 
ſchien aber doch zu zögern, als wolle fie mich nachkommen laffen. 
Ich eilte über die Straße und auf dem Feldweg weiter, fo daß ih 
in kurzer Zeit die Mädchen eingebolt hatte, 

„Was hat wohl jenes Volksgewuͤhl zu bedeuten, Hugh?” fragte 
meine Schwefter, mit der Spitze ihred Sonnenfhirms nad der 
Strafe binuntermeijend. 

„Fin Volksgewübl? Ich babe keines wahrgenommen. Alles 
bat vor mir die Kirche verlaffen und if im Frieden abgezogen. 
Sa, wabrbaftig — dort auf der Straße ſiebt's doch wie ein Men- 
fbenbaufen aus. Bein Et. Serrg, % het ein organiſirtes 

Meeting zu fein! Ia, ih jehe Te un rittten — un 


94 


auf der oberften Latte des Zaung, und der Kerl mit einem Pa- 
pierfeßen. in feiner Hand iſt ohne Zweifel der Sekretär. Alles 
dieß finde ich ſehr amerifanifch und fehr regelmäßig. Ich flehe 
dafür, es wird unter dem Vorgeben, man wolle die öffentliche 
Meinung fprechen laffen, ein ſchnödes Projekt ausgebrütet. Seht, 
dort ift ein Sprecher — was er für mannhafte Geftitulationen 
macht!“ 

Wir Alle blieben eine Weile ſtehen, und ſahen nach dem 
Volkshaufen zurück, der in der That ganz den Anſchein eines 
öffentlichen Meetings hatte. Wie die Mädchen mir ſagten, 
hatten die Leute ſich ſchon verſammelt gehabt, wie fie die Kirche 
verließen, und waren ebenfo bejchäftigt geweien, wie jebt. Der 
Anblick weckte unfere Neugierde, und da der Tag ſchön war, außer- 
dem wir auch nicht zu eilen hatten, fo gingen wir nur langfam über 
die Felder, und machten hin und wieder Halt, um zurüdzufchauen 
und zu jehen, was auf der Straße vorging. 

In diefer Weife mochten wir den halben Weg nach dem Neft 
zurüdgelegt haben, als wir bei einem abermaligen Stillftand bes 
merkten, daß das Gedränge fich zerftreute. Einige fuhren in ihren 
Dearbornd davon, Andere ritten und wieder Andere gingen zu 
Fuß weiter. Drei Männer aber kamen fchnell in der Richtung 
her, welche wir eingefchlagen hatten, und es fah aus, als ob fie 
ung einzuholen wünfchten. Sie befanden fich bereitS auf dem Feld- 
wege, welchen jelten Zemand zu begehen pflegte, der nicht im Neſt 
einen Beſuch zu machen wünfchte. Unter folchen Umftänden befchloß 
ih Halt zu machen und fie zu erwarten. Zuerſt griff ich jedoch in 
meine Tafche, um mich zu überzeugen, ob die Drehpiftole darin 
flat, denn diefe Waffe wird heutzutage fehr wichtig, da man Die 
Privatfehden nicht mehr blos ‚Node an Node”, fondern auch durch 
eine regelmäßige „volle Lage", Steuerbord und Badbord auszu- 
kämpfen pflegt. 

„Da dieſe Männer augenfheinlih Tommen, wu ih ik 


542 


zuſuchen,“ bemerkte ih, um den Mädchen meine Abficht mit- 
zutheilen, „fo wird e8 gut fein, wenn Ihr Euern Weg nad 
Haufe fortfegt, während ich bier an diefem Drehkreuz auf fie 
warte." 

„Ganz recht," entgegnete Batt. „Sie können nichts auf dem 
Herzen haben, was wir zu hören wünjchen, und du wirft uns bald 
einholen. Bergiß nicht, Hugh, daß wir an Sonntagen um zwei 
Uhr fpeifen. In dieſem Monat beginnt der Abendgottesdienft 
um vier.” 

„Nein, nein,” fiel Mary haftig ein; „wir können und dürfen 
Mr. Littlepage nicht verlaffen. Diefe Männer könnterr ihm ein 
Leides zufügen wollen.” R 

Ich war über diefe einfache natürliche Kundgebung von Theis 
nahme ebenfo entzüct, wie über die Enjchiedenheit, welche dad 
theure Mädchen dabei an den Tag legte. Mary erröthete zwar 
über ihre Haft, war aber gleichwohl entfchloffen, das genommene 
Zerrain nicht aufzugeben. 

„Bas könnten wir Hugh nüben, meine Liebe, ſelbſt zugeflan- 
den, daß Ihr recht hättet?" entgegnete Patt. „Zuverläffig wäre 
es befjer, wenn wir nach dem Haufe eilten und Leute herfchiekten, 
die ihm für einen folhen Fall Beiftand leiſten könnten. Mit 
müffigem Hieherftehen richten wir nichts aus." 

Miß Eoldbroofe und Miß Marston, die bereits ein wenig vor- 
aus waren, benügten diefen Wink und liefen, was fie fonnten, weis 
ter, ohne Zweifel, um die Andeutung meiner Schwefter in Aus 
führung zu bringen. Aber Mary Warren blieb feft, und Patt wollte 
ihre Freundin nicht verlaffen, wie fehr fle auch geneigt fein mochte, 
mich mit weniger Rüdficht zu behandeln. 

„Es ift wahr, wenn Gewalt verfucht würde, fo können wir 
Mr. Littlepage freilich feinen Beiftand leiften,” nahm Mary wieder 
auf; „aber etwas der Art wirWiiht am wenigtten zu befürchten. 

Diefe irregeleiteten Meniägen haben V wen Ye un in 


543 


Wahrheit, und wenn wir Euren Bruder allein laffen, ſtehen drei 
gegen Einen. Es ift daher beffer, wir bleiben und hören mit 
an, was vorfällt, damit wir den Thatbeftand bezeugen Tönnen, 
wenn ed, wie dieß nur zu oft vorfömmt, jene Perfonen für pafs 
fend Halten follten, die Wahrheit zu verdrehen.“ | 

Wir Beide, Patt und ich, waren erflaunt über die Klugheit 
und den Scharfblic diefer Bemerkung. Meine Schwefter trat jetzt 
ganz nahe an das Drehfreuz, an welchem ich noch immer fland, 
und entfaltete nun eine fo fefte entichlofjene Haltung, wie die ihrer 
Freundin war. Die drei Männer näherten fih. Zweit von ihnen 
fannte ich dem Namen nah, obfchon kaum von Perſon, während 
der Dritte mir wildfremd war. Die erften Beiden hießen Bunte 
und Mowatt; fie waren Pächter auf meinem Befisthum und, wie 
ich jeitdem in Erfahrung brachte, eifrige Antirenterd. Der Fremde 
gehörte unter die Klafje der wandernden Demagogen; er hatte das 
legte Meeting angezettelt und die beiden Pächter zu feinen Werk⸗ 
zeugen gemacht. Alle drei kamen jeßt mit der Miene großer Wich⸗ 
tigkeit auf das Drehkreuz zu — ja, ihre gravitätifche Haltung 
hätte nicht größer fein können, ſelbſt wenn fie vom chinefljchen 
Kaiſer mit einer aufßerordentlihen Sendung betraut gewefen 
wären. 

„Mr. Littlepage,” begann Mr. Brunee mit einer ganz befon- 
ders wichtig thuenden Phyfiognomie. „Das Volk hat diefen More 
gen ein Meeting abgehalten und darin diefe Refolutionen erlaflen. 
Wir find das Eomite, welchem der Auftrag zu Theil wurde, Eu 
eine Abjchrift davon einzuhändigen, und erfüllen nun unfere Pflicht, 
indem wir Euch diefes Papier übergeben. ” 

„Vermuthlich doch nicht, wenn ich e8 für paffend halte, es 
zurüdguweifen, Sir?" Tautete meine Antwort. 

„Ich follte meinen, in einem freien Lande Eönne fich Nie— 
mand weigern, eine Reihe von Refolutionen entgegen zu nehmen, 
bie ein Meeting feiner Mitbürger erlaſſen hat." 


544 


„Dieß könnte doch von den Umfländen und namentlich von 
dem Charakter der Refolutionen abhängen. Zuverläffig gibt die 
Freiheit des Landes Einem das Recht, zu jagen, er kümmere ſich 
nit um Eure Refolutionen, wenn fie auch die Befugniß ertheilt, 
Refolutionen zu fchmieden.” 

„Aber Ihr habt fie noch nicht angejehen, Sir, und ch 
dieß geichehen ift, Könnt Ihr nicht wiſſen, wie fie Euch gefallen 
werden.” 

„Dieß ift allerdings wahr; aber ich habe nur die Ueberbrin- 
ger betrachtet, bin Zeuge von ihrem Benehmen gewefen, und muß 
daher fagen, es gefällt mir nicht fonderlich, wenn man fich anmaft, 
mir bedeuten zu wollen, daß der nächfte beſte Menfchenhaufen 
mir Refolutionen zuſchicken Eönne, gleichviel, ob ich fie anzunehmen 
Luft habe, oder nicht." 

Ob diefer Erklärung fchien fih das Comité höchlich zu ent 
feben. Der Gedanke, daß ein Einzelner Anftand nehmen Tönnte, 
fih einem Joch zu unterwerfen, das ihm von Hunderten aufge 
legt wird, war für Dienfchen, welche die Majoritäten für Alles 
in Allem hielten, fo neu und unbegreiflih, daß fie kaum mußten, 
wie fie die Suche nehmen follten*). Anfangs fchienen fie gute Luft 


*) Die Rorftellung. daß die Majoritäten allmächtig jeien, ift unter dem ameti- 
kaniſchen Fol fo allgemein, fo tief gewurzelt und fo weit verbreitet, daß fle einen 
Hauptzug in dem Wationalcharakter bildet. Freilich thut fie unendlichen Schaden, 
wenn man irrtbümlicherweile in ihr den leidenten Gruntjat der Inflitutionen fieht. 
während dad Birken der Wajoritäten dem Weſen nad doch nur ein Rothbebelf if, 
um gewiſſe Kragen zur Enticheitung zu bringen. die_ von irgend Jemand in einer 
oder der andern Weile entfchiehen werden müflen. Hält es ſich in ber geeigneten 
Spbäre, jo flieht ed volllommen im Cintlang mit ter Gerectigleit, fo weit dieſe 
unter Menichen geübt werden fann; der Mißbrauch aber öffnet der untrüglichſten 
Xorannei Thor und Riegel. Natürlich wechſeln die Irrthümer, welde mit biefem 

enfand in Berbintung fleben, je nach ten Abflufungen ver Einficht und der 
Selbdſtjucht. Nachfolgende Anekdote wird dem Lefer einen Begriff geben, welchen 
Sıntrudf dad unter und berrfchente Gerübl auf einen Kremben bald nach jeiner An⸗ 
kunſt in unierem Lande machtr. . _ 
Wor Lin paar Jabren batte ber Verfaſſer der gegenwärtigen Ehrift einen Jrländer 
im Dienste, der ſich erft feit einigen Jabren in Amertfa dejand. Zu den Chliegenbeiren 
Diejed Wenichen gebörte ed. db um tie Berliatrt XXSGo Stmeine u itummern, 

von denen eines ziemud werbuttet wat, „Hat Fur NET —8RX rar Se 
nen gejehen? fragte eineh Tade ter cehrlitt Buühr. - = un 


545 


zu haben, für den Schimpf Rache zu nehmen; dann aber Tam 
die Erwägung, welche fie wahrfcheinlich belehrte, daß ein folcher 
Schritt doch nicht ſonderlich gerathen fein dürfte, und fie entſchie⸗ 
den ſich für ein philofophifcheres Verhalten, weil fie damit leichter 
“ihren Zwed zu erreichen hofften. 

„Muß ich Euch fo verftehen, Mr. Littlepage, nahm der Eine 
wieder das Wort, „daß Ihr Euch weigert, die Reſolutionen eines 
öffentlichen Meetings anzunehmen?“ 

„Ja wohl; ich kümmere mich nicht um ein halb Dutzend 
öffentlicher Meetings, wenn ihre Reſolutionen anſtößig find und 
in anftößiger Weife dargeboten werden.” 

„Was die Nefolutionen betrifft, fo könnt Ihr nichts davon 
wiſſen, da Ihr fie nicht gelefen habt; auch glaube ich, daß über 
das Recht einer Bolksverfammlung, nach Gutdünken Rejolutionen 
zu erlaffen, kein Zweifel erhoben werden kann.“ 

„In Betreff dieſes Rechts walten fehr große Zweifel ob, 
wie fich dieß in unfern eigenen Gerichtshöfen während der letz⸗ 
ten paar Jahre zur Genüge herausgeftellt hat. Aber wenn es 
auch beftünde, und zwar auf der breiten Grundlage, die Ihr 
dafür anzunehmen ſcheint, jo folgt daraus noch lange nicht die 
Befugnig, mir dergleihen Refolutionen aufzudringen. ” 

„Ich fol alfo dem Volk mittheilen, daß Ihr Euch weigert, 
feine Refolutionen auch nur zu leſen, Squire Littlepage ?" 

„Theilt ihm mit, was Euch gutdünkt, Str. Ich weiß von 
feinem Bolfe, ald von dem Volk im legalen Sinne, dag unter 
gewiffen gejeßlichen Beftimmungen feine Macht ausübt. Was aber 
diefe neue Anmaßung betrifft, die fih im Lande breit macht und 
die Unverfchämtheit hat, einen von Demagogen bearbeiteten und 
durch Rügen berückten Heinen Menjchenhaufen das Volk zu nennen, 
hat's bort eine Deränberung gegeben?“ — ‚Ja wohl, Sir, — Ss N Tr 
Srobe, F un ver Bepinmt be übrigen die Majv Tirat ob um DS 
Kavensnef. - PN 


546 


fo ertläre ich, daß ich fie weder achte, noch fürchte. Ja, ich verachte 
fle fogar und werde fie mit Verachtung behandeln, fo oft fie mir 
in den Weg tritt.” 


„Ih fol alfo dem Bolt von Ravensneſt fagen, daß Ihres ' 


verachtet, Sir?” 

„IH ermächtige Euch in Keiner Weife, von mir aus irgend 
Etwas dem Bolt von Ravensneft zu fagen, denn ich weiß nidt, 
ob Euch das Volt von Ravensneft mit einem Auftrage verfehen 


bat. Wenn Ihr mich achtungsvoll erſucht — von einem Recht auf : 


Eurer Seite ift keine Rede, fondern nur von einer Gefälligkeit auf 


der meinigen — den Inhalt des Papiers zu lefen, das Ihr u 
Eurer Hand habt, fo werde ich mich vielleicht bereit finden laſſen 


Jedenfalls aber verwahre ich mich dagegen, daß ein zufammenge 


laufenes Häuflein fich als Volt aufthun und fih in diefer Eigen : 


ſchaft das Recht anmaßen kann, feine Einfälle anderen Leuten auf 
zuzwingen.“ 

Die drei Comitoͤmaͤnner traten nun einige Schritte zurüd und 
beriethen fich zwei oder drei Minuten lang bei Seite. Während 
fie noch damit befchäftigt waren, vernahm ich zu meiner Seite die 
bolde flüfternde Stimme Mary Warrens. 

„Nehmt die Refolutionen an, Mr. Littlepage,” fagte fie, „und 
ſchafft Euch die Perfonen in diefer Weife vom Halfe. Ich kann 
mir zwar wohl denken, Daß das Gefchreibfel fehr einfältig if; aber 
wenn Ihr das Papier annehmet, fo werdet Ihr die Beauftragten 
nur um fo bälder log,“ 

Dieß war der Rath eines Frauenzimmers, und Weiber find, 
wenn ihre Beforgniffe erregt werden, flets geneigt, mit Zugefländ- 
niffen allzu freigebig zu fein, indeß blieb mir die Unannehmlid- 
feit, ihn zurücdweifen zu müflen, durch den veränderten Ton dei 
Kleeblatts erfpart, das jet wieder nach Dem Drehkreuz kam und 
augenfcheinlich zu einem entlügen BÄRR autaumen mar. 


„Mr. Hugh Roger Then: , wor I engen Bas ai 


hr. 


„sinn. 


547 


feierlicher Stimme und in einer Weife, ald habe er eine höchft 
wichtige legale Mittheilung zu machen, bei der ed an geichraubter 
Phrafeologie nicht fehlen dürfe, „ich erfuche Euch nun in der 
achtungsvollften Weile, ob Ihr einwilligen wollt, diefes Papier 
anzunehmen. Es enthält gewiffe Rejolutionen, mit großer Ein- 
müthigfeit: von dem Volk in Ravensneſt erlaffen, und Ihr wer- 
det vielleicht finden, daß fie auf Euch Beziehung haben. Ich habe 
die Weifung erhalten, Euch achtungsvoll zu fragen, ob Ihr diefe 
Abſchrift der befagten Nefolutionen annehmen wollt." 
Sch fchnitt den Faden der Rede ab, indem ich das mir hinge- 
botene Papier annahm, und es fam mir vor, als ob die drei wuͤr⸗ 
igen Botfchafter über diefes Benehmen von meiner Seite einiger- 
maßen betroffen ſeien. Dieß gab meinem Gedankengang eine neue 
Richtung, und hätten fie jeht ihre Refolutionen wieder zurüd ver⸗ 
langt, fo würde ich mich fo lang geweigert haben, ald meine Dreh⸗ 
piftole noch Dienfte leiftete. Einen Augenblid glaubte ich, Bunce 
habe Luft, das Experiment zu verfuchen. Für ihn und feine Ge= 
noffen wäre e8 der größte Jubel gewejen, wenn fte hätten landauf 
und landab fchreien können, der ariftofratifche Grundherr, der junge 
Littlepage verachte das Volk und habe ſich fogar geweigert, die 
Refolutionen anzunehmen, welche dafjelbe in feiner Majeftät zu er⸗ 
laſſen für gut hielt. So wie e8 übrigens jebt ftand, hatte ich die 
Anmaßung diefer Freiheitsfchwindler f Genüge gerügt, nebenbei 
aber auch alle Folgen ihrer Gefchreis vermieden und zugleich die 
Gelegenheit gewonnen, meine Neugierde zu befriedigen, da ich, wenn 
ich die Refolutionen las, erfahren Eonnte, auf was es die Führer 
des Meetings abgefehen hatten. Ich fage, die Führer des Mee- 
tings, denn es ift eine unumftößliche Thatfache, daß bei allen fol= 
chen Anläffen die Berfammlungen jelbft bei der Bildung und Gel- 
tendmachung der ausgedrücten Anfichten eben jo wenig zu thun 
haben, als wären fle die ganze Zeit über in Kamtſchatka genden. 
Ih legte daher das Papier zufammen, Rede vb in met TIIDR, 
—X 


548 


verbeugte mich gegen das Comite und ging auf der anderen Seite 
der Zauns weiter, nachdem ich den Sendlingen zuvor die Erklärung 
abgegeben hatte: 

„Gentlemen, wenn diefe Refolutionen einer Bertdfichtigung 
bedürfen, fo foll fie ihnen unfehlbar zu Theil werden. Deffentlice 
Meetings an Sonntagen find in diefem Theil fo ungewöhnlich, daf 
die heutige Verſammlung vielleicht ein Intereſſe bat für den klei⸗ 
nen Theil des Staats, der nicht zu NRavensneft wohnt.“ 

Es kam mir vor, als fei das Comité ein wenig befchämt; 
aber der Fremde oder der reifende Demagoge, der meine lepten 
Borte vernommen hatte, gab, als ich in Begleitung von Patt un) 
Mary Warren mich entfernte, die Erwiederung : 

„Se beffer der Tag, defto beffer die That. Die Sache betrifft 
den Sabbath, und zu dem gegenwärtigen Schritte hätte ſich Keine 
geeignetere Zeit auffinden lafien, als eben ein Sabbath.” 

Ich geftehe, daß ich vor Begierde brannte, die Refolutionen 
zu leſen; aber ich mochte meiner Würde nichts vergeben und 
zögerte daher, bis wir eine Stelle erreicht hatten, wo der Pfad 
durch ein Gebüfh führte. Da wir bier gegen Beobachtungen 
geſchützt waren, zog ich das Papier heraus, und die beiden Mäd- 
hen traten mit eben fo großer Neugierde, ald die meinige war, 
heran, um mir zuzuhoͤren, 

„hr feht hier fchon auf den erften Blick,“ rief ih, indem id 
die Papiere auseinander [hüttelte, „wie das „Bolf“ oft feine Re⸗ 
folutionen erläßt! Dieſes ganze Schreiben ift von einer wahren 
Schulmeifterhand und mit großer Sorgfalt copirt; hiezu hat fih 
nun gewiß auf der Landftraße Draußen, wo das Meeting abgehal- 
ten wurde, Feine Gelegenheit geboten. Wir haben da den Beweis, 
daß Alles bereits dem fouveränen Volk gehörig vorgefaut war; 
denn wie andern Monarchen wird dieſem von den getreuen Dienern 
viele Mühe erſpart.“ on u 

„Ich kann mir denten,' werte HRR, HR ai Arien 


549 
Dorf drunten Alles zuftußten und dann ihre Arbeit Dem Meeting 
vortrugen, damit fie gebilligt und als Stimme des Volks aner- 
fannt werde.” 

„Wenn es mit diefer fogenannten Billigung von Seiten der 
Zuhörer nur noch ehrlich zuginge, fo wäre es fchon recht; aber in 
jedem Meeting find zwei Drittheile bloße Teiggefichter, die ein ge= 
ſchickter Demagog Eneten kann, wie er will. Hören wir jedoch, um 
was ſich's bei diefen denfwürdigen Refolutionen handelt; file ges 
fallen ung vielleicht, wenn wir fie gelefen haben.” 

„Es ift etwas ganz Außerordentliches, daß in diefem Theile 
der Welt an einem Sonntag ein öffentliches Meeting abgehalten 
wird," rief Mary Warren. 

Ih ſchickte mih nun an, den Inhalt des Papiers zu leſen, 
der, wie ich auf den erften Blick bemerkte, jehr forgfältig für den 
Drud vorbereitet und ohne Zweifel nach kurzer Frift in einigen 
Zournalen zu lefen war. Zum Glüd ift ein derartiges Mandvriren 
gewaltig übertrieben worden. Feuer wird am wirkfamften durch 
Teuer befämpft, und man hat fo viele der widerfprechendften Mee⸗ 
tings, die ſtets die öffentliche Stimmung ausdrüden follen, abges 
halten, daß das ganze Verfahren in Verachtung gerathen ift und 
das Publifum mehr und mehr den großen Vortheil verliert, den es 
unter einer gemäßigteren Benügung feiner Gewalt befigen Tönnte 
— id meine die Berechtigung, bei ernftlichen Anläffen zuweilen 
feine wahren Anfihten und Wünfche kund zu geben: Wie es ge⸗ 
genwärtig fteht, fo weiß jeder BVerfländige, daß die fimulirten 
öffentlichen Anfichten bei weiten den meiften Lärm im Lande 
machen, und er achtet Daher auf nichts Derartiged, mag er nun 
davon hören oder leſen, wenn er nicht zufälligerweife mit der 
Quelle befannt it. Eine ähnliche Bewandtniß hat es mit der 
Zagespreffe, welche fo jehr in Mißkredit gefommen if, daß fe nicht 
nur nicht viel Schlimmes mehr wirkten Tann, \nsdern u UL ÜR 
Pacht verloren hat, das Gute anzuftreben. Mana ie HÄUSER. 


550 


Lärm von dem Wolf gemacht, daß Niemand mehr an defien Bor» 
handenfein glauben Tann, felbft wenn die Beftie die wildeften Ber- 
heerungen unter den Heerden der Nation anrichtet. Für einen 
Menſchen, der eine Stellung verloren hat, gibt es nur zwei Wege, 
fie wieder zu gewinnen; er muß entweder mannhaft wieder um⸗ 
tehren, oder einen fo weiten Ummeg machen, Daß Alle, vie. ein 
Augenmerk auf ihn haben, ihn nach jeder Richtung Hin begrei- 
fen und demgemäß ſchätzen lernen. Lebteres ift wahrfcheinlich die 
Bahn des Demagogismus und der Preffe, beide find fchon fo 
weit gegangen, daß eine Umkehr faft unmöglich iſt; fie Eönnen 
daher nur einen Theil des öffentlichen Vertrauens dadurch wies 
der gewinnen, daß fie fih begnügen, ihren Umweg zu vervoll- 
fändigen. Freilich bleiben fle dadurch hinter der Nation zurüd, 
und fie müflen Denen folgen, die fie in ihrem ehrgeizigen 
Ringen zu führen verfucht hatten. 

„In einem Meeting der Bürger zu Ravensneſt,“ begann id 
laut vorzulefen, „das am 22. Zuni 1845 nad) Begehung des unter 
den Formen der Landeskirche von England abgehaltenen Gottes- 
dienftes in dem bifchöflichen Meetinghaus auf offener Landſtraße 
fattfand, wurde Onefiphorus Hayden, Esquire, zum Präfidenten, 
und Pulasfi Todd, Esquire, zum Sekretär ernannt. Nachdem Des 
mofthenes Herolett und John Smith, Esquires, die Gegenflände der 
Berhandlung in glänzenden Reden zur Sprache gebracht und mit 
der ganzen Schärfe ihres Talents die Ariftokratie und Die Rechte 
des Menfchen beleuchtet hatten, wurde in ungetheilter Einmüthig« 
feit folgende Aeußerung der öffentlichen Anficht abgegeben : 

„Refolvirt, daß eine mit Mäßigung gehaltene Kundgebung 
der öffentlichen Meinung den Rechten freier Männer erfprießlich 
und eines der Föftlichften Privilegien der Freiheit fei, wie letztere 
in einem freien Rande von unferen Vorfahren, die auf der Grund⸗ 
lage der Freiheit und Gleichheit für die freien und gleichen In⸗ 
Ritutionen geblutet haben, auf ung vererbt: worden ift. 


951 


„Reſolvirt, daß wir dieſes Privilegium ſchätzen und flet3 
ein wachfames Auge darauf haben werden, damit wir diefen Preis 
der Freiheit nicht verlieren. 

„Refolvirt, daß alle Menfchen, weil fie in den Augen des 
Geſetzes gleich find, es noch viel mehr fen müſſen in den Augen 
Gottes. 

„Refolvirt, daß Meetinghäufer Pläbe find, hergeftellt für 
die Bequemlichkeit des Volks, und daß nichts dafelbft Zugang finden 
follte, was dem öffentlichen Geift widerfpricht oder möglicherweiie 
gegen denfelben verftoßen Eönnte. 

„Refolvirt, daß unfrem Urtheil nach ein Sig, welcher gut 
genug ift für den Einen, auch gut genug fein müſſe für den An⸗ 
dern — daß wir in Samilien und Gefchlechtern Teinen Unterfchied 
anerkennen, und daß die Kirchenftühle eben jo gut als die Geſetze 
das Prineip der Gleichheit zur Grundlage haben müflen. 

„Refolvirt, dag die Bedachungen derfelben Eönigliche Aus⸗ 
zeichnungen feien und fich durchaus nicht für Republikaner ziemen, 
am wenigften aber für republikanifche Meetinghäufer. 

„Reſolvirt, daß die Religion den Snftitutionen eines Lan- 
des angepaßt werden follte, und daß eine republikanifche Regie⸗ 
rungsform auch eine republifanifche Religionsform verlangen dürfe; 
dag wir ferner in den privilegirten Sitzen eines Gotteshaufes die 
Grundjäße der Freiheit nicht zu erkennen vermögen.” 

„Diefe Refolution kann als Eommentar zu dem dienen, was 
leßter Zeit fo viel durch die Zeitungen in Umlauf gefebt wurde, 
rief Mary Warren rafh. „Man hat zur Empfehlung gewiſſer 
Sekten die Behauptung aufgeftellt, daß ihr Kirchenregiment und 
ihre Dogmen in weit größerer Harmonie mit dem Republifanismus 
flünden, als gewiffe andere, die unferer Kirche miteingefchloffen.” 

„Man follte glauben,” entgegnete ih, „wenn diefe Gleiche 
fürmigfeit eine Empfehlung fein follte, müßte es die Pflicht 
der Menfchen fein, die Inftitutionen in Einklang mit der Kirche 


N 


992 


zu bringen, nicht aber die Kirchen nach den Inſtitutionen zu 
mobeln.” 

„Ja, aber heutzutage pflegt man nicht in dieſer Weife zu 
fließen. In religiöfen Dingen fpekulirt man eben fo gut, wie in 
anderen, auf Borurtbeile. 

„Refolvirt,” fuhr id fort zu lefen, „daß General Cornelius 
Littlepage, als er In dem St. Andrews⸗Meetinghaus zu Ravens⸗ 
nef ein Dach über feinen Kirchenftuhl feßte, mehr im Einklang 
mit dem Geift eines vergangenen Jahrhunderts, : als im Geift der 
gegenwärtigen Zeit gehandelt hat — daß wir daher den Fort⸗ 
beſtand befagten Daches als eine ariftofratifche Anmaßung von 
Beflerfeinwollen betrachten — als eine Anmaßung, die dem Cha⸗ 
rakter der Regierungsform widerfpricht, die Freiheit beleidigt und 
als Beifpiel gefährlich wirkt." 

„Dieß tft in der That zu ſchlimm,“ rief Patt mit innerlichem 
Merger, obfchon file nicht umhin Eonnte, über die maßlofe Albernheit 
der Refolutionen und alles deſſen, was damit in Verbindung fland, 
zu lachen. Der theure, freifinnige Großpapa, der für diefelbe 
Freiheit, um der willen diefes Volk ein folches Gefchrei erhebt, 
foht und blutete — ja, der in Bildung der Inftitutionen, welche 
folhe Leute gar nicht einmal verftehen, fondern im Gegentheil 
ohne Unterlaß verlegen, mitichaffen half, wird hier befchuldigt, er 
babe felbft die Grundfäge, die bekanntermaßen Die feinigen waren, 
nicht befolgt!” 

„Kehre dich nicht daran, meine Liebe. Es find nur noch 
drei Refolutionen übrig und wir wollen fie hören.“ 

„Refolvirt, daß wir einen augenfälligen Zufammenhang 
ſehen zwifchen gefrönten Häuptern, Adelspatenten, bedachten Kirchen⸗ 
fühlen, Perfonal-Auszeichnungen, Lehend-Berhältnifien, Grund» 
berren, Tagwerten, Zinshühnern, Bürgfchafts-Berkäufen, Pacht⸗ 
verträgen auf drei Lebensdauern und Menten. 

„Refolvirt, dan wir der AED, won Spin 





353 


von Scheunen fie aus was immer für einem Grunde zerflört zu 
fehen wünfchen,, fo follen fie Mittel wählen, welche die Nachbar⸗ 
ſchaft weit weniger in Schreden fegen, als das Inbrandfleden der- 
felben, aus welchem zudem noch fich taufend Gerüchte und Beichul« 
Digungen erheben können, die durchaus aller Wahrheit entbehren. 

„Refolvirt, daß eine ſaubere Abſchrift von dieſen Refolu- 
tionen gefertigt und ein Exemplar davon einem gewiffen Hugh Ro= 
ger Littlepage, Bürger von Ravensneft in der County Waſhington, 
überliefert werden folle; ferner, daß Peter Bunce, Esquire, John 
Mowatt, Esquire, und Hefekia Trott, Esquire, das Comite bilden 
follen, welches für Vollziehung dieſes Akts Sorge trägt. 

„Hierauf wurde. das Meeting vertagt sine die. Onefiphorus 
Hayden, Präfident; Pulaski Todd, Secretär.” 

„Hu — u — u — i!“ pfiff ich. „Da iſt Bulver genug für 
“ein zweites Waterloo.” 

„Was will die lebte NRefolution befagen, Mr. Littlepage?* 
fragte Mary ängftlih. „Ich meine die, welche von Scheunen 
ſpricht.“ 

„Sicherlich liegt in dieſer ein verborgener Sinn, der ſeinen 
Stachel hat. Wollen die Schurken am Ende gar damit andeuten, 
ich hätte meine Scheune in Brand ſtecken laſſen?“ 

„Wenn dieß der Fall wäre, ſo wäre es die nämliche Geſchichte, 
die fie mit jedem Grundherrn, welchen fie zu berauben gedachten, 
verfucht Haben,” ergriff Patt mit Eifer das Wort. „Berleumdung 
ſcheint eine natürliche Waffe derjenigen zu fein, welche ihre ganze 
Macht nur der Berufung an die Maffen verdanken." 

„Sch finde dieß ganz natürlich, meine theure Schwefter, denn 
unter dem Volk wirken VBorurtheile und Leidenfchaften als eben fo 
mächtige Hebel, wie Vernunft und Thatfachen. Doch um diefer 
Schmähung willen fol Nachfrage gehalten werden. Wenn ich 
herausbringe, daß dieſe Menfchen wirklich ein Goechbek in UR 
zu fegen wünfcpen, ic habe meine eigene Scheune in Brad Wim 


554 


laſſen — doch pah, 's it am Ende heller Unfinn. Haben wir 
nicht gegenwärtigen Augenblid8 den Reweome und jenen andern 
Schurken in Haft, weil fie verfuchten, mein Haus anzuzimden ?" 

„Verlaßt Euch hierauf nicht allzu zuverfihtlih, Mr. Littles 
page,“ ergriff Mary mit einer Beforgtheit das Wort, fo daß ih 
mid, nothwendig fehr dadurch gefchmeichelt fühlen mußte. „Mein 
theurer Vater fagt mir, er habe viel von feinem Vertrauen zu der 
Unſchuld verloren, obſchon Einer über ung ſei, der alle menfchlichen 
Shwähhen richten werde. Eben diefes Gerücht Tönnte abfichtlih 
in Umlauf gefebt werden, um Eure Anklage gegen die zwei Mord 
brenner, die Ihr auf der That ergriffen habt, zu verdächtigen. 
. Bergeßt nicht, wie viel in der ganzen Sache von Eurem eigenen 
Zeugniß abhängt.“ 

„Ich werde das Eurige zur Unterflügung haben, Miß Warren, | 
und der Gefchworene ift noch nicht im Leben, der Anftand nehmen 
würde, das zu glauben, was Ihr bezeugt. Doch wir nähern uns 
dem Haufe. Wir wollen nicht mehr über den Gegenftand reden, 
damit die liebe Großmutter nicht befümmert wird." 

Im Neft fanden wir Alles ruhig, und von den Rothhäuten 
war keinerlei Bericht eingelaufen. Ihnen galt der Sonntag wie 
jeder andere Tag, mit der einzigen Ausnahme, daß fie während 
ihres Aufenthalts in den Anfledlungen aus Achtung vor unfern 
Gewohnheiten fih ruhig verhielten. Einige Schriftfteller find der 
Meinung, die ureingeborenen Amerikaner feien Abkömmlinge von 
den verlorenen Stämmen Iſraels; mir aber fcheint es, daß ein 
folches Volt, wenn es für fich lebte und frei blieb von fremden 
Einfluß, nothwendig die Tradition vom jüdiichen Sabbath hätte 
bewahren müflen. Dem ſei übrigens, wie ihm mag — Sohn kam 
uns an der Thüre, die wir unmittelbar nach meinem Onkel und 
der Großmutter erreicht hatten, entgegen und machte uns Die 
Meldung, daB, fo viel er wifle, in den Farmgebäuden Alles 


ruhig fei. 


555 


„Sie haben in der legten Nacht genug gekriegt, Mr. Hugh; 
ich denke, fie find mittlerweile dahinter gefommen, daß es befler jet, 
im eigenen Kochofen ein Feuer anzuzünden, als zu kommen und 
den Boden von eines Gentlemensd Küche zum Feuerherd zu machen. 
Ich Habe immer gehört, daß fich die Amerifaner lieber mit den 
Engländern, als mit den Srifchers vergleichen wollten, mir aber 
fcheint’s, fie werden dem wilden Volk aus Irland, von dem wir in 
London fo viel zu hören Friegten, mit jedem Tag ähnlicher. Euer 
geehrter Vater, Sir, würde es nie geglaubt haben, daß in diefe 
feine eigene Wohnung naͤchtlicher Weile Leute, die ſogar ſeine Nach⸗ 
barn find, kommen und wie ächte Nemgate-Vögel Mordbrennerei 
verſuchen könnten. Wenn ich nur daran denke, Mr. Hugh, — 
dieſer Squire Newcome, wie er ſich nennt, iſt ein Attorney und 
hat oft hier im Neſt zu Mittag gefpeist. Ich ſelbſt bot ihm wohl 
fünfzigmale den Euppenteller, den Fiſch und den Wein, juft als 
ob er ein Gentleman wäre, und auch feiner Schwefter, der Miß 
Dpportunity. Da Eommen fie denn her, um in flodfinfterer Mit- 
ternacht das Haus anzuzünden.” 

„Ihr thut Miß Opportunity Unrecht, denn ſie wenigftend hat 
mit der Sache nichts zu ſchaffen gehabt.” 

„Na, Sir, heutzutag kann Niemand etwas gewiß wiſſen. Doch 
was ſeh' ich — entweder werden meine Augen ſchwach, oder dort 
iſt die junge Dame, von der wir ſprechen, ſelbſt!“ 

„Eine junge Dame? wo? — Ihr könnt doch wahrhaftig nicht 
DOpportunity Newcome meinen?" 

„Sa wohl, Sir, und fie iſt's — daran fehlt's nicht. Wenn 
dieß nicht Miß Opportunity ift, fo iſt der Gefangene, welchen die 
Wilden im Keller des alten Farmhauſes eingefperrt haben, auch 
nicht ihr Bruder.” 

Sohn hatte recht. Opportunity fland in demfelben Pfad und 
auf der nämlihen Stelle, wo fie die Nacht vorher meinen 
Bliden entfchwunden war. Es war da, wo der Pfad in den be⸗ 


556 


waldeten Hohlweg überging, und die Anfleigung hatte fie uns fo 
weit verborgen, daß wir nur den Kopf und den oberen Theil ihres 
Leibes unterfcheiden Eonnten. Das Mädchen hatte fich nur fo weit 
gezeigt, um meine Aufmerkjamteit auf fih zu ziehen. Sobald ihr 


dieß gelungen war, ging fie wieder einige Schritte rückwärts und ' 


entzog ſich dadurch unfern Blicken. Ich winkte John, er folle über 
das, was vorgegangen war, jchweigen, ſprang die Treppe hinunter 
und ging auf den Hohlweg zu, vollfommen überzeugt, daß ich er⸗ 
wartet wurde, wenn ich gleich nicht mit mir im Reinen war, ob 
nicht diefer Befuch weiteres Unheil bedeute. 

Die Entfernung war fo kurz, daB ich bald den Rand dei 
Hohlwegs erreichte; aber als ich daſelbſt anlangte, war Oppor⸗ 
tunity verfchwunden. In dem Didicht konnte fie fich Leicht verber⸗ 
gen, und es war möglich, daß fie fi nur einige Schritte von mir 
befand, weshalb ich weiter abwärts ging, um zu erfahren, was fe 
wollte. Ich muß zwar fagen, daß mir dabei ein Strahl dei 
Argwohns durch den Kopf ſchoß; er verlor ſich jedoch bald in 
der neugierigen Erwartung, was wohl das Mädchen hieher geführt 
haben konnte. 

Ich glaube, es ift bereits audeinandergefeßt worden, daß auf 
diefem Theile des Raſens eine tiefe fchmale Schluht im Walde 
gelaffen worden war, und daß man den Pferdepfad, welcher nad 
dem Dorf hin ging, abfichtlich durch diefelbe geführt hatte. Der 
Waldſtrich mochte etwa drei oder vier Acres im Umfang haben, 
folgte dem Lauf des Hohlweges bis nach den Wiefen hin und ent 
hielt drei oder vier ländlihe Sie zur Benügung während der 
wärmeren Monate. Da Opportunity alle Bindungen und Ber 
ſchlingungen des Plabes kannte, jo hatte fie fich in die Nähe eines 
Diefer Sie begeben, der im dichteften Gebüfch, dabei aber dem 
Hauptpfad fo nahe ftand, daß fie mich wiffen laſſen Eonnte, wo fie 
war. Als mein Tritt ihr fagte, daß ich näher Fam, rief fle leife 
meinen Namen. Ich fprang auf den Nebenweg hinüber und 


997 


befand mich im Ru an ihrer Seite. Ich glaube, daß das Mädchen, 
nun ihre Abficht fo weit gelungen war, auf den Sitzz niederfanf, 
weil fie nicht mehr zu ftehen vermochte. 

„Dh, Mr. Hugh!" rief fie mit einem fo natürlichen Ausdrude 
von Bekümmernig in ihrem Gefichte, wie man ihn an’ihr fonft 
-nicht zu fehen gewohnt war. „Sen — mein armer Bruder Sen! 
Bas habe ich gethan! Was habe ich gethan!“ 

„Wollt Ihr mir offen einige Fragen beantworten, Miß Oppor⸗ 
tunity? Ich gebe Euch mein Wort darauf, daß Eure Erwiede- 
rungen nie zu Eurem oder der Eurigen Nachtheil benüßt werden 
follen. Es handelt ſich um eine jehr ernſtliche Angelegenheit, die 
ohne allen Ruckhalt beſprochen werden ſollte.“ 

„Euch will ich auf Alles antworten — auf jede Frage, die 
Ihr mir vorlegen mögt, felbft wenn ich dabei ſchamroth werden 
müßte. Aber,” fügte fie bei, indem fie ihre Hand vertraulich, um 
nicht zu fagen, zärtlich auf meinen Arm legte — „warum müffen 
wir für einander Mifter Hugh und Miß Opportunity fein, nach⸗ 
dem wir fo lange Hugh und Op gewefen find? Nennt mich wieder 
Op, und ich werde die Meberzeugung daraus gewinnen, Daß die 
Ehre meiner Familie und die Wohlfahrt des armen Sen unter der 
Obhut eines treuen Freundes find.” 

„Niemand kann hiezu bereitwilliger fein, als ich, meine theure 
Op, und ich werde recht gerne wieder Euer Hugh. Ihr fein übri— 
gend doch von Allem unterrichtet, was vorgegangen iſt? 

„Ja — ja wohl, die furchtbare Kunde iſt bis zu uns gelangt, 
und die Mutter ließ mir keinen Augenblick Ruhe, bis ich mich wie⸗ 
der hinausſtahl, um mit Euch zu ſprechen.“ 

„Wieder? — ſo war alſo Eure Mutter von dem Beſuch der 
letzten Nacht unterrichtet?“ 

„Ja, ja — fie weiß Alles und hat mir dazu gerathen.“ 

„Eure Mutter iſt eine ſehr gedankenvolle und kluge Frau,“ 
entgegnete ich, in meine Lippen beißend, „und ih muß erſt hinten⸗ 


598 - 


. brein erfahren, wie tief ich ihr verpflichtet bin. Euch, Opportunity, 
verdanke ich die Erhaltung meines Haufes und vielleicht auch die 
Rettung des Lebens Aller, die meinem Herzen theuer ſind.“ 

„But; dieß ift jedenfalls Etwas. Es gibt Kein Leid, das 
nicht auch feinen Troft mit fih führte. Ihr müßt übrigens wiflen, 
Hugh, daß ich nie glaubte oder glauben Eonnte, Sen felbft werde 
fo ſchwach fein, um fi in Perfon bei einem folchen Unternehmen 
zu betheiligen. Es war nicht erft nöthig, Euch zu fagen, daß in 
dieſen Antirentenzeiten Feuer und Schwert das Gefeb find, und 
im Allgemeinen genommen ift Sen ein fehr kluger und vorfichtige 
Menſch. Lieber hätte ich mir die Zunge abgebiffen, ehe ich dara 
gedacht hätte, meinen eigenen Bruder in eine fo graufame Klemm 
zu bringen. Nein, nein — Ihr müßt Feine fo üble Meinung von 
mir haben, daß Ihr glauben könntet, ich fei gefommen, meinen 
Bruder zu verrathen.” 

„Es if genug, daß ich weiß, wie viel Mühe Ihr Euch gabt, 
um mich vor Gefahr zu warnen; eben deßhalb iſt es mir auch um 1 
möglich, in Euch etwas Anderes, als eine Freundin zu fehen. 

„ah, Hugh, wie glüdlich und froh waren wir Alle noch vor 
einigen Jahren — das heißt vor der Zeit, als die Miß Coldbrookes, 
Miß Marstons und Mary Warrens in die Gegend famen. Da: 
mals freuten wir ung gegenfeitig unfrer Gefellfhaft, und ich hoffe, 
diefe Zeiten werden wiederfehren. Wenn Miß Martha fi nur an 
ihre alten Freundinnen hielte, ftatt neuen nachzulaufen, fo würde 
Ravensneſt bald wieder Ravensneft fein." 

„Unmöglich Könnt Ihr es tadeln wollen, daß meine Schweſter 
ihre Sreundinnen liebt. Sie ift mehrere Jahre jünger als wir, 
and Ihr werdet Euch erinnern, daß fie vor ſechs Sahren kaum alt 
genug war, um unfere Gefährtin zu fein.“ 

Opportunity war jo gnädig, ein wenig zu erröthen, denn fie 
hatte ſich Patts blos als eines Deckmantels bedient, um ihren An- 
griff auf mich machen zu Eönnen, fintemal fie fo gut als ich wußte, 


559 


dag meine Schwefter mindeftens fieben Jahre jünger war, als fie 
ſelbſt. Diefes Gefühl nahm fie jedoch nur für einen Augenblid 
in Anfpruh, und im nächften ging fie auf den eigentlichen Zwed 
ihres Beſuchs über. | 

„Bas foll ich meiner Mutter jagen, Hugh? — ich weiß, Ihr 
werdet Sen wieder Ioslaflen!” 

Sch ftellte jebt zum erften Mal Erwägungen über die Bedenk⸗ 
lichkeiten des Falls an und muß fagen, daß es mich jchwer ankam, 
die Mordbrenner entwifchen zu laſſen. 

„Die Thatfachen müſſen bald durch die ganze Stadtmarkung 
befannt werden,” entgegnete ich. 

„Hievon habt Ihr nichts zu beforgen, denn ſie find bereits 
ſchon ziemlich befannt. Alle Welt muß zugeben, daß zu Ravens⸗ 
neft Neuigkeiten im Flug fich verbreiten.” 

„Sa, wenn dieß nur auch der Wahrheit gemäß geichieht. Aber 
nad einem folchen Vorfall kann Euer Bruder kaum mehr bier 
bleiben.” 

„Ah Himmel, wie mögt Ihr auch fo Iprechen! Wenn nur 
das Geſetz ihn ungefchoren läßt, wer wird fich dann wegen dieſer 
Sache weiter um ihn kümmern? Ihr habt nicht lange genug 
in der Heimath gelebt, fonft würdet Ihr willen, daß in diejen 
Antirentenzeiten die Leute fih aus dem Anzünden eines Haufes 
nicht halb fo viel machen, als über einen Gutseingriff unter 
dem altmodifchen Geſetz. Die Antirenterei ändert den ganzen 
Geiſt.“ J 

Wie vollkommen richtig war dieß! Und wir haben junge Men⸗ 
ſchen unter uns, die ihr Leben vom zehnten bis zum achtzehnten 
und zwanzigſten Jahr in einem Zuſtand der Geſellſchaft verbrach⸗ 
ten, welcher faſt hoffnungslos dem verderblichen Einfluß der 
ſchlimmſten Verlockungen preisgegeben iſt. Es darf Niemand Wun⸗ 
der nehmen, daß man Mordbrennerei für ein verzeihliches Vergehen 
zu betrachten anfängt, wenn das fittliche Gefühl einer Gemeinfchaft 


560 


fo ganz aus den Augen geriffen ift und die Knaben unter Anfid- 
ten, die aller Gerechtigkeit und Sicherheit Hohn fprechen, zum 
Mannesalter heranreifen. 

„Das Geſetz ift übrigens nicht ganz fo gefügig, wie das 
„Volt. Es wird kaum geftatten, daß Mordbrenner urgeftraft 
davon kommen, und es dürfte deshalb nöthig fein, daß Euer 
Bruder aus dein Rande fliehe.” 

„Was liegt daran? Viele gehen fort und bleiben eine Zeit 
lang aus. Dieß ift immerhin beffer, ald nad den Norden zu 
wandern und in dem neuen Gefängniß zu arbeiten. Ich fürchte 
durchaus nicht, daß Sen mit dem Strid beftraft werden Tönnte, 
denn gegenwärtig ift in dieſem Lande Feine Zeit zum Hängen; im 
merhin wäre e8 doc ein wenig fchimpflich für die Kamilie, wenn ' 
eines ihrer Mitglieder im Staatsgefängniß fäße; Daß obendrein die 
Strafe nicht von langer Dauer fein könnte, dieß feht Ihr fo gut 
ein, wie ih. Wegen lauter Antirenterei find ſchon Menfchen er- 
mordet worden; will man aber die Thäter zur Strafe ziehen, — 
du mein Himmel, dann erheben Senatoren und Aſſemblymänner 
ein folches Gefchrei, daß man, wenn's noch lange fo fortgeht, eine 
weit größere Ehre darein feßen wird, wegen Erjchießen eines Frie⸗ 
densbeamten in's Gefängniß zu kommen, als wegen Unterlafjung 
einer folchen That außen zu bleiben. Mit dem Gerede ift Alles 
abgethan, und wenn das Volk Luft hat, etwas ehrenhaft zu 
machen, fo braucht es nur oft genug davon zu fprechen, und 
der Zweck ift erreicht." 

Dieß waren die Anfichten von Miß Opporty Newcome über 
die neumodifche Moral — und kann man jagen, daß ſie fehr Un- 
recht hatte? Ich lächelte über die Art, wie fie den Gegenfland be 
handelte, obgleich in ihrer Denkweife ein hausbadener praftifcher 
Menfchenverftand lag, der vielleicht nachdrüdlicher wirkte, als dieß 
bei Zugrundlegung eines gebildeteren und WBoxß& usterkheibenden 

Goderes der Zall geweien wir. Si oh Te Bar in on 


561 


Geftchtspuntte, wie fie waren, und eine folche Auffaffung hat ftets 
etwas für ſich. 

Was mich betraf, fo hätte ich in dieſer unglüdlichen Brand- 
ftiftungs-Gefchichte wohl gerne auf Opportunity Rüdficht genom- 
men, weil ſich das Mädchen ftets hätte fchwere Vorwürfe machen 
müffen, wenn fie fi in einem Lichte erfchien, als habe fie zu dem 
BVerderben ihres Bruders einen fo wefentlichen Beitrag geleiftet. 
Allerdings fteht ein Schelm heutzutage nicht in jonderlicher Gefahr 
gehangen zu werden, und Senefa war nicht genug Gentleman, ob- 
ſchon er viel auf diefen Zitel hielt, als daß er für feinen Hals hätte 
fürchten müffen. Wäre ein Grundbefiger darüber ertappt worden, 
wie er auf dem Küchenboden eines feiner Pächter Feuer anzündete, 
fo hätte ficherlich der Staat zu deſſen Hinrichtung nicht Hanf genug 
erzeugen fönnen; wenn man aber einen Pächter über der That 
erwifchte, jo war dieß etwas ganz Anderes, ch Tonnte nicht 
umbin, mich felbft zu fragen, wie viele von den „ehrenwerthen 
Gentlemen” zu Albany fih für mich verwendet haben würden, 
wenn ich der Uebelthäter gewejen wäre; denn dieß ift einmal die 
rechte Art, an den „Geift der Inftitutionen”, oder vielmehr, wie 
ich ebenfogut das Recht zu behaupten habe, an „ihren Geiſt“ zu 
fonımen, weil ſich's doch einmal um Unerträglichkeit der Pachte 
Berhältniffe mit demfelben handelt; denn die Geſetze und Inftitu- 
tionen an fih haben mit ihm nichts zu fchaffen, fondern flehen ihm 
gerade fo fchroff entgegen. 

Die Refultate meiner Zufammenfunft mit Opportunity beflan- 
den darin, daß ich erftlich mein Herz juft da erhielt, wo es anfänge 
lic) gewefen war, wenn ſchon ich nicht ganz überzeugt bin, ob ich 
ed mit Recht mein Eigenthbum nennen Eonnte, zweiteng — daß 
mic) die junge Dame ſehr beruhigt in Betreff der Ehre der New- 
comes verließ, obichon ich Sorge dafür trug, mic wit dad in 
ihre Macht zu geben, daß ich ihr eine Bemöntelung des Bed&xx&d v 

zufagte; drittens — daß ich die Schweſter einlud, heut HD 
Ravensneft. —X 


992 


zu bringen, nicht aber die Kirchen nach den Snftitutionen zu 
modeln.“ 

„Sa, aber heutzutage pflegt man nicht in Diefer Weife zu 
fliegen. In religiöfen Dingen fpekulirt man eben fo gut, wie in 
anderen, auf Borurtheile. 

„Reſolvirt,“ fuhr ich fort zu Iefen, „daß General Eornelius 
Littlepage, als er in dem St. Andrews-Meetinghaus zu Ravens- 
neft ein Dach über feinen Kirchenftuhl feßte, mehr im Einklang 
mit dem Geift eines vergangenen Jahrhunderts, als im Geift der 
gegenwärtigen Zeit gehandelt hat — daß wir daher den Fort- 
beftand befagten Daches als eine ariftofratifche Anmaßung von 
Beflerfeinwollen betrachten — als eine Anmaßung, die dem Cha⸗ 
rakter der Negierungsform widerfpricht, die Freiheit beleidigt und 
als Beifpiel gefährlich wirkt." 

„Dieß ift in der That zu ſchlimm,“ vief Patt mit innerlichem 
Aerger, obſchon fie nicht umhin Eonnte, über die maßlofe Albernheit 
der Refolutionen und alles deffen, was damit in Verbindung fland, 
zu lachen. Der theure, freifinnige Großpapa, der für diefelbe 
Freiheit, um der willen diejes Volk ein folches Gejchrei erhebt, 
focht und blutete — ja, der in Bildung der Inſtitutionen, welche 
folche Leute gar nicht einmal verftehen, fonderın im Gegentheil 
ohne Unterlaß verlegen, mitfchaffen half, wird hier befchuldigt, er 
habe felbft die Grundfäße, die bekanntermaßen die feinigen waren, 
nicht befolgt!" 

„Kehre dich nicht daran, meine Liebe. Es find nur noch 
drei Nefolutionen übrig und wir wollen fie hören.“ 

„Reſolvirt, daß wir einen augenfälligen Zufammenhang 
ſehen zwifchen gefrönten Häuptern, Adelspatenten, bedachten Kirchen» 
fühlen, Perfonal-Auszeihnungen, Lehens-Verhältniffen, Grund» 
berren, Tagwerken, Zinspühnern, Bürgſchafts-Verkäufen, Pacht⸗ 
verträgen auf drei Lebensdauern und Menten. 

„Reſolvirt, daß wir der Anficht find, wenn Eigenthümer 


553 


von Scheunen fie aus was immer für einem Grunde zerftört zu 
ſehen wünſchen, fo follen fie Mittel wählen, welche die Nachhar= 
ſchaft weit weniger in Schreden feßen, als das Snbrandfteden der= 
jelben, aus welchem zudem noch fich taufend Gerüchte und Befchuls 
Digungen erheben Eönnen, die durchaus aller Wahrheit entbehren. 
| „Refolvirt, daß eine faubere Abfchrift von diefen Refolu- 
tionen gefertigt und ein Eremplar davon einem gewiffen Hugh Ro⸗ 
ger Littlepage, Bürger von Ravensneft in der County Wafhington, 
überliefert werden folle; ferner, daß Peter Bunce, Esquire, John 
Mowatt, Esquire, und Heſekia Trott, Esquire, das Comite bilden 
follen, welches für Vollziehung diefes Akts Sorge trägt. 

„Hierauf wurde. das Meeting vertagt sine die. Onefiphorus 
Hayden, Präfident, Pulaski Todd, Secretär. " 

„Hu — u — u — i!“ pfiff ich. „Da iſt Pulver genug für 
ein zweites Waterloo.” 

„Was will die letzte Refolution befagen, Mr. Littlepage?“ 
fragte Mary ängftlih. „Ich meine die, welche von Scheunen 
Tpricht. 

„Sicherlich Liegt in diefer ein verborgener Sinn, der feinen 
Stachel hat. Wollen die Schurfen am Ende gar damit andeuten, 
ich hätte meine Scheune in Brand ſtecken laſſen?“ 

„Denn dieß der Fall wäre, fo wäre es die nämliche Gefchichte, 
die fie mit jedem Grundherrn, welchen fie zu berauben gedachten, 
verſucht haben, " ergriff Patt mit Eifer das Wort. „Verleumdung 
ſcheint eine natürliche Waffe derjenigen zu fein, welche ihre ganze 
Macht nur der Berufung an die Maffen verdanken. " 

„sch finde dieß ganz natürlich, meine theure Schwefter, denn 
unter dem Volk wirken Borurtheile und Leidenfchaften als eben fo 
mächtige Hebel, wie Vernunft und Thatfachen. Doch um diefer 
Schmähung willen fol Nachfrage gehalten werden. Wenn ich 
herausbringe, daß diefe Menfchen wirklich ein Gerücht in Umlauf 
zu jegen wünfchen, ich habe meine eigene Scheune in Brand ſtecken 


564 


zum Morgen mich eined geſunden Schlafes erfreute. Onkel Ro 
theilte meine philofophifche Stimmung, und wir ermuthigten uns 
gegenfeitig darin durch ein kurzes Gefpräch, das, ehe wir ung zur 
Ruhe begaben, in feinem Zimmer ftattfand. 

„Ich bin ganz deiner Anfiht, Hugh," fagte mein Onkel in 
Erwiederung auf eine meiner Bemerkungen; „es führt zu nichts, 
wenn wir und Aber Mipftände abhärmen wollten, deren Befeitigung 
nit in unfrer Macht liegt. Werden wir niedergebrannt und 
unferes Eigenthums beraubt, nun fo fei'8 drum, in Gottesnamen 
— ih habe ein hübfches Kapital in Europa angelegt, und wenn 
das Schlimmfte zum Schlimmen kömmt, fo Eönnen wir Alle davon 
leben, obfchon es dann ein wenig knapp hergeben wird.“ 

„Es if ſehr auffallend, aus dem Munde eines Amerika 
nerd zu hören, daß er in der alten Welt feine lebte Zuflucht 
ſuchen wolle." 

„Es wird oft genug vorkommen, wenn’s in fo lufliger Weiſe 
fortgeht, wie feit den leten zehn Zahren. Bisher haben die Rei- 
hen von Europa auf die Zeit der Noth ihre Sparpfennige für 
Amerika aufbewahrt, aber wenn nicht bald ein großer Wechſel ein- 
tritt, werden wir's eheftens erleben, daß die reichen Amerikaner das 
Compliment aufs freundlichfte heimgeben. In vielen Beziehungen 
find wir weit übler daran, als wenn wir ung in einem Zufland der 
Natur befänden; denn uns find die Hände durch die Verantwort⸗ 
lichkeit gebunden, die an unferer Stellung und an unfern Mitteln 
haftet, während unfere Gegner blos dem Namen nach unter einem 
Zügel ftehen. Die Magiftratsperjonen machen fie aus Leuten, 
welche ganz in ihrem Intereſſe ftehen, und ebenfo wählen fie auch 
die Sherifs, welche für die Vollſtreckung der Gefebe zu ſorgen 
haben. Der Theorie nach ift das Volk tugendhaft genug, um alle 
dieſe Pflichten gut zu erfüllen, aber leider ift feine Clauſel für den 
Fall vorhanden, in welhen dos Bot uiiliuemikt en masse 


auf Irrwege geräth.” 


965 


„Bir haben doch Gouverneure und Herren zu Albany, Sir?" 

„sa wohl haben wir Gouverneure zu Albany, aber gerade 
diefe find die ſchlimmſten Knechte! Seit dem Auftauchen diefes 
hölliſchen Geiftes ift freilich die Zeit dahin, daß eine klare männ- 
liche, energifche und grundfapfefte Proclamation, vom Gouverneur 
diefes Staats erlaffen, allein hingereicht hätte, alle beffern Gefühle 
des Gemeinwefend zu weden und dem gegenwärtigen Unfug zu 
fleuern; immerhin aber wäre Einiges Dadurch erzielt worden — 
Doch auch diefe Heine Huldigung, dem Rechte gegenüber, wurde 
ung verweigert. Auch fehe ich keiner Aenderung entgegen, bis wir 
dieſe doppelt deftillirten Patrioten fallen Iaffen und bei der Be- 
feßung wichtiger Aemter wieder zu den altmodijchen Gentle- 
men mit ihren gediegenen Grundfäßen greifen. Der Himmel 
bewahre mich vor den ertratugendhaften, patriotifchen und er- 
leuchteten Bürgern, denn von diefen ift noch’ nie etwas Gutes 
ausgegangen.” 

Es ift, denke ih, das Hügfte, Sir, wir halten uns darauf 
gefaßt, das Schlimmfte über uns ergehen zu laffen, denn wir find 
in unfern Inſtitutionen bei dem Reaktionspunkt angelangt. Meine 
Drehpiftole iſt immer mit gutem Zündkraut verſehen, und bei ſol⸗ 
cher Vorſorge hoffe ich, wenigſtens nicht lebendig verbrannt zu 
werden.“ 

Nachdem wir uns noch eine Weile länger unterhalten hatten, 
trennten wir und und fuchten unfere Pfühle; auch kann ich fagen, 
daß ich in meinem ganzen Zeben nie fo trefflch geſchlafen hatte, 
wie in jener Nacht. Wenn ich auch um meine Habe kam, ſo war 
es andern ſchon eben fo ergangen, ohne daß fie fich darüber zu 
Tode grämten — und warum follte ich mich nicht darein finden 
können? Allerdings waren jene andern hauptjächlich Opfer foge- 
nannter Zyra.aen, zum Theil aber doch auch folche, welche durch 
den Pöbel ihre Habe verloren hatten. So zum Beiſpiel agrietien 
in Frantreich taufende an den Betteltab duch, die yaltühen Este 


566 


fiscationsatte der Menge, und Zaufende bereicherten fih an dem 
unrechtmäßigen Gewinn, indem fie das Unglüd ihrer Umgebung 
auszubeuten wußten; was alfo dort geihah, war auch hier wieder 
möglih. Hochtönende Worte weiß der VBernünftige wohl zuredt- 
zulegen, denn Niemand wird dadurch auch nur um ein Haar freier, 
weil er mit feiner Freiheit groß thut, und ich follte num erfahren, 
daß man ſtets am tiefften verleßt wird, wenn das Unrecht von den 
Maffen ausgeht. Mögen fie auch fonft nicht fehr zu derartigen 
Verbrechen geneigt fein, fo find fie doch ebenfowenig unfehlbar, 
als einzelne Individuen. — In diefer philofophifchen Stimmung 
befchlic mich der Schlaf. 

ALS ih am andern Morgen erwachte, jah ich neben meinen 
Bette Sohn ftehen, der eben zuvor die Läden geöffnet hatte. 


„Wahrhaftig, Mr. Hugh," begann der wohlmeinende, aber 
bisweilen nur allzu dienfteifrige Diener, „ich weiß nicht, wie weit's 
noch zu Ravensneft kommen wird, wenn der böfe Geift unter den 
Bewohnern mehr und mehr um fich greift.” 

„Stille, file, John — was Ihr einen böfen Geift nennt, if 
nur der „Geift der Inftitution‘, und diefer verlangt Ehrerbietung, 
nicht aber üble Nachrede." 

„Ei, Sir, ich weiß nicht, wie fie ihn nennen, Denn man 
fpriht Hier fo viel von den nflitutionen des Landes, ohne 
daß ich begreifen Tann, was fie damit wollen. An meinem 
legten Plab im Weftende von London wohnte ich in der Nähe 
einer Inſtitution,“ — der arme John wollte vermuthlich Ins 
flitut fagen — „und da Ternten die jungen Herrn lateinifch und 
griechifch ſprechen und fchreiben. Die amerikanifchen Inſtitu⸗ 
tionen aber müfjen für Leute berechnet fein, die vom Latein 
ebenfowenig wiflen, als ich, denn man thut bier dergleichen, 
als ob man fie aus dem Kundament Tome. Doch werdet 


Ihr's wohl glauben — tonnt “Sytd wor gan, Ik. Sum, 


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— —— m Ve nn a 


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daß⸗ „das Bolt in letter Nacht einen Vatermord begangen 
hat?“ 

„Dieß ſollte mich nicht Wunder nehmen, denn ſeit langer Zeit 
geht es mit einem Muttermord um, ſofern es nemlich das Land 
ſeine Mutter nennt.“ | | 

„'s iſt Ichrediih, Sir — 's iſt wahrhaftig ſchrecklich, wenn 
ein ganzes Volk ein ſolches vatermoͤrderiſches Verbrechen be- 
geht. Ich wußte wohl, daß Ihr Euch drüber entſetzen würdet, 
Mr. Hugh, und kam deßhalb her, um Euch davon in Kenntniß zu 
ſetzen.“ 

„Ich bin Euch für dieſe Aufmerkſamkeit ungemein verbunden, 
mein guter Freund, werde es Euch aber um ſo mehr Dank wiſſen, 
wenn Ihr einmal zur Sache übergehen wollt.“ 

„Recht gerne, Sir — von Herzen gern. Wozu ſollte es auch 
nützen, die Thatſache zu bemänteln? Er iſt hin, Mr. Hugh!“ 

„Wer iſt hin, John? — Sprecht nur dreiſt heraus, mein guter 
Freund; ich kann's ertragen.“ 

„Der Kirchenſtuhl, Sir, oder vielmehr das ſchoͤne Dach, das 
darüber angebracht war und ihm ein Ausſehen verlieh, gerade wie 
dem Sitz des Lordmayor in Guildhall. Ich habe dieſes Dach ge⸗ 
ehrt und bewundert, Sir, denn es iſt der eleganteſte Gegenſtand in 
dieſem Lande geweſen, Sir.“ 

„Was höre ih — fie haben es alſo wirklich zerſtoͤrt? Allem 
Anfchein nad ermuthigte und fpornte fie die Aeußerung einer öffent⸗ 
lichen Meinung, die in einem mit Präfidenten und Sekretär ver- 
fehenen Meeting proclamirt wurde, den Baldachin mit dem Beil 
abzutragen?” 

„sa wohl, Sir, und fie haben faubere Arbeit damit gemacht. 
Da fteht er jebt, bei Miller droben, über deſſen Schweinſtall!“ 

Dieß war fein ſehr heroifches Ende in der Laufbahn des an- 
ftößigen Baldachins; gleichwohi aber konnte ich nicht umhin, herz⸗ 
lich darüber zu lachen Sohn fühlte ſich durch" dieſe Keichttertiafett 


——w—w 


einigermaßen gefräntt, und entfernte fih bald, um mich meine 

Toilette felbf zu Ende bringen zu laffen. Ohne Zweifel würden 
viele von den ehrlichen Navensneftern ebenfofehr über Die Gleich⸗ 
gültigkeit, welche ich bei dem Geſchick des edlen SKirchenftuhls an 
den Tag legte, in Erftaunen gerathen fein, als John; aber fofern 
meine gefellfchaftliche Erhöhung oder vielmehr meine geſellſchaftliche 
Erniedrigung dabei in Brage kam, Tümmerte ich mich durchaus 
nichts um dieſes Anhängfel. Die Zerftörung deffelben ließ mid 
gerade fo, wie ich war, weder größer noch Eleiner, und wenn es 
eines Denkzeichens bedurfte, um die Welt wiffen zu Laffen, wer 
meine Vorfahren gewefen oder wer ich jelbft in diefem Augenblid 
war, fo reichte hierfür das Land felbft oder doch der Theil deffels 
ben, in welchem wir wohnten, vollfommen zu. Seine Gefchichte 
muß vergeffen oder verändert werden, ehe man fich über uniere 
Lage täufchen kann, obfchon aller Wahrfcheinlichkeit nach die Zeit 
fommen wird, wo irgend ein außerordentlich jublimirter Freund 
der Gleichheit auf den Gedanken geräth, alle Lichter der Vergan- 
genheit auszulöfchen, damit ja fein in der Gefchichte ausgezeichnes 
ter Name mehr Anftoß gebe, weil e8 noch andere Leute gibt, die 
ſich eines folchen Vermächtniffes nicht zu erfreuen haben. Mit 
Recht hält man den Familienſtolz für den verlegendften, weil man 
fi) dabei einer Sache rühmt, die auch nicht durch das mindefte 
perjönliche Verdienft errungen wurde, während Männer von den 
höchften perfönlichen Anfprüchen vielleicht ganz und gar eines Vor⸗ 
theils entbehren müflen, zu deſſen Genuß längſt. Verſtorbene ein 
Recht begründet haben. Was nun diejen Punkt betrifft, fo Laffen 
die Snftitutionen fowohl ihrem Buchftaben, als ihrem Geiſte nad 
möglichft die Gerechtigkeit walten, obſchon auch fie gendthigt find, 
einen der mächtigften Hebel ſolcher Auszeichnungen durch Die gefeb- 
Tiche Beftimmung aufrecht zu erhalten, daß fich das Befitzthum des 
Vaters auf das Kind vererbe. Wann wir Ulles recht und fo ha⸗ 
ben werden, wie es in diefem dem Kortfchritte huldigenden Land 


569. 


fein fol, weiß nur der Himmel, denn ich finde, meine Pächter legen 
ein großes Gewicht auf die Thatfache, dag ihre Väter Lände- 
reien für Generationen gepachtet haben, während fie nur gar zu 
gerne vergeffen, daß meine Väter dieſe ganze Zeit über die Ver- 
pächter waren. 

Die vier Mädchen traf ih auf der Piazza, wo fie fih in 
der Luft eines fo balfamifchen Sommermorgens ergingen, wie ihn 
eine wohlmollende Natur nur je befcheert hatte. Die Kunde über 
das Schickſal des Kirchenſtuhldachs war bereits bis an fie gelangt 
und übte, je nach ven Temperamenten, verſchiedene Wirkung. Hen- 
riette Coldbroofe lachte ganz unmäfig und in einer Weile darüber, 
die mir nicht gefiel, denn das helle Lachen einer jungen Dame 
befundet oft genug, daß man hinter einem folchen Frauenzimmer 
nicht viel mehr als Lachluft juchen dürfe. Ich halte zwar dem 
jugendlichen Geift und einer natürlichen Neigung, den Dingen eine 
Icherzhafte Seite abzugewinnen, Vieles zu gut; indeß muß ich doch 
jagen, daß es mich verleßte, über diefe Heldenthat des Antirentis- 
mus eine volle halbe Stunde hinter einander lachen zu hören. 
Anne Marstons Benehmen gefiel mir viel beffer. Sie lächelte 
zwar viel, und lachte eben genug, um zu zeigen, daß ihr die Sache 
jehr abgeſchmackt vorfam; dann aber befundete ihre Miene, dag fie 
fühlte, e8 handle fich bier um eine Rechts⸗-Verletzung. Was Patt 
betraf, fo war fie fehr entrüftet über diefen Schimpf, und fäumte 
auch nicht, ihre Anfichten auszufprechen. Die Art aber, wie Mary 
Warren den Vorfall beurtheilte, machte den angenehmften Eindrud 
auf mich, und ich muß fagen, daß es mir bei faft allen ihren 
Aeußerungen eben fo erging. Sie zeigte weder Leichtfertigfeit noch 
Verdruß. Ein- oder zweimal, wenn Henrietten eine drollige Be= 
merfung entwijchte, lachte fie ein wenig — aber nur ſehr wenig 
und ganz unwillkührlich, gerade genug, um zu beweifen, daß fie 
einen Scherz wohl zu würdigen verfland; dann aber warf fie eine 
Heine Bemerkung hin, des Inhalts, daß man weit mehr den Grund 


TU 


der Handlung, den ſchlimmen Geift, der im Lande walte, in's Auge 
faffen müfje, — man ſehe hier feine Wirkung, und dieſe müfle man 
zu Herzen nehmen. Niemand fchien fih um das Dach felbf zu 
kümmern, nicht einmal meine treffliche Großmutter, obfchon die 
Kirche zur Zeit ihrer jüngeren Jahre gebaut worden war, in welder 
derartige Auszeichnungen noch mehr in Einklange mit den Berhält- 
niffen ftanden, als ed heutzutage der Fall if. Ich Hatte mich eben 
lange genug auf der Piazza aufgehalten, um Zeuge von dem vers 
ſchiedenen Benehmen der Mädchen zu fein, als fi) meine Großmut- 
ter ung anfchloß. 

„O Großmutter, habt Ihr ſchon gehört, was dieſe elenden 

„Inſchens‘, wie man fie fo richtig bezeichnet, mit dem Baldachin 
unſres Kirchenſtuhls angefangen haben!“ rief Patt, welche eine 
Stunde vorher am Bett der ehrwürdigen Frau geſtanden und fi 
geküßt hatte. „„Er ift abgeriffen und über einem Schweinftall auf 
gepflanzt wor en! 
. Ein allgemeines Gelächter, in welches Patt felbft einftimmte, 
unterbrach für einen Augenblid die Antwort, und auch, die alte 
Mrs. Littlepage verrieth eine Eleine Neigung, dem Vorgange eine 
komiſche Seite abzugemwinnen. 

„Wohl habe id) davon gehört, meine Liebe,” entgegnete meine 
Großmutter, „und ich denke, wir können im Ganzen froh fein, daß 
wir jenes Daches los geworden find. E8 ift vielleicht heffer, daß 
wir es nimmer in der Kirche haben, obſchon es für Hugh nicht 
paſſend geweien wäre, es nach den vorausgeſchickten Drohungen 
herunternehmay zu laffen. ” 

„Sind während Eurer jüngeren Jahre auch derartige Dinge 
vorgefommen, Mrs. Littlepage?" fragte Mary Warren. 

„Häufig genug, obſchon minder auf dem Lande, als viel- 
mehr in den Stadtfirhen. Ihr werdet Euch erinnern, daß die 
Trennung von England nur erft kurze Zeit beftand, als die St. 
Andrewskirche gebaut wurde, und die meiften von den alten Colo⸗ 


571 


nial⸗Ideen hatten damals unter uns Gewicht. Die Anſichten über 
geſellſchaftliche Stellungen waren ſehr verſchieden vor denen, welche 
jept flattfinden, und New-Mork konnte in einem gewifjen Sinne 
unter die ariftofratifchften Kolonieen des Landes gezählt werden, 
wenn fie nicht vielleicht gar den Vorrang vor allen übrigen behaup- 
tete. Ungefähr fo ging es unter den Hollänvern, objchon fie Re— 
publifaner waren, und ihren’ Patroonen zu; aber als die Kolonie 
an die Engländer überging, wurde fie mit einem Male zu einer 
Föniglichen Kolonie, und englifche Anfichten kamen natürlich in Auf- 
nahme. DBielleicht gab e8 in Feiner andern fo viele Herrfchaftsgüter; 
die Sklaverei des Südens führte ein ganz anderes Syſtem ein, 
während die Politik Penns und Neu-Englandse im Allgem 
demofratifcher war. Ich fürchte, Roger, wir verdanken dieipk Us 
tirentenfampf und hauptfähhlih die Schwäche, mit welcher man’ ihm 
Widerftand Leiftet, den Meinungen, die unter dem Bolt Neu-Eng- 
lands herrfchen. Von dort her haben wir fo viele Einwanderer . 
unter ung, und die Denkweiſe diefer Leute iſt von der unfrer reinen 
New-Morker verfchieden.” 

„Ihr habt vollkommen recht, meine theure Mutter,” antwortete 
mein Onfel, obgleich ſchon unfre Pächter, die doch geborne News 
Horker find, fich nicht fäumig finden laſſen, der Neuerung Vorſchub 
zu thun. Lebtere find dabei entweder durch Habgier geleitet, oder 
ſuchen bei den Maffen Popularität zu gewinnen, während meiner 
Anfiht nach die Eingewanderten ihre Anfichten durch den gefelligen 
Zuftand beftimmen laffen, aus dem fie felbft, oder ihre Eltern ım- 
mittelbar hervorgegangen find. Ein fehr großer Theil der gegen- 
wärtigen Bevölferung New-NYorks ift neuenglifchen Urfprungs, und 
wir Eönnen vielleicht ein volles Drittel derfelben als ſolche anneh- 
men, die entweder in Neu- England geboren oder vielleicht Söhne 
und Enkel dortiger Anfäßiger find. Nun findet man aber in Neu- 
England allgemein eine große Gleichheit in ver Stellung, namant- 
lich wenn man fih einmal über die eigentühe He do V 


972 


bat. Mit Ausnahme der großen Handelsſtädte gibt es daſelbſt 
nur wenige, die in New-Mork als reich gelten könnten, und ein 
großer Landbefitzer if faft gar nicht zu finden. Das Verhältniß 
des Grundherrn und des Pächters, wie es auf unferen fogenannten 
Befigthümern befteht, ift daher dem Weſen nach in Neu England 
unbelannt, obſchon Maine einige Ausnahmen bietet. Diefer Umſtand 
hat feinen Grund in der eigenthlimlichen Abkunft der Bevölkerung, 
und in der Xhatfache, daß die Auswanderung fo lange Zeit ben 
Ueberſchuß der Population abgeleitet hat. Die Hauptmaffe derje 
nigen, welche zurücdbleiben, find daher wohl in der Lage, Freigliter 
zu befigen. Menjchen, welche unter einem ſolchen Zuftande der Ge 
ſellſchaft erzogen wurden, find natürlich Allem abgeneigt, was An⸗ 
dere in eine Stellung verfebt, die fie ſelbſt nicht befigen und auf 
nicht einnehmen können. Nehmen wir nun an, ein Drittheil der 
News Porter Bevölkerung beftehe aus neuenglifchen Abkömmlingen; 
in Folge davon müſſen mehr oder weniger neuenglifche Anfichten 
herrfchen, namentlich, da bei weitem der größere Theil der Apvo- 
katen, Zeitungsfchreiber, Nerzte und Politiker mit unter dieſes 
Drittel fallen. Wir denken wenig hierüber nah, und diefe Ber- 
hältniffe kommen felten zur-Sprache, denn feine Nation forfcht den 
moraliſchen Einflüffen, aus denen man ſich eine politifche Statiſtik 
bilden Tann, weniger nach, als die amerifanifche, wie groß auch die 
Folgen fein mögen, die daraus hervorgehen.” 

„Ihr ſcheint alfo der Anficht zu fein, Sir, daß dieſe Antirens 
tens Bewegung neuenglifchen Urfprungs ſei?“ 

„Vieleicht irre ih. Der Urſprung ift wahrfcheinfich unmittel- 
barer vom Teufel abzuleiten, der die Pächter ebenfogut, wie vor 
Zeiten unferen Erlöfer, in Berfuchung führte. Die Wirren brachen 
zuerft unter den Abkömmlingen der Holländer 8, die zufällig 
Pächter waren; was aber die Theorien betrifft, die dabei auftauch⸗ 
ten, fo riechen fie mehr nach der Reaktion gegen europäifche Zus 
flände, ald nach irgend etwas, was in Amerifa faftifchen Beftand 


4 573 

hat. Wenigftens tonntt Mu⸗England keinen Anlaß dazu bieten, 
denn dort ſtehen die Rechte des Eigenthums und die Geſetze in 
hohen Ehren. Gleichwohl bin ich der Anficht, dag wir der Denk« 
und Lebensweife derjenigen, welche aus diefen Gegenden zu ung 
eingewandert find, die hauptfächlichfte Gefahr zufchreiben müſſen.“ 

„Das fcheint etwas parador zu fein, Onfel Ro, und ich geftehe, 
e8 wäre mir lieb, wenn Ihr und Eure Meinung befjer auseinander 
ſetztet.“ 

„Ich will verſuchen, es in möglichſt kurzen Worten zu thun. 
Die eigentliche Gefahr geht von denen aus, welche Einfluß auf 
die Geſetzgebung üben. Nun werdet ihr viele Hunderte unter uns 
finden, welche wohl einfehen, wie wichtig die Heiligachtung contract- 
licher Berbindfichkeiten iſt, — welche die Nachtheile des Antiren- 
tismus erkennen und feine ungeflüme, gewaltthätige Aeußerung 
unterdrüdt zu fehen wünfchen; gleichwohl aber halten fie es nicht 
mit den Grundbefitern, weil fie doch im Geheim eiferfüchtig find 
auf Bortheile, die ihnen felbft nicht zu gut kommen, und wären 
e8 wohl zufrieden, wenn das Grundpachtſyſtem aufgehoben würde, 
fofern dieß ohne einen allzubeftigen Zufammenprall mit der Ges 
rechtigkeit gefchehen könnte. Spricht man mit folchen Leuten, fo 
ergehen fie fich in Gemeinpläßen und drüden ihre nichtsbeſagende 
Anficht dahin aus, ed wäre gut, wenn jeder Landbebauer nicht 
Pächter, fondern Eigenthümer des von ihm bewirthichafteten Bo- 
dens wäre, denn jedenfalld ſei das Rentenzahlen ein große Be- 
ſchwerniß, und dergleichen mehr. Mit weit edlerem Sinne äußerte 
der Sage nach Heinrich. der Vierte den Wunfch, jeder feiner Unter- 
thanen möchte „„une poule au pot‘“ haben; aber mit dem Wunſche 
war nichts ausgerichtet, da er die Töpfe nicht mit Hüfnern füllte. 
Eben fo verhält fih’S mit dem eitlen Wunfche, daß jeder ameri- 
Fanifche Landwirth Freifaffe fein ſollte. Wir Alle wiffen, daß ein 
folder Zuftand der Gefellfchaft nie eriftirt hat und wahrfcheinlich 
auch nie erifiren wird; man ftellt deßhalb nur ein philanthropifch 


Er 
574 
feinfollendes Gefafel in den Vordergrund des Gemäldes, flatt die 
Zuftände treu darzuftellen, wie fle find. Was mich betrifft, jo ge 
höre ich unter diejenigen, welche fich nicht zu dem Glauben befehren 
tönnen, daß irgend ein Land beffer daran fei, wenn e8 keine Grund- 
herren und Pächter habe.” 

„Mr. Littlepage,” rief Mary Warren, „Ihr feid doch nicht 
der Anficht, großer Neichthum in den Händen weniger bei Beraw 
mung der großen Maffe fei einem weithinverbreiteten Wohlſtand 
vorzuziehen ?" 

„Nein, jo weit gehe ich nicht, aber ich bleibe bei der Behaup⸗ 
tung, daß Amerika eben jetzt einer Klaſſe dringend benöthigt iR, 
welche mit Unabhängigkeit des Charakters und der Stellung jene 
Muße verbindet, durch die allein feine Bildung, Geſchmack und 
Grundfäge gewonnen werden können.“ 

„Srundjäge, Mr. Littlepage?” ergriff meines Onkels holde 
Dpponentin wieder das Wort. „Mein Vater würde hierin kaum 
einftimmen, obſchon er in vielen Stüden ganz Eurer Anficht if." 

„Sch weiß das nicht und muß wohl das Wort Grund 
fäße wiederholen; denn wenn eine Klaffe vielen Verfuchungen 
enthoben ift, ohne jedoch über dem Bereich der öffentlichen Meinung 
zu ftehen, fo gewinnt fie jene Grundfapfeftigkeit, welche am eheften 
geeignet ift, einer Art jecundärer aber doch jehr nüblicher Moral 
zur Stüße zu dienen — einer Moral, die fich nicht unmittelbar 
aus rein religiöfen Pflichten ableiten läßt. Gegen letztere werde ih 
fein Wort fagen, da fie aus der von der göttlichen Allmacht ſtam⸗ 
menden Önadenquelle fließen und glüdlicherweife dem Armen eben 
fo zugänglich find, wie dem Reichen — ja, fogar noch mehr. Aber 
wie die Menjchen einmal find, regelt unter hunderten nicht einer 
fein Leben nach einer durch ſolche Impulſe gefchaffenen Richtfchnur, 
und jelbft wenn es der Fall ift, wird dieſe leider ſtets einigermaßen 
durch die gewöhnlichen Anfichten beftimmt. Die chriftliche Moral 
des Oftindianers ift nicht identifch mit der eines Puritaners, und 








915 


die eines Mannes von hochgebildetem Geifte verhält fich an⸗ 
ders, als die eines Menſchen, welcher night den gleichen Bor» 
theil der Erziehung genoſſen hat. Es gibt eine Klaffe von Grund⸗ 
fäßen, die unter freifinnigen, gebildeten Geiftern fehr verbreitet ift 
und nichts von der Kleinlichkeit des Tagesbrauchs in fih auf- 
nimmt; diefe meine ih. Wir brauchen eine verhältnigmäßige Ans 
zahl von Männern, die zur Organifirung unferer Geſellſchaft bei= 
tragen koͤnnen und über die Gemeinheit des gewöhnlichen Lebens 
erhaben find." 

„Wenn man dieß in Gath hörte,“ rief meine Schwefter lachend, 
„10 würde man e8 fir die ſchreiendſte Ariftofratie erklären.” 

„Und gleihwohl iſt e8 nur der gejunde Menfchenverfland, der 
bier fo laut jchreit,” entgegnete mein Onkel, der fi dur ein ' 
Gelächter nicht von dem abbringen ließ, was er für eine Wahrheit _ 
hielt, „und die Thatfachen werden e8 lehren. Neu-England hat 
zuerft das Syftem der Gemeinde-Schulen eingeführt, und vielleicht 
befist Eein Theil der Welt eine Bevölkerung, die in allgemeinen 
Kenntniffen beffer unterrichtet wäre. Dieß ift fchon jo lange her, 
daß die Population von Eonnektikut und Maſſachuſetts zum Beifpiel 
der eines jeden andern Staats, felbit New-NYork mit eingejchloflen, 
einen wefentlichen Borfprung abgewonnen hat, obfchon wir, nach⸗ 
dem wir das Syflem unferer öftlichen Brüder nachgeahmt haben, 
gleichfalls nicht über Verwahrlofung Elagen können. Und dennod 
— wer wird behaupten wollen, Neu-England fei in vielen anderen 
wefentlihen Punkten jo weit vorangefchritten, wie die mittleren 
Staaten? Nehmen wir zum Beifpiel nur die Küche — ihre befte 
Kochkunſt fteht weit unter der, welche man felbft unter den gerin- 
geren Familien der eigentlichen mittleren Staaten findet. Auch 
ihre Sprache ift provinziell und gemein, fo daß ich wohl ohne 
Uebertreibung behaupten kann, die arbeitenden Klaffen der mittleren 
Staaten, wenn fie nicht neuenglifcher Abkunft find, reden ein viel 
befieres Engliſch, als ſogar Zaufende der gebildeten ‘Berfonen Neu⸗ 


966 


fiscationsakte der Menge, und Zaufende bereicherten fih an dem 
untechtmäßigen Gewinn, indem fie das Unglüd ihrer Umgebung 
auszubeuten wußten; was alfo dort gefhah, war auch hier wieder 
möglich. Hoctönende Worte weiß der Vernünftige wohl zuredt- 
zulegen, denn Niemand wird dadurch auch nur um ein Haar freier, 
weil er mit feiner Freiheit groß thut, und ich follte nun erfahren, 
daß man ſtets am tiefften verlegt wird, wenn das Unrecht von den 
Maffen ausgeht. Mögen fte auch ſonſt nicht fehr zu derartigen 
Verbrechen geneigt fein, fo find fie Doch ebenjowenig unfehlbar, 
als einzelne Individuen. — Sn diefer philofophifhen Stimmung 
befchlich mich der Schlaf. 

ALS ich am andern Morgen erwachte, ſah ich neben meinem 
Bette John ſtehen, der eben zuvor die Läden geöffnet hatte. 


„Wahrhaftig, Mr. Hugh,“ begann der wohlmeinende, aber 
bisweilen nur allzu dienſteifrige Diener, „ich weiß nicht, wie weit’ 
noch zu Ravendneft fommen wird, wenn der böfe Geift unter den 
Bewohnern mehr und mehr um fich greift.” 


„Stille, file, John — was Ihr einen böfen Geift nennt, ifl 
nur der „Geift der Inftitution‘, und diefer verlangt Ehrerbietung, 
nicht aber üble Nachrede." 


„Ei, Sir, ih weiß nicht, wie fie ihn nennen, denn man 
fpricht hier fo viel von den Anftitutionen des Landes, ohne 
daß ich begreifen Fann, was fie damit wollen. An meinem 
lebten Pla im Weftende von London wohnte ich in der Nähe 
einer Inſtitution,“ — der arme Sohn wollte vermuthlich In⸗ 
flitut jagen — „und da lernten die jungen Herrn lateinifch und 
griechiſch ſprechen und fchreiben. Die amerifanifchen Inſtitu⸗ 
tionen aber müflen für Leute berechnet fein, die vom Latein 
ebenfowenig wiflen, als ich, denn man thut hier dergleichen, 
als ob man fie aus dem Fundament Tenne. Doch werdet 
Ihr's wohl glauben — könnt Ihr's wohl glauben, Mr. Hugh, 


Daß. das Volk in lepter Nacht einen Vatermord begangen 
hat?“ 

„Dieß ſollte mich nicht Wunder nehmen, denn ſeit langer Zeit 
geht es mit einem Muttermord um, ſofern es nemlich das Land 
ſeine Mutter nennt.“ 

„gif ſchrecklich, Sir — 's iſt wahrhaftig ſchrecklich, wenn 
ein ganzes Volk ein ſolches vatermörderiſches Verbrechen be— 
geht. Ich wußte wohl, daß Ihr Euch drüber entſetzen würdet, 
Mr. Hugh, und kam deßhalb her, um Euch davon in Kenntniß zu 
ſetzen.“ 

„Ich bin Euch für dieſe Aufmerkſamkeit ungemein verbunden, 
mein guter Freund, werde es Euch aber um ſo mehr Dank wiſſen, 
wenn Ihr einmal zur Sache übergehen wollt.“ 

„Recht gerne, Sir — von Herzen gern. Wozu ſollte es auch 
nügen, die Thatſache zu bemänteln? Er iſt hin, Mr. Hugh!" 

„Ber ift hin, Sohn? — Sprecht nur dreift heraus, mein guter 
Freund; ich kann's ertragen.” . 

„Der Kirchenftugl, Sir, oder vielmehr das fchöne Dach, das 
darüber angebracht war und ihn ein Ausfehen verlieh, gerade wie 
dem Sit des Lordmayor in Guildhall. Ich habe diefes Dach ge= 
ehrt und bewundert, Sir, denn es ift der elegantefte Gegenftand in 
diefem Lande gewefen, Sir.” 

„Was höre ich — fie haben es alfo wirklich zerftört? Allem 
Anfchein nad) ermutbigte und fpornte fie die Aeußerung einer öffent- 
lichen Meinung, die in einem mit Präfidenten und Sekretär ver- 
fehenen Meeting proclamirt wurde, den Baldachin mit dem Beil 
abzutragen ?" 

„sa wohl, Sir, und fie haben faubere Arbeit damit gemacht. 
Da fteht er jet, bei Miller droben, über deſſen Schweinſtall!“ 

Dieß war kein ſehr hexoiſches Ende in der Laufbahn des an- 
ftößigen Baldachins; gleichwohi aber konnte ich nicht umhin, herz⸗ 
lich darüber zu laden. Sohn fühlte fich durch‘ dieſe Leichtfertigkeit 


ugs 


einigermaßen gekräntt, und entfernte fih bald, um mich meine 
Toilette felbft zu Ende bringen zu laffen. Ohne Zweifel würden 
viele von den ehrlichen Ravensneftern ebenfofehr über die Gleich⸗ 
gültigfeit, welche ich bei dem Geſchick des edlen Kirchenftuhls an 
den Zag legte, in Erſtaunen gerathen fein, als Sohn; aber fofern 
meine gejellfchaftliche Erhöhung oder vielmehr meine gefellfchaftliche 
Erniedrigung dabei in Frage kam, kümmerte ih mich durchaus 
nicht3 um dieſes Anhängfel. Die Zerftörung deffelben Tieß mich 
gerade fo, wie ich war, weder größer noch Eleiner, und wenn e8 
eines Denkzeichens bedurfte, um die Welt wiffen zu Iaffen, wer 
meine Vorfahren gewefen oder wer ich felbft in diefem Augenblid 
war, fo reichte hierfür das Land felbft oder Doch der Theil deſſel⸗ 
ben, in welchem wir wohnten, vollfommen zu. Seine Gefchichte 
muß vergefien oder verändert werden, ehe man fich über unfere 
Lage täufchen kann, obſchon aller Wahrfcheinlichkeit nach die Zeit 
fommen wird, wo irgend ein außerordentlich jublimirter Freund 
der Gleichheit auf den Gedanken geräth, alle Lichter der Vergan⸗ 
genheit auszulöfchen, damit ja kein in der Gefchichte ausgezeichnes 
ter Name mehr Anftoß gebe, weil es noch andere Leute gibt, die 
fih eines folhen Vermächtniffes nicht zu erfreuen haben. Mit 
Recht hält man den Familienftolz für den verleendften, weil man 
fih dabei einer Sache rühmt, die auch nicht durch das mindefte 
perjönliche BVerdienft errungen wurde, während Männer von den 
höchften perjönlichen Anfprüchen vielleicht ganz und gar eines Vor⸗ 
theils entbehren müflen, zu deſſen Genuß längſt. Verſtorbene ein 
Necht begründet haben. Was nun diefen Punft betrifft, fo laffen 
die Snftitutionen ſowohl ihrem Buchftaben, als ihrem Geiſte nad 
möglichft die Gerechtigkeit walten, obſchon auch fie genöthigt find, 
einen der mädhtigften Hebel ſolcher Auszeichnungen durch die gefeb- 
fiche Beftimmung aufrecht zu erhalten, daß fich das Befikthum des 
Vaters auf das Kind vererbe. Wann wir Alles recht und fo ha- 
ben werden, wie es in diefem dem Fortfchritte Huldigenden Land 


569. 


fein fol, weiß nur der Himmel, denn ich finde, meine Pächter legen 
ein großes Gewicht auf die Thatfache, daß ihre Väter Lände- 
reien für Generationen gepachtet haben, während fie nur gar zu 
gerne vergeflen, daß meine Väter dieſe ganze Zeit über die Ver— 
pächter waren. 

Die vier Mädchen traf ich auf der Piazza, wo fie fi in 
der Luft eines fo balfamifchen Sommermorgens ergingen, wie ihn 
eine wohlmollende Natur nur je befcheert hatte. Die Kunde über 
das Schickſal des Kirchenftuhlpachs war bereits bis an fie gelangt 
und übte, je nad) den TZemperamenten, verjchiedene Wirkung. Hen⸗ 
riette Coldbroofe lachte ganz unmäfig und in einer Weife darüber, 
die mir nicht gefiel, denn das helle Lachen einer jungen Dame 
befundet oft genug, daß man hinter einem folchen Frauenzimmer 
nicht viel mehr als Lachluft juchen dürfe. Ich halte zwar dem 
jugendlichen Geift und einer natürlichen Neigung, den Dingen eine 
Icherzhafte Seite abzugewinnen, Vieles zu gut; indeß muß ich doch 
jagen, daß e8 mich verleßte, über dieſe Heldenthat des Antirentig- 
mus eine volle halbe Stunde hinter einander lachen zu hören, 
Anne Marstond Benehmen gefiel mir viel beffer. Sie lächelte 
zwar viel, und lachte eben genug, um zu zeigen, daß ihr die Sache 
jehr abgefhmadt vorfam; dann aber befundete ihre Miene, daß fie 
fühlte, e8 handle fic) hier um eine Recht8- Verlegung. Was Patt 
betraf, jo war fie fehr entrüftet über diefen Schimpf, und fäumte 
auch nicht, ihre Anfichten auszufprechen. Die Art aber, wie Mary 
Warren den Vorfall beurtheilte, machte den angenehmften Eindrud 
auf mich, und ich muß fagen, daß es mir bei faft allen ihren 
Aeußerungen eben fo erging. Sie zeigte weder Leichtfertigkeit noch 
Verdruß. Ein» oder zweimal, wenn Henrietten eine Drollige Be⸗ 
merfung entwifchte, Tachte fie ein wenig — aber nur fehr wenig 
und ganz unwillführlich, geraße genug, um zu beweifen, daß fie 
einen Scherz wohl zu würdigen verfland; dann aber warf fie eine 
Heine Bemerkung bin, des Inhalts, daß man weit mehr den Grund 


580 


Mein Onkel hielt e8 für gut, ihn auf der Stelle zu leſem 
Im Berlaufe diefes. Gefchäftes runzelte fih feine Stirne, und er 
biß fih in die Lippen, als fei er in gleichem Grade erzürnt und 
ärgerlih. Dann lachte er und warf das Papier auf den Tifch, 
wo es liegen blieb, ohne daß fih Jemand herausnahm, es zu be- 
läftigen. Diefe ganze Zeit über erröthete Henrietta Coldbrooke 
einmal über das andere, obſchon fie zwiſchen hinein achte und 
eine verdrießliche Miene annahm. Unfere Neugierde wurde dadurd 
fo ſehr gefteigert, daß meine Großmutter Luft fühlte, fich ws 
Mittel zu legen. 

„Kann diefer Brief nicht zum Beften Aller laut vorgelefen 
werden?" fragte fie. 

„Es ift kein befonderer Grund vorhanden, den Inhalt geheim 
au halten,” antwortete Onkel Ro verächtlih, „und je mehr er 
befannt wird, defto mehr trifft den Kerl das verdiente Gelächter.” 

„Wird dieß auch recht fein, Onkel Ro?" rief Miß Eold- 
broofe haſtig. „Kann man einen Gentleman, wie er ift, fo be- 
Handeln — —" 

„Pah, es handelt fich hier ganz und gar nicht um einen 
Gentleman. Der Menfh if in diefem Augenblid ein Gefangener, 
weil er mitten in der Nacht ein bewohntes Haus in Brand zu 
Reden verfuchte.” 

Henrietta fagte nichts mehr, und meine Großmutte nahm das 
Schreiben auf, um es laut vorzulefen. Ich gebe eine Abſchrift 
von dem Ergufje Seneka's, der mehr ſchlau, als philofophifch ges 
halten war, ſondern bemerfe nur, daß er eine Fräftige Liebes⸗ 
Erklärung enthielt, die Sache gefhäftsmäßig dringend behandelte 
und mit einem großmüthigen Anerbieten feiner Hand einer Erbin 
gegenüber fchloß, die ein Einkommen von jährlichen achttaufend 
Dollars beſaß. Und diefer Antrag war nur um einen oder zwei 
Zage früher datirt, als der Kerl über Mordbrennerei erwifcht. 


581 
wurde; er ſtammte alfo aus einer Zeit, wo er auf's Tieffte in die 
Entwürfe des Antirentismus verwidelt war. 

„Es gibt eine Kaffe von Leuten unter uns," fagte mein 
Onkel, nachdem männiglich diefes edle Anerbieten verlacht hatte, 
„welche auch nicht die mindefte Vorftellung von Anſtand zu be= 
fißen ſcheint. Wie iſt's möglih, oder was konnte den Wicht 
veranlaffen, fih auch nur einen Augenblid einzubilden, ein Mäd⸗ 
hen von Bermögen und Stellung werde ihn heirathen — und 
dieß noch obendrein faft ohne alle vorläufige Bekanntfchaft! Ich 
wette darauf, Henrietta hat ihn ihr ganzes Leben über Feine zehn⸗ 
mal gefprochen.” 

„Richt fünfmal, Sir, und au dann nur handelte ſich's um 
die gleichgültigften Dinge von der Welt.” . 

„And Ihr habt den Brief beantwortet, meine Liebe?” fragte 
meine Großmutter. „Eine Antwort durfte nicht wohl vergeffen 
werden, obfchon fie vielleicht { im gegenwärtigen Halle paflender von 
- Eurem Vormund ausging.‘ 

„Ih babe diefes Amt felbft auf mich genommen, Ma’am, 
weil ich für meine Betheiligung an der Sache nicht ausgelacht zu 
werden wünfchte. Ich dankte ablehnend für die Ehre, die mir Mr. 
Seneka Newcome mit feiner Hand zugedacht hatte.“ | 

„Nun, wenn doch die Wahrheit heraus muß,” fiel Patt troden 
ein, „es find kaum drei Wochen her, daß ich das Gleiche that.“ 

„Und ich hatte erft vor acht Tagen eine ähnliche Verrichtung 
vorzunehmen,“ fügte Anne Marston mit gefebter-Miene bei. 

Ich Tann mir nicht denken, meinen Onfel je fo feltfam aufs 
geregt gefehen zu haben; denn während Alles um ihn her herzlich 
lachte, war feine Miene ernft, wo nicht wild. Dann wandte er 
fih plöglich an mich und fagte: 

„Wir müſſen den Kerl an den Galgen bringen, Hugh; denn 
wenn er taufend Jahre lebte, würde er doch nie lernen, was der 
Anſtand fordert.“ 


582 


„Ihr werdet Euch eines Befleren bedenken, Sir, und mehr 
Barmherzigkeit walten laſſen. Der Mann hat nur edel gewagt. 
Ich muß Übrigens geftehen, daß ich gar gerne wifjen möchte, ob 
Miß Warren allein feinen Angriffen entgangen ifl.“ 

Mary — die hübſche Mary — fie erröthete wie Scharlad, 
fhüttelte aber den Kopf und weigerte fih, eine Antwort zu geben. 
Bir Alle ſahen, daß ihre Gefühle bei der Sache keineswegs be⸗ 
theiligt waren; indeß gewann es doch den Anfchein, wie wenn die 
Huldigungen, die Seneka ihr zu Theil werden ließ, ernſtlicheret 
Natur feien, als feine Aufmerkfamkeiten gegen die drei anderer 
Mädchen. Wie ich feitdem in Erfahrung gebracht Habe, hegte er 
wirklich eine Art Liebe für Mary, und unter Berüdfichtigung feines 
Geſchmacks in diefer Beziehung bin ich auch bereit gewefen, ihm 
die Grundfaplofigkeit und unverfhämte Weife zu vergeben, in 
welcher er feine Fliegen den andern Fifchen zuwarf. Bon Mary 
jelbft aber war nichts herauszubringen. 

„Ihr dürft Euch hieraus nicht fo viel machen, Mr. Kittles 
page," rief fie, fobald fie fih von ihrer Verwirrung ein wenig er= 
holt hatte, „denn am Ende ift in der Sache blos nach dem großen 
Antirenten» Grundfaße gehandelt worden. In dem einen Fall 
ſpricht fih der Wunfch nach mohlfeilen guten Farmen, in dem 
andern der nach guten Frauen aus.” 

„In dem einen Falle nach den Farmen anderer Leute und in 
dem andern nad) den Frauen anderer Männer.” 

„Allerdings nach den Frauen anderer Männer, wenn übers 
Haupt von Frauen die Rede ift," bemerkte Patt bezeichnend. „Es 
ift Fein Mr. Senety Newcome da." 

„Bir müfjen dem Gefeß feinen Lauf laffen und den Kerl dem 
Galgen überantworten!" entgegnete mein Onkel. „Den Berfud, 
das Neſthaus niederzubrennen, könnte ich ihm noch nachfehen, aber 
diefe Unverfchämtheit macht mich erbarmenlos. Menfchen von feiner 
Klaffe bringen gern Alles sens dessus dessous, und es nimmt 


983 


mich nicht Wunder, da es einen Antirentismus im Land gibt: 
Ein folches Eheftands- Erperiment hätte zwifchen jo verfchiedenen 
Betheiligten in keinem Lande verfucht werden können, das nicht 
durch den Antirentismus vergiftet oder vom Teufel verblendet iſt.“ 
„Ein Irländer würde in den Wurf feines Netzes auch meine 
Großmutter miteingefhloflen haben; dieß tft der einzige Unter⸗ 
ſchied, Sir." 

„Sa, wahrhaftig — warum ſeid wohl Ihr entronnen, theuerſte 
Mutter. Auch Ihr beſitzt ein ſchönes Witthum.“ 

„Weil der Freier, wie Hugh bemerkte, kein Irländer war — 
ich kenne keinen andern Grund, Hodge. Aber eine Perſon, welche 
den Damen ſo große Verehrung zollt, darf nicht in der graufamen 
Weile um's Leben kommen, die du ihm zugedacht haſt. Wir 
müffen dem Elenden freien Abzug geftatten.“ 

Alle Mädchen vereinigten fich nun, mit meiner Großmutter in 
diefer für fie fo ganz natürlichen Petition, und einige Minuten 
hörten wir nichts als Aeußerungen des Bedauerns und Bitten, daß 
Senefa nicht dem Gefeb überantwortet werden möchte. „Dem 
zarten Erbarmen des Geſetzes dürfte man paſſend hier ſagen; 
denn es iſt jetzt faſt zu einer unumſtößlichen Wahrheit geworden, 
je größer der Schelm iſt, deſto beſſere Ausſicht hat er, dem Gal⸗ 
gen zu entrinnen. 

„Alles dieß iſt recht gut, meine Damen — gewaltig menſchen⸗ 
freundlich, frauenhaft und ganz dem Charakter gemäß,“ antwortete 
mein Onkel; „aber erſtlich will es was heißen, wenn man ein 
Kapitalverbrechen vertuſcht, und die Folgen find nicht eben die 
angenehmften. Außerdem muß man aud) in's Auge fafen, welche 
Wirkung ein folder Schritt auf die Gefellfchaft im Allgemeinen 
üben könnte. Wir haben da einen Kerl, der anfänglich verfuchte, _ 
Die Herzen von nicht weniger als vier jungen Damen in Flammen 
zu feßen, und nachdem ihm dieß nicht gelungen ift, hilft er ſich 
dadurch, daß er in Hughs Küche Feuer einlegt. Din Ihr au, 


584 


daß ich faft geneigt bin, für das erflere Bergehen ihn ebenfo zu 
beſtrafen, wie für das letztere?“ 

„Unter den Rothhäuten findet eine großartige Bewegung flatt, 
Ma'am,“ bemerkte jetzt John, der unter der Thüre des Frühſtücks⸗ 
zimmers fland, „und ich kann mir denken, daß die Damen, Mir. 
Littleyage und Mr. Hugh Luft haben werden, fie zu fehen. Der 
alte Sus if auf dem Wege hieher begriffen und hat Yop bei fich, 
der brummend hinter ihm drein kommt, als ob ihm diefe Unter- 
haltung durchaus nicht gefalle.“ 

„Haft du Borforge getroffen, Roger, daß unfere Gäfte diefen 
Morgen paffend empfangen werden?” 

„3a, Mutter. Wenigftens ertheilte ich Befehl, unter den 
Bäumen Bänke aufftellen und eine hinreichende Menge Tabaks 
beifchaffen zu Iaffen. Ich glaube, Das Rauchen fpielt eine wichtige 
Nolle bei einer Berathung, und Alles ift fo eingeleitet, daß ſie 
Damit anfangen können, fobald fie zufammentreffen.“ 

„Sa, Ste, es ift Alles für fie zugerüſtet,“ nahm John wieder 

auf. „Miller hat die Bänke in einem Einfpänner hergeſchickt, und 
wir find mit fo viel Tabak verfehen, als fe verbrauchen Eönnen. 
Die Dienerfchaft hofft, Ma'am, es möchte ihr erlaubt werden, 
der Feierlichkeit mitanzumohnen. Es kommt nicht vor, daß eivili⸗ 
ſirte Leute wirkliche Wilde zu ſehen kriegen.“ 
Meine Großmutter ertheilte ihre Zuſtimmung, und es folgte 
nun ein allgemeiner Aufbruch nach dem Rafen, um der Abſchieds⸗ 
zufammentunft zwifchen dem Fährtelofen und feinen Gäften anzu⸗ 
wohnen. 

„She feid ſehr rückſichtsvoll geweſen, Miß Warren," flüferte 
ih Mary zu, als ich ihr den Shaw anlegen half, „Daß Ihr das 
wichtigfte von Seneka's Liebesgeheimniffen — denn fo muß ich es 
wohl anfehen — nicht verrathen wolltet.” 

„Ih geftehe, diefe Briefe haben mich überraſcht,“ verjehte 
das holde Mädchen gebankenvoll und mit einem Blicke, Der einige 


585 


Berwirrung zu befunden ſchien. „Niemand kann wohl von Mr. 
Neweome eine jehr günftige Meinung haben; indeß war es keines⸗ 
wegs nöthig, fein Charakterbild in einer Weife zu vernollfländigen, 
dag man fogar ſchlimm von ihm urtheilen muß.” 

Sch ſchwieg, diefe wenigen Worte aber, die Mary unbewußt 
und unwillfürlich zu entwifchen fchtenen, Giberzeugten mich, daß 
Senefa ſich's ernftlich hatte angelegen fein laffen, troß ihrer Ar- 
muth Theilnahme in ihrem Herzen zu weden. 


Siebenundzwanzigftes Kapitel. 


Und unterm Antlig, Sommerträumen gleich, 
Sind regungdlod die Rippen, Har die Wangen — 
Yu im Her, ein Sturmwind fchläft von Stolz, 
aß, Xiebe, Leid und Hoffen — nur Fein Bangen 


Balleck. 


Des einzige Auffallende, was zugleih mit dem hohen Alter 
des AIndianers und des Negers in Berbindung fland, war ber 
Umftand, daß fie faft ein Zahrhundert mit einander in Abenteuern 
und Freundichaft verlebt hatten. Ich fage, Sreundfchaft, denn 
der Ausdruck ift durchaus nicht unpaffend zu Bezeichnung des Ges 
fühls, welches die beiden Greife aneinander feflelte, obfchon ihre 
Charaktere fo himmelweit verfchieden waren. Während der India 
ner alle die hohen, männlichen Eigenfchaften eines Kriegerd aus 
den Wäldern oder eines Häuptlinges befaß, der nie einen Größeren 
über ſich anerkannt hatte, barg der andere nothwendig viele von 
den Tücken eines fElavifchen Zuſtandes, die bitteren Folgen der 
Herabwürdigung feiner Kafte, in fih. Zum Glück waren Beide 
fehr mäßig — eine Tugend, die man bei den Rothhäuten, wenn 
fie unter den Weißen wohnen, nicht gerade alle Zage, obfchon viel 
häufiger als bei den Schwarzen trifft. Susqueſus war Übrigens 
ein geborner Onondago — der Abkömmling eines Stammes, ber 
fih durch feine Nüchternheit auszeichnet — und hatte fein ganzes 


F 


587 


Leben über nie ein beraufchendes Getränf gefoftet, während Jaaf 
im Allgemeinen zwar fehr enthaltfam lebte, in der Vorliebe für 
ſcharfen Eyder aber ein eingefleifchter „Nigger” war. Es kann 
feinem Zweifel unterliegen, daß diefe beiden betagten Ueberbleibſel 
einer vergangenen Zeit und einer faſt vergeflenen Generation ihre 
Gefundheit und Kraft nur ihrer Mäßigkeit verdankten, welche 
ihren ohnehin zähen Lebensfaden noch mehr Eräftigte. 

Ich war ſtets der Anficht, Jaaf müſſe ein wenig älter fein, 
als der Indianer, obſchon der Unterfchted Teinesfalls viel aus⸗ 
machen Tonnte, So viel ließ ſich wentgftens nicht in Abrede ziehen, 
der rothe Mann bejaß bei weiten die größere Körperkraft, troß 
dem, daß er fie feit fünfzig Jahren nicht im mindeften geübt und _ 
angeftrengt hatte. Susquefus war nie ein Freund der Arbeit ge= 
weien und hatte fi auch — im gewöhnlichen Sinn diefes Aus- 
druds — nie damit abgegeben, weil er fie nicht mit der Würde 
eines Kriegers in Einklang bringen konnte; auch ließ ich mir fagen, 
daß er felbft in der Blüthe feiner Jahre nur durch die Außerfte 
Noth dazu vermocht werden Konnte, etwas anzupflanzen oder eine 
Haue in die Hand zu nehmen. So lange der endlofe Wald den 
Hirſch, das Mufethier, den Biber, den Bären und andere Thiere 
barg, welche dem Indianer Nahrungsftoff boten, kuͤmmerte er fi 
wenig um die Früchte der Erde, wenn fie die Natur nicht von 
felbft hervorbrachte, und die Jagd war die letzte regelmäßige Be— 
Thäftigung, welche der alte Mann aufgab. 

. Nachdem er bereits hundert Winter gefehen hatte, führte er 
noch immer die Büchfe bei fich und flreifte noch Fräftig genug 
durch die Wälder; aber das Wild war unter dem fortwährenden 
Lichten des Grundes aus der Gegend gewichen, da zulegt von dem 
Urwald nichts mehr übrig geblieben war, als der bereits erwähnte 
Strih, den ich mir vorbehalten hatte, und die Nutzungsgehölze, 
die foft jeder amerikanifchen Farm beigegeben find, und der Land⸗ 
ſchaft eine Abwechslung und Schönheit verleihen, welche man ges 


s 


588 


wöhnlih in den Ländern der alten Welt vermißt. Diefe Eigen- 
thümlichkeit iſts, welche den verfchtedenen Gegenden unferer Re 
publit — ih Tann wohl fagen — durchgängig den Eharaftır 
einer Parklandfchaft verleiht, ſobald man fie aus zureichender Ent: 
fernung betrachtet, jo daß die Gebrechen eines Mangels an Boll 
endung und die roheren Beigaben der Beldwirthfchaft verfchwinden. 

Bei Jaaf verhielt fih die Sache, obfhon er den Wald und 
das Waldleben fehr Tieb gewonnen hatte, in vielfacher Beziehung 
anders. Bon Kindheit auf an Arbeit gewöhnt, ließ er. fich felbk 
in feinem ungemein hohen Alter nicht davon zurüdhalten, und er 
ſchleppte täglich Die Haue, die Art oder den Spaten umher, nad 
dem er fchon viele Jahre Feines dieſer Werkzeuge mehr mit der 
erforderlichen Kraft zu handhaben vermochte. Das Wenige, was 
er in diefer Weife ausrichtete, geſchah nicht ſowohl, um fich der 
Gedanken zu entichlagen, da er fich mit dieſen nie den Kopf zer- 
brach, fondern war blos Folge der Gewohnheit und des Wunfches, 
ftets Jaaf“ zu bleiben und die Rolle feines früheren Lebens fort- 
zuſpielen. 

Es thut mir leid, ſagen zu müſſen, daß feiner von dieſen 
beiden Männern je eine wefentliche Kenntniß von den Wahrheiten 
des Chriſtenthums bejaß oder irgend eine erkennbare Hinneigung 
an diefelben Eund gab. Bor hundert Jahren war auf den Schwar⸗ 
zen wenig geiftige Pflege verwendet worden, und die Schwierig. 
feit, in diefem Punkte auf den Indianer einen Eindrud zu machen, 
ift gefchichtlich geworden. Vielleicht Tann man ſich noch den beften 
Erfolg verfprechen, wenn ein frommer Mifftonär bis in Die abge- 
legenen Dörfer dringt und feine Lehre fern von der jänmerlichen 
Beleuchtung ihrer Wirkungen ausftreut, die ſogar ein, ganz gele⸗ 
gentliher Beobachter an den Wohnpläßen der civilifirten Menfchen 
zu erfennen im Stande if. Daß das Chriftentbum einen tiefen 
und wohlthuenden Einfluß auf unferen gefellichaftlichen Zuftand 
ausübt, kann nicht bezweifelt werden; aber wer auch nur ober⸗ 


‘ 


389 


flächlich mit den fogenannten hriftlichen Nationen bekannt ift und 
den Wirkungen diefes Einfluffes nachfpüren will, trifft auf fo viele 
widerfprechende Belege, daß man fich ſtark verfucht fühlt, an der 
Wahrheit von Dogmen zu zweifeln, die fo wenig Macht zu befiten 
fcheinen. Wohl möglich, daß e8 Susqueſus eben fo erging, denn 
er hatte in früherer Zeit ausfchlieplich im Verkehr mit den Blaß⸗ 
geftchtern gelebt und ſich in den Flanken der Armeen oder unter 
Jägern, Feldmeflern, Boten und Kundfchaftern umgetrieben — 
Lebensftellungen, die nicht fonderlich geeignet find, hohe Anfichten 
von moralifcher Bildung zu erzeugen. Gleichwohl waren viele 
ernfte und anhaltende Verſuche gemacht worden, in dem betagten 
Indianer einige Borftellungen von dem Fünftigen Zuftand eines 
Blaßgeſichts zu erweden und ihn zu bereden, daß er fich taufen 
lafje. Namentlich hatte meine Großmutter ein halbes Jahrhundert 
lang ſtets auf diefes Ziel hingearbeitet, aber ohne Erfolg. Die 
verſchiedene Geiftlichkeit aller Bekenntnifje hatte ihm in verfelben 
Abfiht mehr oder weniger Aufmerkfamfeit erwiefen, aber auch 
ihre Anftrengungen hatten eben jo geringe Refultate zur Folge. 
Unter Andern war namentlih Mr. Warren in diefem Theil feiner 
Pflicht nicht fäumig geweſen; indeß fchlugen feine Bemühungen jo 
gut fehl, wie die feiner Vorgänger. Wie auffallend es auch Man- 
chen jcheinen mag, obſchon ich für meine Perfon nichts Befremd⸗ 
liches darin ſehen Tann, fo hatte fih auch Mary Warren diefem 
wohlwollenden Plane mit warmem Eifer und inniger Theilnahme 
angefchloffen, und zwar fo, daß in Ausficht fland, fie werde mehr 
erzielen, als Diejenigen, welche fich fo viele Jahre mit dem nämlichen 
frommen Dienfte abgegeben hatten, auch nur zu hoffen wagten. 
Sie pflegte häufig die Hütte zu befuchen, und ich erfuhr an jenem 
Morgen von Patt, obgleih Mary felbft nie über den Gegenftand 
Ipreche, hatten Doch Andere genug gefehen, um es über allen Zweifel 
zu erheben, daß ihr frommer Sinn und ihre Gebete wenigftend 
einigermaßen das marmorartige Herz des Fährtelofen gerührt hätten. 


590 


In Betreff Jaaf's iſt's vielleicht möglich, Daß es fein Unglüd 
war, der Sklave einer Familie zu fein, die der bifchöflichen Kirche 
angehörte — einer Sekte, die es in ihrem religiöfen Ritus mit 
reinen, gemäßigten Formen hält und fo wenig von Webertreibung 
wiſſen will, daß fie oft in den Augen Derjenigen, welche Aufregung 
fuhen und unter einer ruhigen Faſſung fich Keinen Tebendigen 
Glauben denken können, als kalt erfcheint. „Eure Geiftlichen find 
nicht im Stande unter dem Bolt Bekehrungen zu veranlaſſen,“ 
fagte mir erft Fürzlich ein ſchwärmeriſcher Priefter, Der einem an 
dern Glaubensbekenntniß zugethan war. „Sie können nicht unter 
das Geſträuch und unter die Dornen gehen, ohne ihre Kirchenroͤde 
und ihre Weberfchläge zu zerreißen." Hierin mag einige Wahrheit 
liegen, obfchon das Hinderniß eher auf Seite der zu Bekehrenden, 
als auf der der Miffionäre zu fuchen if. Ein gemeiner Sinn liebt 
rohe Aufregung und meint, daß eine tiefe geiftige Empfänglichkeit 
nothwendig auch eine gewaltige phyfiſche Mitleivenfchaft erweden 
müffe. Für Solche reicht e8 nicht zu," daß man blos feufze, Höhne 
und wehklage, fondern diefe Akte müſſen fih in dDramatifcher und 
auffallender Form vor den Menfchen hörbar machen, damit fie 
wohlgefällig werden in den Augen Gottes. Soviel ift Übrigens 
jedenfalls gewiß, daß dergleichen Uebungen, wie fehr auch Vernunft, 
Erziehung, guter Geſchmack und eine gefunde Auffaffung der chriſt⸗ 
lihen Verpflichtungen dawider fein mögen, ihre Wirkung, wenn 
man fie auch nicht eben die befte nennen kann, unter den Unwiffenden 
und Rohen nicht verfehlen. Vielleicht hätte fich auch ein ähnlicher 
Einfluß bei Jaaf geltend gemacht, wenn dieſer zu einer Zeit, in 
welcher er derartigen Aufregungen zugänglich war, in Die Hände 
eines fchwärmerifchen Methodiften gefallen wäre, jebt aber war 
natürlich etwas Aehnliches nicht mehr zu hoffen, denn er ſchien in 
der That Alles überlebt zu haben, nur die Erinnerung an bie 
Perfonen und an die Dinge nicht, die ihm während feiner Jugend 
theuer geweſen. 


"im „. 


oe — — 


591 


Als Mann in der höheren Bedeutung des Worts war, wie 
der Lefer fich entfinnen wird, Susqueſus dem Schwarzen ſtets un- 
endlich überlegen geweſen. Jaaf's Einftcht hatte unter dem Fluch 
gelitten, der fo allgemein den afritanifchen Geift, wie wir denſelben 
früher unter uns kannten, gefehwächt zu haben fcheint, während 
der feines Gefährten ſtets viel von dem Hochfinn einer großartigen 
Natur befeffen hatte, wenn fie unter dem Einfluffe einer unge- 
zügelten, wenn auch wilden Sreiheit dem angeborenen Wirken über- 
laſſen bleibt. 

Dieß waren die Charaktere der beiden außerordentlihen Män- 
ner, denen wir nunmehr entgegen gingen. Als wir auf dem 
Raſen anlangten, kamen fie langſamen Schritts auf die Piazza 
zu.und hatten bereitd das Gefträuch erreicht, welches fich unmittels. 
bar um fie herzieht und feine Wohlgerüche bis nach dem Haus 
entjendet. Der Indianer ging, wie es feinem Charakter und 
Range ziemte, voran, denn Jaaf hatte feine Jahre und die Nach⸗ 
fiht, Die ihm zu Theil wurde, nie jo weit mißbraucht, um feine 
Stellung zu vergefien. Er war als Sklave geboren worden, hatte 
als Sklave gelebt und wollte ald Sklave flerben — dieß noch 
obendrein dem Emancipationsgefeg zum Trotz, welches ihn thats 
fächlich freigefprochen, als er noch lange nicht fein hundertftes Jahr 
erreicht hatte. Man erzählte mir, als mein Vater ihm mittheilte, 
er und feine Nachfommenfchaft, die fehr zahlreich war, ſeien jebt 
frei und Eönnten hingehen, wohin fie wollten, habe fich der alte 
Schwarze fehr unzufrieden geberdet. „Wozu dieß Alles gut, Maſſer 
Malbone?“ brummte er. „Warum Einen nicht gehen laffen? Nig- 
ger fein Nigger und weiß Gentlem’ fein weiß Gentlen’. ch fehe 
jetzt nix voraus als Schand und Armuth für mein Nachwuchs! 
Wir hab’ immer gewes’ Gentlem’s Nigger, und warum will man 
uns nicht Taffen fein Gentlem's Nigger, fo lang als wir mög’? 
Der alte Sus hab’ Freiheit all’ fein Leben, und was hat er Gut's 
damit? Nir, als daß er fein arm’ roth' Wilder und kann nie fein 


592 


was mehr. Wenn er fein könnt’ Gentlem’s Wilder, ſag' ich ihm, 
das wär’ noch was. Aber nein, er zu flolz für das. Goſh, io 
er nur fein eigener Wilder!" 

Der Onondago war im vollem Koftüm, fogar noch prunkhafter 


als bei Gelegenheit des erſten Beſuches von Seiten der Prairie⸗ 


indianer. Die Farbe, die er aufgetragen hatte, verlieh ſeinen Augen, 
— die ohne Frage durch das Alter trübe geworden waren, obſchon 
es nicht vermocht hatte, ihr Licht auszuloͤſchen — neues Feuer, und 
den ſtolzen und wilden Ausdruck erhöhten ohne Zweifel noch die 
Furchen der Zeit. Daß die rothe Karbe bei den Indianern Ameri- 
ka's fo beliebt ift, Liegt vieleicht eben fo fehr im menfchlichen We⸗ 
fen, als die Thatfache, daß unfere Damen von Ziermitteln Gebraud 
machen, um die fehlenden Lilien und Roſen nachzuahmen. u ein 
grimmiges Düfter hatte es übrigens der Onondago abgefehen, und 
er jete einen Ehrgeiz darein, in diefem Augenblidle vor feinen 
Bäften unter den Karben eines Rriegers zu erfcheinen. Daß ich mid 
über die Medaillen und Wampums, über die Federn, die Deden, 
die mit bunten Schweinsftacheln verzierten Moccafind und den 
filberblanten Tomahawk verbreite, if nicht nöthig, da Tehter Zeit 
fo viel über derartige Dinge aefagt, gefchrieben und Davon gejehen 
wurde, daß jeßt faft Jedermann weiß, wie fich der nordamerikaniſche 
Krieger ausnimmt, wenn er fi in feinem Putze zeigt. 
Eben fo wenig hatte Zaaf es verabfäumt, einer Feierlichkeit, 
Die vorzugsweije feinem Freunde galt, Die gebührende Ehre zu er- 
weifen. Er brummte und brummte zwar den ganzen Tag in einem 
fort, war aber nichts deſtoweniger der Auszeichnung eingedenk, welde 
Susqueſus widerfuhr. Es gehört zum Ton der Zeit, das Ber 
ſchwinden der Rothhäute aus unſerer Mitte zu beklagen; ich für 
meinen Theil aber bin mehr geneigt, zu bedauern, daß und ber 
„Nigger“ verloren gegangen tft. Ich bediene mid) diefes Ausdruds 
flatt des neueren und gezterten „farbigen Mannes,” da ich nur auf 
diefe Weife dem Amerikaner den Begriff beibringen fann, den id 


593 


damit verbinde. Das Verjchwinden des „Niggers“ thut mir leid, 
— jenes altmodijchen, ſorgloſen, Teichtherzigen, arbeitfamen, trä- 
gen, ſchelmiſchen, ehrlichen, treuen, hinterliftigen, brummenden und 
ftarrköpfigen Sklaven, der mitunter zu gar nichts taugte und dann 
wieder die Stüße mancher Familie war. Namentlich habe ich hier 
bei den Hausfklaven im Auge, welcher fich felbft mit den Intereſſen, 
vorzugsweife aber mit der Ehre Derjenigen, denen er diente, tdentt- 
fleirte und flet8 die Rolle eines demüthigen geheimen Raths, bis⸗ 
weilen auch die eines erften Minifters ſpielte. In der lebteren 
Eigenſchaft hatte ich zwar Jaaf nie unter uns auftreten fehen, und 
e8 iſt nicht ſehr wahrjcheinlich, daß er bei irgend einem feiner frü- 
heren Herren ein derartiges Amt verwaltete; aber er war ſtets ein 
mit großer Nachficht behandelter Diener, und wir hatten ung ganz 
und gar an ihn gewöhnt, nicht nur, weil er fo lange ung feine 
Dienfte geleiftet, fondern auch, weil er an mehreren von den wilden 
Abenteuern, welche unter die Eigenthümlichfetten der Urbarmacdjung 
eines neuen Landes gehören, brav und mannhaft Theil genommen 
hatte. Aus Diefem Grunde erfchien er und mehr in dem Licht eines 
bejcheidenen entfernten Verwandten, als in dem eines Sklaven. 
Lebteres war er ohnehin feit mehr als achtzig Jahren nicht gewe⸗ 
fen, da er dieſe ganze Zeit im Beſitz des unterzeichneten und regel⸗ 
mäßig einregiftrirten Freibriefs war, obfchon diefer, foweit der 
Neger dabei in Frage Fam, für ihn ein vollfommen todtes Pas 
pier blieb. 

Das Koſtüm Jop Littlepage's, wie diefer Schwarze vertraulich 
von Allen genannt wurde, die etwas von feinem Dafein Fannten 
— und ich muß hier bemerken, daß fein hohes Alter, wie Das des 
Susqueſus, mehr ald einer Zeitung Anlaß zur Berichterftattung 
gab — gehörte der alten „Nigger"-Schule an, wie ich fie nen» 
nen möchte. Sein Rod war fcharlachroth und hatte Perlmutter⸗ 
fndpfe von der Größe eines halben Dollars; an Die himmel- 
blauen Beinkleider ſchloßen ſich blau und weiß geftreifte Strümpfe 

Ravensneft. RR 


994 


an; feine Wefte war grün, und die Beine hatten Keine andere Ci⸗ | 
genthümlichkeit an fih, als daß der Ueberreſt der Waden vom 
am Scienbein faß, der Kuochen jelber aber jehr nach der Mitte 
der Sohle hingerüdt war, jo daß der Ferfentheil ungefähr die 
halbe Länge desjenigen hatte, welcher mit den Zehen in Berbin- 
dung fland. Die Schuhe bildeten einen fehr augenfälligen Theil 
des Anzugs, da ihre BVerhältniffe nach Länge und Breite einen 
Naturforfcher kaum hätten errathen laffen, fie könnten für ein 
menschliches Weſen beflimmt fein. Dagegen zeigte, nach Zaafs 
eigener Anficht, der Kopf und der Hut die wahre Glorie feiner 
Toilette und feiner Perfon. Was den Iebteren betraf, fo war 
er, da er einen Theil von meines Großvaterd, Des Generals 
Cornelius Littlepage, Yelduniform ausgemacht hatte, mit Borten 
befegt, und die Wolle darunter war fo weiß, wie der Schne 
der Berge. Diefe Art, fih zu tragen, ift unter der ſchwarzen 
Raſſe jowohl, als unter den Weißen längft verfhwunden; aber 
Spuren davon fonnte man noch bemerken, als mein Onkel ein 
Knabe war, namentlih um die Zeit jener eigentlichen Neger⸗ 
Feftlichkeiten, welche man die Pinkfter Holidays nannte. Troß 
der Ungereimtheit. im Anzuge machte Jop Littlepage bei diefer 
Gelegenheit Doch eine fehr achtbare Figur, und natürlich trug 
das hohe Alter der beiden Männer nicht wenig dazu bei, die 
Großartigfeit des Tags zu erhöhen. 

Wie fehr auch der Neger gewöhnlich zu brummen pflegte, ging 
Doch der Indianer, fo oft fle einen Ausgang machten, ſtets woran. 
So hatte er e8 früher auf der Jagd und auf dem SKriegspfad 
durch den Wald gehalten; fo hielt ex es bei ihren fpäteren Aus⸗ 
flügen nach den benachbarten Bergen, oder wenn fie gemeinfchaft- 
lich nah dem Dorf hinwandelten, um den militärischen Muſte⸗ 
rungen und ähnlichen auffallenden Ereigniffen anzumwohnen. Sa, 
er war fogar der Exſte, wenn Ar Wee WWechen Beſuche im Neſt 
machten, und auch jet gg u ken, ia wi 


995 


zufammengepreßten Lippen ein wenig voraus, während jein leuch- 
tendes Auge wachſam umberftreifte und das für die Laft des 
Alters noch immer ſehr edle Geficht eine wunderbare Faffung 
behauptete. Jaaf folgte ihm gleichen Schritts, aber doch fo 
ganz anders in Haltung und Ausfehen. Sein Geficht fchien 
faum mehr menfchlih zu fein. Selbſt die jonft jo glänzend 
fchwarze Farbe feiner Haut war in ein ſchmutziges mattes Grau 
übergegangen, während feine Lippen vielleicht den hervorragend 
fien Zug bildeten. Lebtere waren in unabläffiger Bewegung, 
denn der alte Mann ließ, wie in einer Art zweiter Kindheit, feine 
Kinnbaden arbeiten, als wolle er fühlen, ob die entwidelten Zähne 
Ihon durch das Zahnfleifch gebrochen feien. Dieß ging fort, wenn 
feine Kiefer auch nicht gerade durch das fortwährende Brummen 
in Thätigfeit gehalten wurden. | 
Die Häuptlinge aus den Prairien hatten ſich noch nicht ein- 
gefunden, und als die beiden Greife auf ung zu kamen, gingen wir 
insgefammt ihnen entgegen. Wir reichten, felbft die Mädchen nicht 
ausgenommen, Susquefus die Hand und wünjchten ihm guten 
Morgen. Er begrüßte meine Großmutter und verrieth eine leb⸗ 
hafte Gefühlsaufwallung, als er ihr die Hand drüdte. Meiner 
Schwefter nidte er in Erwiederung ihrer guten Wünfche freundlich 
zu, und als ihm Mary Warren ihre Hand darbot, hielt er fie 
eine Weile in der feinigen, während er zugleich Den Mädchen ge- 
danfenvoll in's Gefiht jahb. Auch wir Beide, Onkel Ro und ich, 
wurden begrüßt, und fein Blick haftete ange und angelegentlich 
auf mir. Gegen die beiden andern Mädchen benahm er fich höf- 
ih, obſchon man bemerken konnte, daß fie feinem Herzen nicht 
nahe fanden. Für Susquefus Hatte man einen Stuhl auf den 
Rajen heraus gebracht, und er nahm feinen Sit ein. Was Jaaf 
betraf, jo kam er langfam zu uns heran und nahm feinen fchönen 
Edenhut ab, ſchlug e8 aber ehrerbietig aus, won dem Stute, Ver 
auch ihm angeboten wurde, Gebrauch zu wahen. Emmi 
u” 


596 


letzte Begrüßte geweien, weshalb er auch jebt der Erſte war, mit 
welchem meine Großmutter ein Gefpräh anfnüpfte. 

„Es if recht erfreulich, Jaaf," begann fi, „Euch und Euren 
alten Freund Susquefus wieder einmal auf dem Nafen des alten 
Hauſes zu ſehen.“ 

„Im Grund nicht ſo gar altes Haus, Miß Dus,“ antwortete 


der Neger in ſeiner brummenden Weiſe. „Denk mir fein gut genug; 


erſt vor kurze Zeit gebaut.” 

„Ja, vor fechzig Jahren, wenn Ihr dieß eine kurze Zeit nennt. 
IH war damals noch jung — eine Braut und weit über mein 
Verdienſte glücklich. Ach wie hat fich feither Alles geändert!” 


„3a, Ihr wunnerbar verändert — muß Euch dieß Iaffen, Ri : 


Dus. Ich wunner' mir felbft zuweil', daß eine fo junge Dam’ fo 
gar bald kann werd’ anders." 

„Ah, Jaaf, obfhon Euch, der Ihr fo viel älter feid, die 
Bett furz vorfommen mag, fo find doch achtzig Jahre eine ſchwere 


Lat. Ich erfreue mich zwar für diefes Alter noch einer trefflichen - 


Gefundheit und eines heiteren Sinnes; aber die Zeit behaupte ° 


Doch ihre Rechte.“ 


„Den? mir Euch noh, Miß Dus, wie die junge Lady da," ; 


er deutete dabei auf Patt. „Nun aber ſchein' Ihr wunnerbar 
anders, Auch der alte Sus ſich ferre viel veränder’ letzter Zeit 


— Tann nicht viel länger aushalten, glaub’ ih. Aber Infchen nie 


hab’ viel ächte Schroot in fi.” - 


„Und Ihr, mein Freund," fuhr meine Großmutter gegen Sus& 


quefus fort, der ſich während des Geſprächs mit Jaaf niedergefept 
hatte — „feht Ihr gleichfalls einen jo großen Wechſel an mir? 
Jaaf tft ein alter Bekannter von mir, und auch Ihr müßt mich fall 
aus meiner Kindheit her kennen — aus der Zeit, als ich mit mel» 
nem lieben alten trefflichen Onkel Kettenträger in den Wäldern 
lebte. 

„Warum follte Susquefus vergeffen Hein Zaunkönig? Sein 


u nn 


597 


Geſang Eling’ noch in feinem Ohr. In Susquefus’' Auge Elein 
Zaunkönig fih gar nicht veraͤnder'.“ 

„Dieß ift wenigftens galant und eined Onondago-Häuptlings 
würdig. Doch, mein jhäßbarer Freund, das Alter läßt fogar an 
den Bäumen feine Merkzeichen zurüd, und wir dürfen nicht hoffen, 
für immer verfchont zu bleiben.” 

„3a, die Rinde glatt am jungen Baum — rauh am alten 
Baum. Nie vergeffen Kettenträger. Er von gleichem Alter mit 
Susquefus — fogar ein wenig älter. Braver Krieger — guter 
Mann. Kennen ihn als jungen Jäger — er dabei, ald Jones 
vorging.“ 

„Als was vorging, Susqueſus? Ich hätte längſt zu erfahren 
gewünfcht, was Euch von Eurem Volke vertrieb, und warum Ihr, 
der Ihr doch im Herzen und in Eurer Lebensweife ftets eine Roth- 
haut bliebt, fo lange fern von Eurem Stamm unter ung Blaß⸗ 
gefichtern leben mochtet? Ich kann zwar wohl begreifen, warum 
e8 Euch bei ung gefällt und daß Ihr den Neft Eurer Tage in 
unferer Familie zuzubringen wünfcht, weil ich weiß, was wir mit 
einander durchgemacht haben und wie Ihr in früherer Zeit an 
meinem Schwiegervater und an dem Schwiegervater deffelben ge= 
bangen habt; aber ich möchte Doch, bevor der Todesengel Eins 
von ung abruft, den Grund Eennen lernen, der Euch, ald Ihr noch 
jo jung war’t, bewog, Euer Volk zu verlaffen und nun ſchon faft 
ein Sahrhundert fern von Eurem Stamm zu wohnen.” 

Während meine Großmutter in folcher Weife zum erften Mat 
in ihrem Leben diefen Gegenftand berührte, verwandte, wie fie 
mir fpäter erzählte, der Onondago feinen Blid von ihrem Ges 
fihte. Es kam mir vor, ald fei er überrafcht, dann ging feine 
Miene in Wehmuth über. Er beugte das Haupt ein wenig, und 
blieb geraume Zeit flumm fipen, augenfcheinlich über die Ber- 
gangenheit nachdenkend. Die Anfpielung meiner Großmutter hatte 
fichtlich das Fräftigfte von den noch übrigen Gefühlen des alten 


598 


Mannes angeregt und führte ihm Bilder von Dingen vor, bie 
längft vergangen und wahrfcheinlih nicht ganz frei von ſchmerz 
lihen Erinnerungen waren. Er mochte fein Haupt wohl ein 
volle Minute gebeugt gehalten haben, während feine Augen an 
dem Boden hafteten. 

„Kettenträger fag’ nie, warum?" fragte der alte Dann plöß- 
lich, indem er fein Gefiht wieder erhob, um meine Großmutter 
anzufehen. „Alt Häuptling auch nit? — er wiffen; nie davon 
fprechen, eh?“ 

„Nie. Ich Habe zwar von meinem Onkel und von meinem _ 
Schwiegervater gehört, fie feien von dem Grund unterrichtet, 
warum Ihr vor fo langer, langer Zeit Euer BolE verlaffen Hätte, 
und daß derfelbe Euch Ehre mache; aber feiner von Beiden lief 
fih weiter über die Sache aus. Man trägt fich hier mit dem 
Gerücht, die rothen Männer, welche die weite Reife gemacht hätten, 
um Euch zu befuchen, feien gleichfalls damit bekannt, und eben dieß 
fei eine der Urfachen, warum fie fo weit von ihrem Weg abgingen, 
um Euch ihre Ehrerbietung zu bezeugen.“ 

Susquefus hörte aufmerkfam zu, aber kein Theil feines Körs 
pers, mit Ausnahme der Augen, ließ nur eine Spur von Erregung 
wahrnehmen. Der ganze übrige Mann jchien aus einem völlig 
empfindungslofen Material geformt zu fein, aber Die unruhigen, 
fharfen und durchdringenden Augen öffneten einen Zugang zu dem 
inneren Wefen, und befundeten, Daß der Geift viel jünger war, als 
feine Behaufung. Gleichwohl ließ er fih zu Feiner Enthüffung 
bewegen, und unfere Neugierde, die fih immer mehr gefteigert 
hatte, wurde völlig getäufht. Es fund einige Zeit an, ehe der 
Indianer überhaupt wieder den Mund zur Rede öffnete, und als 
dieß endlich gefchah, fagte er blos: 

„Gut. Kettenträger weifer Häuptling — auch Schin’ral weile, 
Gut im Lager — gut bein Beratungen. len, warn zu 


fprechen, — willen, was zu wuen 


599 


Ob meine theure Großmutter geneigt war, den Gegenftand 
weiter zu verfolgen, Tann ich nicht jagen, denn in demfelben Au- 
genblide bemerkten wir, daß die Rothhäute aus ihrem Quartier 
heraus kamen und von der alten Farm nach dem Raſen herüber 
aufzubrechen im Begriffe waren, um vor dem Antritt ihrer langen 
Reife nach den Prairien dem Fährtelofen ihren lebten Befuch zu 
machen. Als fie dieß bemerkte, brach fie jedes weitere Geipräd 
ab, und mein Onkel führte Susquefus nach dem Baume, wo für 
die Säfte die Bänke aufgeftellt waren. Ich jelbft nahm meinen 
Seffel mit, um ihn hinter der Bankreihe aufzupflanzen. Alle An⸗ 
wejenden begleiteten uns, jelbft die Dienftboten, welche in der ge⸗ 
wöhnlichen Befchäftigung der Hauswirthfchaft entbehrt werden 
konnten. Der Indianer und der Neger, jeder hatte feinen Sig; 
auch waren für die Glieder der Familie Stühle beigefchafft wor⸗ 
den, die wir zwar in der Nähe, aber doch fo weit im Hintergrund 
aufftellen ließen, daß wir nicht aufdringlich erfchienen. 

Die Indianer der Prairien langten in ihrer gewohnten Marfch- 
ordnung an, in einer einzigen Zeile nämlich. Vielzunge ging vor⸗ 
aus; auf ihn Fam Prairiefeuer, Kiefelherz und Adlersflug, wäh 
rend die Uebrigen zwar ohne Namensdiftinetion, .aber doch in 
vollfommener Ordnung folgten. Zu unfrer großen Ueberrafchung 
brachten fie die beiden Gefangenen mit, welche fie mit dem Scharf- 
finn der Wildniß in einer Weiſe gebunden hatten, daß ein Entkom⸗ 
men faft unmöglich war. 

Es iſt unnöthig, fih darüber zu verbreiten, wie die Fremd⸗ 
linge fi benahmen, als fie die ihnen zugewiefenen Pläbe auf den 
Bänfen einnahmen, da ihr Verhalten dabei im Wefentlichen fich 
nicht von dem unterfchied, das fie bei ihrem erften Befuch beob⸗ 
achteten. Ihre Haltung verrieth daffelbe Intereſſe, und ihre Neus 
gierde oder Verehrung fchien in Folge des Umftandes, daß fie 
einen oder zwei Tage in der unmittelbaren Nähe des Geggukanns 
Derfelben verweilt hatten, durchaus wit nayglafen u Snben. 


600 


Daß dieſes Gefühl einigermaßen in dem hohen Alter und in der 
reichen Erfahrung des Fährtelofen feinen Grund Hatte, ließ fih 
wohl als wahrjcheinlich denken, obſchon ich mich der Idee nicht 
entichlagen konnte, e8 müffe irgend etwas Ungemwöhnliches mitwirken, 
das diefen eingeborenen Söhnen des Bodens durch ihre Traditionen 
überliefert worden, für und aber verloren gegangen mar. 

Der amerikanifche Wilde erfreut fih in einer Hinficht eines 
großen Vortheils über den civilifirten Menſchen defjelben Welt⸗ 
theild. Seine Ueberlieferungen find in der Regel wahr, während 
die mannigfaltigen Mittel, Kenntniffe unter uns zu verbreiten, jo 
viele Aufdringlinge bewogen haben, fih in die Reihen der Weiſen 
und Gelehrten zu ftellen, daß derjenige, deſſen Geift dem Fluch der 
Falſchheit und des Vorurtheils entgeht, fich glücklich, Dreimal glüd⸗ 
lich preifen darf. Es wäre gut, wenn fich die Menjchen öfter erin- 
nerten, daß die Leichtigkeit, eine Wahrheit in Umlauf zu bringen, 
eben fo gut der Verbreitung von Lügen zu Statten kömmt, und 
wenn man auch durch Die tägliche Erfahrung belehrt wird, daß 
man nur die Hälfte von dem glauben darf, was man in öffent 
lichen Blättern liest, fo kömmt man doch leicht in die Lage, feinen 
Glauben jener Hälfte von Berichten zuzumwenden, die fi auf 
feine beftehenden Thatfachen gründen, oder diefelben Doch fo ver⸗ 
fümmelt darftellen, daß die Augenzeugen fie am wenigften erkennen 
würden. 

Der Ankunft der Gäfte folgte das gewöhnliche Schweigen. 
Adlersflug ſchlug fodann mit einem Steine Feuer, brachte die 
Flamme auf den Zabad und fog an einer jeltfam gefchnigten Pfeife, 
deren Material aus einem weichen Steine des Binnenlands beftand, 
bis feine Gefahr des Auslöſchens mehr zu beforgen war. Nachdem 
dieß geichehen, erhob er fich, trat mit ehrerbietiger Miene vor und 
bot die Pfeife Susquefus dar, welcher fie nahm und einige Sekun⸗ 
den daraus rauchte, dann aber Ar in die Hände wieder zurüdgab, 

aus benen ex fie empfangen hatte. Di mr do An mn 


601 


Anzünden der übrigen Pfeifen, von denen eine mir und meinem 
Onkel angeboten wurde, jo daß Jeder von uns einige Züge thun 
mußte. Sogar Sohn und die übrigen männlichen Dienftboten blie- 
ben nicht vernadhläfftgt. Prairiefeuer erwies diefes Kompliment in 
eigener Perſon unferm alten Rigger, der feinerfeits ein aufmerf- 
fames Auge auf Alles warf, was vorging, und jehr ärgerlich über 
die Knauferei wurde, welche eine fo baldige Zurückgabe der Pfeife 
forderte. Er gab fih auch feine Mühe, feinen Verdruß zu verheh- 
len, wie fih aus den mürrifchen Bemerkungen entnehmen ließ, die 
er hinwarf, als man ihm die Pfeife darbot. Seit unfürdenklichen 
Zeiten waren Eider und Taback die Höchften Genüffe in dem Da 
fein dieſes Schwarzen gewefen, und wie er nun ſah, daß Einer 
daftand, um nach ein paar Zügen die Pfeife wieder in Empfang 
zu nehmen, fo war es ihm ganz wie einem Menfchen zu Muthe, 
dem nach dem zweiten oder dritten Schlud der Krug wieder von 
dem Munde weggerifien wird. 

„Brauch' nix zu wart’ da," brummte der alte Jaaf. „Wenn 
ih fertig fein, gib’ Euch die Pfeife wieder. Hab’ Fein’ Sorg', 
Maſſer Corny, oder Mafjer Malbone, oder Maffer Hugh — 0 
Himmel, ich nie weiß, welcher am Leben, und welcher todt — 
werd’ fo alt jebt! Aber mach’ nir, wie alt auch — kann doch noch 
rauchen und hab’ kein Gefallen an Inſchenweiſe, zu geben Dinge, 
wo er ed gibt, und dann wieder nimm weg. Nigger ift Nigger, 
und Inſchen if Inſchen; Nigger immer viel der Beil. Himmel, 
wie viele Jahr' ih ſeh' — ja, ich ſeh — ganz müd’ nun, zu leb' 
fo lang. Thut nicht wart’, Infchen — wann ich fein fertig, Ihr 
krieg' die Pfeif' wieder, ſag' ich. Auch der beſt' Bakky mach' alt’ 
Jaaf nicht zu viel Rappelkopf — wär’ ja ſchrecklich!“ 

Obſchon Prairiefeuer wahrſcheinlich nicht die Hälfte von den 
Worten des Negers verftand, begriff er doch vollkommen deſſen 
Wunſch, den Tabak auszurauchen, eh’ er die Pfeife abgeben war. 
Dieß war zwar ganz gegen die Regel und \ab wie eine Kit mon 


— 


602 
Verachtung der indianifchen Bräuche aus; aber der rothe Mann 


hberfah dieß mit der Höflichkeit eines an hohe Gefellfchaft gemöhn- | 


ten Mannes und ging fo ruhig weg, als ob Alles in Ordnung 
ſei. In dieſer Beziehung zeichnet fih der Indianer ſtets durd 
feine feine Bildung aus. Nie bemerkt man in feinem Benehmen 
ein Achfelzuden, ein halbverhehltes Lächeln, eine Miene des Ber 
ftändniffes, einen Wink, ein Niden oder irgend Etwas von jenm 
Zeichen und Mittheilungen, zu denen der Ungebildetere in Gefel- 
ſchaft gewöhnlich feine Zuflucht nimmt. Er bleibt flets würdevof 
und ruhig, mag dieß nun Wirkung einer natürlichen Kälte ode 
des Charakters fein. | 


"Das Rauchen wurde nun allgemein, aber nur als Geremonis, 


da außer Jaaf Niemand darauf erpicht war, feine Pfeife zu Ende 
zu bringen. Was den Schwarzen betraf, fo war er eben fo feh 


der Meberlegenheit feiner Raffe über die der Rothhäute, als ein . 


Unterordnung der erfteren unter die der Weißen fich bewußt, und 
der Gedanke, daß die gegenwärtige Methode, fich des Tabacks zu 


bedienen, ein indianijcher Brauch fei — war für ihn ein zureihen ' 


der Grund, fih ihm nicht anzubequemen. Das Rauchen dauerte 
nicht lange, und dann folgte ein tiefes Schweigen, bis fich endlich 
Prairtefeuer erhob und zu fprechen begann. 

„Vater,“ ergriff er das Wort, „wir find im Begriffe, dich zu 
verlaffen. Unſere Squaws und Papuffe auf den Prairien wünſchen 
ung zu ſehen, und es ift Zeit ‚für und, daß wir gehen. Sie 
Ihauen aus nach ung in der Richtung de großen Salzſee's, und 
wir bliden nach den großen Fifchwaflerfeen, wo fie wohnen. Dort 
geht die Sonne unter — hier geht fie auf; die Entfernung tft are, 
und viele fremde Stämme von Blaßgefichtern leben längs des Pfa⸗ 
des. Unſere Reife iſt eine Reife des Friedens geweien. Wir haben 
nicht gejagt und auch Feine Skalpe genommen, fondern nur unſem 
großen Vater, Onkel Sam gejehen und unfern großen Bater Sus 
quefus beſucht. Wir önnen nun zufrieden nad) der untergehenden 





— 


603 


Sonne heimziehen. — Bater, unfere Ueberlieferungen find wahr; 
fte lügen nie! Eine Tügenhafte Weberlieferung ift fchlimmer, als ein 
lügenhafter Indianer. Ein lügenhafter Indianer täufcht durch das, 
was er fagt, feine Freunde, fein Weib, feine Kinder; mas eine 
lügenhafte Meberlieferung fagt, täufcht einen Stamm. Unſere Ueber⸗ 
lieferungen find wahr; fie fprechen von dem biederen Onondago. 
Alle die Stämme auf den Prairien haben diefe Ueberlieferung ges 
hört und find erfreut darüber. Es ift gut, von Gerechtigkeit zu 
hören, fchlimm aber, wenn man Kunde erhält von Ungerechtigkeit. 


Ohne Gerechtigkeit ift ein Indianer nicht beffer, al ein Wolf, - 


Nein, es gibt Feine Zunge auf den Prairien, welche nicht von die⸗ 
fer ſchönen Ueberlieferung zu erzählen wüßte. Wir fonnten nicht 
an dem Wigwam unferes Vaters vorbeitommen, ohne feitwärts zu 
wandern, um ihn zu fehen. Unſere Squaws und Papuſſe ſehnen 
fih nah ung; wenn wir aber vergeffen hätten, unferem Bater 
einen Befuch zu machen, fo würden fie ung fagen, wir follen um⸗ 
ehren und es nachholen. — Warum hat mein Vater fo viele 
Winter geſehen? Es ift der Wille des Manitou. Der große Geift 
will ihn noch ein wenig länger hier behalten. Er gleicht den Stei- 
nen, die aufgehäuft find, um den Sägern zu fagen, wo der ange= 
nehme Pfad zu finden if. Alle rotben Männer, die ihn fehen, 
willen daraus, daß fie recht daran find. Nein, der große Geift 
fann meinen Vater auf Erden noch nicht entbehren, und will 
durch ihn den rothen Männern fagen, fie follen nicht vergeffen, 
was recht if. Er gleicht den aufgehäuften Steinen.” 

Damit ſchloß Prairiefeuer und feßte fich unter einem dumpfen, 
beifälligen Gemurmel wieder nieder. Er hatte dem Geſammtgefühl 
Worte geliehen und damit den Erfolg erzielt, der ſolchen Bemü— 
hungen nicht entgehen Fann, Susquefus war von dem Geſpräche 
fein Wort entgangen, und ich Eonnte bemerken, daß ihm fein In« 
halt zu Herzen ging, obichon er bei diefer Gelegenheit weit weni- 
ger Erregung befundete, als dieß bei der früheren Zufammentunft 


604 


der Fall gewefen war. Ohne Zweifel hatte Damals Die Neuheit 
der Scene dazu beigetragen, feine Empfindungen zu fleigern. Rad 
diefer Einleitungsrede folgte eine Pauſe, und wir erwarteten ix 
großer Spannung, daß der berühmte Redner Adlersflug fih er 
heben werde, als mit einem Male ein etwas Tächerlicher Vorfal 
die feierliche Würde der Scene unterbradh. Statt dag, wie Biek 
zunge uns bedeutet hatte, Adlersflug mit Kraft und euer zu 
fprechen begann, erhob fi ein viel jüngerer Krieger und Hub 
an zu reden, während feine Zuhörer ihm eine Aufmerkſamkeit 
ſchenkten, welche bekundete, daß er ihre Achtung beſaß. Wir er 
fuhren, daß der Name diefes jungen Kriegers in der Ueberſetzung 
Hirſchfuß Tautete — eine Bezeichnung, die er feiner erprobten 
Schnelligkeit verdankte. Zu unfrer Ueberraſchung jedoch wandte er 
fih an Jaaf, denn die indianifche Höflichkeit forderte, daß auf 
einige Worte an den langjährigen, treuen Freund und Gefährten 
des alten Indianers gerichtet wurden. Der Lefer kann fich denken, 
daß wir Alle uns iber dieſe Kleine Probe von Huldigung fehr er 
göpten, obſchon wir uns zugleich einigermaßen wegen der Antwort, 
die vielleicht drauf folgte, befangen fühlten. Hirſchfuß ſprach im 
Weſentlichen wie folgt: 

„Der große Geift flieht alle Dinge. Er macht alle Dinge. In 
feinen Augen ift die Farbe nichts. Obfchon er Kinder, die er licht, 
von rother Farbe ſchuf, fo ließ er Doch auch Kinder, die er liebt, 
mit blaſſen Gefichtern in’s Dafein kommen. Dabei hielt er noch 
nit inne. Nein, er fagte: ‚ich wünfche Krieger und Männer zu 
jehen, mit Geflchtern ſchwärzer als die Haut des Bären. Ich wil 
Krieger haben, welche ihre Feinde ſchrecken follen durch ihre Ge⸗ 
fichter.“ So ſchuf er ſchwarze Menſchen. Mein Bater ift ſchwarz; 
feine Haut ift weder roth, wie die des Susqueſus, noch weiß, wie 
die Haut des jungen Häuptlings von Ravensneſt. Sie tft jebt 
grau, weil fie den Sonnenuhen \p wider Suuwer empfunden hat, 
aber ehemals war Te \o funny, me de ni da Ti. S 


ee TR 


= a mm. Ah Lie _ anni IESGDERER Zain 


605 


muß damals fchön gewefen fein, fie anzufehen. — Mein ſchwarzer 
Bater ift ſehr alt; man fagt mir, er fei fogar älter, als der biedere 
DOnondago, Der Manitou muß eine große Freude an ihm haben, 
daß er ihn nicht ſchon früher abgerufen hat. Er hat ihn gelaffen in 
feinem Wigwam, damit alle ſchwarzen Männer jehen, wen ihr großer 
Geiſt liebt. — Dieß iſt die Ueberlieferung, welche durch unfere 
Bäter auf uns verpflanzt wurde. Die Blaßgefichter kommen vom 
Sonnenaufgang und wurden geboren, ehe die Hibe ihre Haut ver- 
brannte. Die fchwarzen Männer famen her von der Sonne im 
Mittag, und ihre Gefichter wurden dunkel, weil fie aufwärts ſchau⸗ 
ten, um die Wärme zu bewundern, welche ihre Früchte reifte. Die 
rothen Männer wurden geboren unter der untergehenden Sonne, 
und ihre Gefichter erhielten ihre Farbe von der des Abendhimmels. 
. Der rothe Mann ift hier geboren, das Blaßgeficht drüben über dem 
Salzſee; der fhwarze Mann kam aus feinem eigenen Lande, wo 
die Sonne ſtets über feinem Kopf ſteht. Was erfieht man hieraus? 
Wir find Brüder. Dicklippe“ (dies war der Name, mit welchem, 
wie wir nachher erfuhren, die Rothhäute Jaaf bezeichneten) „ift der 
Freund von Susquefus. Sie haben nun fehon fo viele Winter 
in demjelben Wigwam gelebt, daß ihr Wildpret und ihr Bären» 
fleifch den nämlichen Gefchmad hat. Sie lieben einander, und wen 
immer Susqueſus liebt und ehrt, den Lieben und ehren alle gerech- 
ten Indianer. Ich habe nichts weiter zu ſagen.“ 

Zuverläffitg würde Jaaf ˖ von diefer Anrede Teine Sylbe ver- 
ftanden haben, wenn ihm nicht Bielzunge zuerft bedeutet hätte, daß 
Hirſchfuß ausfchließlich zu ihm Tpreche; im Verlauf des Vortrags 
aber überfeßte ihm der Dolmeticher in Elaren Worten Sab für 
Satz. Vielleicht hätte aber auch diefe Sorgfalt nicht zugereicht, 
ihm begreiflich zu machen, was vorging, wenn nicht Patt auf ihn 
zugegangen wäre und ihm in einer Stimme und Weife, wie er 
fie verftand, bedeutet hätte, er folle jebt auf das, wı& ont 
werde, aufmerken und, fobald Hirſchfuß wieder Klo we, W 


606 


Mühe geben, etwas darauf zu erwiedern. Jaaf war an meine 
Schweiter gewöhnt und fo fehr von der Nothwendigkeit überzeugt, 
ihr als einer von feinen vielen „jung Miſſuſſes“ — welde, 
wußte er felbft kaum — Gehorfam leiften zu müfjen, daß es ihr 
gelang, ihn vollkommen aufzuweden, und er feßte ung Alle durd 
die finnreiche und fehr charakteriftifche Antwort, Die er aufge 
fordertermaßen zu geben nicht fäumte, in Erflaunen. Ehe er zu 
fprechen begann, klappte er zwar die zahnlofen Kiefer zuſammen, 
wie ein zorniges Schwein; da aber „jung Miffus” ihm gefagt 
hatte, er müfle antworten, fo antwortete er auch. Wahrfcheinlid 
befaß der alte Knabe noch eine Art Erinnerung "an ähnliche 
Scenen, da er während feiner jüngern Jahre unter den verfgie 
denen Stämmen New⸗Yorks, welche mein Großvater, General 
Mordaunt Littlepage, zu wiederholten Malen als Commiſſionaͤt 
befuchte, manchem Berathungsfeuer‘ angewohnt hatte. 

„Na,“ begann Jaaf in abgebrochener, fchnippifcher Weile, 
„ſchätz' wohl, Nigger muß etwas ſag'. Sein fehre große Spre 
her, weil ich fein Inſchen fein. Nigger hab’ zu viel Arbeit, um 
der ganz’ Tag zu red’. Mas Ihr fag’ von Nigger, wo er komm 
ber, ift nicht wahr. Er komm' von Afrifa, wie ich hör’ ſag', vor 
langer Zeit. Ach Gott, wie alt ich werd’! Bisweil’ ich denk’, arme 
alt ſchwarz Mann fich leg' nie nieder und ruh' aus. Iſt doch, als 
fomm’ Jedermann zu fein’ Ruh’, nur alte Sus nicht und ich. Ich 
noch fehre Kraft und werd’ ſtärker und ftärker, obfchon wunnerbar 
müd'; aber Sus werd’ fhwächer und fehwächer jede Tag. Kanne 
nicht mehr lang treib’ jept, alte Sus. Jedermann muß einmal 
fterb’. Alte, alte, alte Maſſer und Miſſus — fie fterb’ zuerf. 
Dann geh’ Maffer — auch kommen ziemlich weit, dann Reih' an 
Maffer Mordaunt und Maffer Malbone, und nun da ein annerer 
Maffer Hugh. Na, fle mir alle fo ziemlich gleich. Ich Lieb’ fe 
alle, und alle von ihnen lieh’ mih. Dann zahl’ auch Miß Dus 
für 'was; aber fie noch Ich’, Kommt Zeit, fie muß auch ſterb', 


= 1 Een ME A nn —— un Mn 


. 2 urn. 


607 


aber fie nicht ſchein' wol’ zu geh. Ach Gott, wie alt ich doch 
werd’! — — Ha! da komm' jene Deifel von Anfchens wieder, 
und dießmal müß’ wir ausfeg! Hol’ Euer Büchſ', Sus, Hol’ 
Euer Büchf’, Zunge, und vergeß nicht, daß alte Jaaf Euch ſteh' 
beim Ellbog'.“ 

Und fo verhielt fih’8 auch; die Inſchens kamen richtig heran. 
Was übrigens jet folgt, muß ich für den Anfang eines weiteren 
Kapiteld aufjparen. 


Achtundzwanzigſtes Kapitel. 


„Hof, daß dein Leid vom großen @eift 
@eahnet werde, warn die Glieder modern; 

Doch gräme dich — daß Niemand lebt, um dann 
Das Erbe deined Thrond und Ruhm zu fordern.“ 


Nothiacke. 


Es war etwas auffallend, daß der alte triefäugige Neger der 
Erfte unter und war, welcher die Annäherung eines Inſchenhaufens 
von nicht wohl weniger als zweihundert Mann bemerkte; der Um: 
ftand läßt fih übrigens aus der Thatfache erklären, daß die Augen 
aller Mebrigen auf den Sprecher gerichtet waren, während die de} 
Redners jelbft auf gar nichts Hafteten. Die Infcheng zogen in 
Maffe Heran, und diesmal augenfcheinlich ohne Furcht. Der weiße 
Amerikaner tritt, wenn er auf den Kampf vorbereitet ift, dem 
rothen Mann mit viel Zuverficht entgegen, und das Nefultat hat 
gezeigt, daß er, wenn er in der Wildniß auf feine eigenen Hilf- 
quellen angewiefen ift und Zeit gehabt hat, einige Erfahrung zu 


gewinnen, gewöhnlich zu einem ſehr furchtbaren Feinde wird. Dem 


noch war ein Dutzend Indianer von dem Gepräge derjenigen, welde 


fich bewaffnet und gemalt bei uns zu Befuch eingefunden hatten - 


und in dem Herzen einer unferer größten und bevölkertfien Counties 


fanden, wohl geeignet, befagte ganze County in einen Paroxismus 


von Furcht zu weregen. So \any ber Sehante keine Zeit gewam 
und das Gericht niit duch Tr dire Berlin aut 


= 


| 
Ä 


609 


gelegt wurde, Eonnte natürlich nur panifcher Schrecken herrſchen. 
Die Mütter drüdten ihre Kinder an fih, die Väter wollten ihre 
Söhne von der Schlachtbank zurücdhalten, und fogar die Helden 
vom Militär vergaßen einen Augenblid unter der Eingebung der 
Klugheit und Vorficht ihr kriegeriſches Feuer. 

So war die Lage der Dinge in und um Ravensneſt, als 
Kiefelherz fo unerwartet feine Begleiter in den Wald führte und 
die „tugendhaften, bedrückten“ Pächter meines Befitzthums ausein⸗ 
ander trieb, wie ſie eben von einem Meeting zurückkehrten, das den 
tugendhaften Zweck hatte, mein Eigenthumsrecht an die Farmen, 
die fie bewirthfchafteten, auf fich felbft zu übertragen. Niemand 
zweifelte in jenem Augenblick, daß ich neben den andern unerhörten 
Dingen, die von mir und den Meinigen begangen worden waren, 
auch einen Haufen Wilder aus dem fernen Werften herbeigezogen 
hatte, um fie den Streitkräften entgegen zu feben, die in Folge der 
Bemühungen meiner Pächter, und zwar nad) einem Grundfaße, der 
das Licht einer näheren Unterfuchung feheute, ſchon im Felde ſtan⸗ 
den. Hätte ich auch fo gehandelt, fo glaube ich kaum, daß ich 
nicht moralifch vollkommen gerechtfertigt gewefen wäre; denn ein 
derartiges Uebel, das man zu jeder Zeit in einem Monate hätte 
unterdrüden können, während vie felbftflchtige Gleichgültigkeit der 
Bürgerfhaft e8 Jahre lang ungehemmt fort wuchern ließ, gibt 
Jedem das natürliche Recht der Selbftvertheidigung zurüd. Frei— 
lich zweifle ich nicht, daß ich, wenn ich zu einem derartigen Mittel 
meine Zuflucht genommen hätte, ohne Erbarmen und ohne ein 
Fürwort von Seite unferer Philantropen gehängt worden wäre; 
höchſtens dürfte mir noch die Wohlthat der „Geiftlichkeit” dieſes 
Landes zu gut gekommen fein, eh’ ſich's nämlich darum handelte, 
mich an dem Hals aufzufnüpfen. 

Sobald übrigens in Betreff des eigentlichen Zwecks, um deſſen 
willen die Rothhäute fich eingefunden hatten, die Baht HA 

Kavensneft. 0 


610 


geworden, war aber alle Furcht verfchwunden. Der Muth der 
„Tugendhaften und Ehrlichen" Tebte wieder auf, und eine der erften 
Kundgebungen diefes ermeuerten Geiftes war der Berfuch, mir Haus 
und Scheunen anzuzünden. Eine fo ernfllihe Demonftration — 
glaubte man — währe wohl geeignet, mich von der gewichtigen 
Macht des Volkes zu Überzeugen und uns Alle zu belehren, daß 
es nicht Luft hatte, ungeftraft fich feine Wünſche kreuzen zu Laffen. 
Da Niemand gern Haus und Scheunen einen Raub der Flammen 
werden fieht, fo mußte es feltfam zugehen, wenn man einer folchen 
Kundgebung des „Geiftes der Inftitutionen“ Widerftand Leiftete; 
denn man kann mit dem gleichen Nechte annehmen, daß die Ber: 
fuche der Morvbrenner aus ihrem politifchen Glaubendbekenntniß 
flammten, als man diefelbe Grundlage den Beftrebungen der Pädı- 
ter, mehr Rechte zu erhalten, als in ihren Berträgen beftimmt 
waren, unterzuftellen befugt if. - 

Die Gewohnheit, an Aeußerlichkeiten feftzuhalten, welche unter 
einer gewiſſen Klaſſe unferer Bürger jo allgemein ift und in reli⸗ 
gioͤſen Dingen fortdauert, nachdem das Lebensprinzip jelbft bereits 
der Vergeſſenheit anheimflel, verhinderte an dem nächften Tage, 
welcher ein Sonntag war, jeden ernfllichen Ausbruch, obſchon aud 
Diefe Gelegenheit zu einer Einfchüichterung benüßt wurde; denn das 
Meeting ſammt feinen Rejolutionen war in einem geheimen Conclave 
von den Lokalführern des Antirentismus ausgehedt und in der bereite 
bejchriebenen Weife zur Ausführung gebracht worden. Dann folgte 
die Zerftörung des Kirchenftuhldach8 ald abermalige Demonftration 
im „Geift der Inftitutionen” — ſicherlich ein fo triftiger Beweis, 
wie nur einer von denen, welche feither zu Gunften der Lehre des 
neuen politifchen Glaubensbekenntnifjes aufgebracht worden waren. 
Die öffentliche Meinung bedarf zuverläffig einiger Erholung, nach⸗ 
dem fie fi fo weit ereifert hat, um Kirchen zu entweihen und 
Privateigenthum zu zerftören. Das Borhandenfein des Kirchen- 
ſtuhldachs hatte man lange als ein fehr triftiges Antirenten-Argu- 


611 


ment zu behandeln beliebt, und man Eonnte nunmehr erfehen, daß 
feine Zerflörung Demonftrationshalber ausgeführt worben war. 

Im Laufe ihrer Heldenthaten hatten übrigens die Inſchens 
ihre Furcht vor den Indianern fo fehr bemeiftert, daß die Führer 
der erfteren den heroifcheren Theil ihres Corps Kaum daran hindern 
onnten, auf den Sturm, in welchem fle das Kirchenftuhldach ges 
nommen, einen Coup de main gegen das alte Farmhaus und def- 
fen Bewohner folgen zu laffen. Wären die Anführer nicht ver- 
ftändiger gewefen, als ihre Untergebenen, jo hätte es zwifchen die⸗ 
fen beiden quasi Friegführenden Parteien leicht zum Blutvergießen 
kommen können. Aber die Krieger der Prairien waren die Gäfte 
Onkel Sams, und wenn man die Sache näher betrachtete, mußte 
man doch finden, daß der alte Gentleman einen langen Arm hatte, 
der ohne viel Mühe von Washington bis nach Ravensneft herauf 
reichen Eonnte. Man durfte ihn daher nicht unbefonnener Weife ‚bes 
leidigen, denn feine Macht war befonders zu fürchten, fintemalen 
ohne ihn in jener Bertrags-Angelegenheit nicht einmal Inſchens und 
Agitation nöthig gewefen wären, weil ja doch die Albany⸗Politiker 
fo fehr geneigt waren, für die „tugendhaften und ehrlichen Leute” 
alle ihre Kräfte aufzubieten. Onkel Sams Indianer wurden dem⸗ 
gemäß weit mehr refpeftirt, als die Gefebe des Staates, und dieß 
war der Grund, Durch den fie dem Geſchick entgingen, im Schlaf 
ermordet zu werden. 

ALS Jaaf unfere Aufmerkffamkeit zum erften Mal auf die In⸗ 
ſchens lenkte, zogen fie langfamen SchrittS in einer langen Reihe 
die Straße einher, und ließen uns fomit, im Ball wir es für nö⸗ 
thig hielten, Zeit, unfere Stellung zu verändern, Mein Onkel 
war der Anficht, es dürfte nicht väthlich fein, auf dem Rafen 
außen zu bleiben, wo man einer fo jehr überlegenen Gewalt aus⸗ 
gefebt war, und traf demgemäß feine Maßregeln. Zuerſt erging 
an die weibliche Dienerfchaft, welche aus acht bis zehn Berfonen 
beftand, die Aufforderung, unverweilt nach dem Haus zurückzu⸗ 

I” 


612 


kehren, wo die Wirtbfchafterinnen und Dienftmädchen unter Johns 
Leitung alle unteren Läden verfchliegen und durch Riegel fett an- 
legen follten. War dieß geſchehen und hatte man außerdem das 
Thor und die beiden äußeren Thüren abgefperrt, fo wurde es nidt 
leicht, ohne Gefahr einen Angriff auf unfere Fefte zu wagen. Da 
Niemand eines zweiten Aufgebots zum Abzug bedurfte, fo war 
diefer Theil der Vorfichtsmaßregeln bald bereinigt, und das Haus 
befand fich vorderhand in Sicherheit. 

Während diefer Vorgänge fanden Susquefus und Jaaf An- 
laß, ihre Stellungen zu wechfeln und auf die Piazza zu Fommen. 
Auch hatten hier die beiden alten Knaben bereits wieder gemächlid 
ihre Sihe eingenommen, noch ehe einer von den Rothhäuten aud 
nur einen Fuß rührte. Lebtere verhielten fich fo unbeweglich, wie 
Statuen — den einzigen Kiefelherz ausgenommen, welcher mit den 
Augen das Didicht der nahegelegenen Schlucht zu recognoseiten 
ſchien; denn wie bereits bemerkt wurde, bildete daſſelbe einen ziem- 
lich ausgedehnten Berfted. 

„Wünſcht Ihr die Rothhäute im Haus zu haben, Obriſt?“ 
fragte der Dolmetfcher ruhig, nachdem e8 einmal fo weit gekommen 
war. „Wenn dieß der Fall ift, fo ſprecht Euch ungefäumt auf, 
oder fie werden im Nu wie ein Flug Tauben in jenem Berfted dort 
eingefallen fein. Dann kömmt's aber ficherlich zu einem Gefecht, 
denn diefe Leute ſpaſſen eben fo wenig, als ein Meilenftein; ſeid 
daher fo gut, Euch in Zeiten auszufprechen. “ 

Nach diefem Winke zögerten wir nicht länger, und das Er- 
fuchen meines Onkels, fie möchten dem biedern Onondago folgen, 
kam noch eben recht, um ihr Ausfliegen zu verhindern — ein Auf 
fliegen in dem Sinne, wie es Bielzunge gemeint hatte, denn es 
war nicht fehr wahrfcheinlich, daß diefe Krieger in der buchfäb- 
lichen Bedeutung Reißaus genommen, fondern nur den Verſteck der 
Wälder aufgefucht haben würden, weil eine derartige Weiſe dei 
Kriegführens ihren SGewohngeiten am angemeffenften war. Als 


613 


Übrigens der Indianerhaufen nach der Piazza kam, bemerkte ich, 
Daß namentlich Kiefelherz einen haſtigen, fpähenden Bli auf das 
Haus warf, fo daß wir daraus entnehmen Eonnten, er unterfuche 
vie Wehrfähigkeit viefes Plabes. Der Umzug der Häuptlinge ging 
mit der größten Ruhe von Statten, und am meiften wunderte ung 
der Umftand, daß Keiner von ihnen der Annäherung ihrer Feinde 
oder der Männer, die fie mit Zug als Gegner betrachten Fonnten, 
auch nur die mindefte Aufmerkfamkeit zu ſchenken jchien. Wir 
fihrieben dieſe außerordentliche Zurückhaltung der Feftigfeit ihres 
Charakters und dem Wunfche zu, in der Anwefenheit des Fährtes 
Iofen eine ruhige, würdevolle Haltung zu bewahren. War übri⸗ 
gens lepteres ausschließlich der wahre Beweggrund, der jede Kund⸗ 
gebung von Ungeduld, Beforgniß oder Unruhe unterdrückte, fo durf⸗ 
ten fie ſich wohl Glück wünfchen, daß es ihnen in fo hohem Grade 
gelungen war, ihre Gefühle im Zaum zu erhalten. 

Wir waren eben mit unferen Maßregeln zu Stande gekom⸗ 
men, als die Inſchens auf dem Nafen anlangten. Sohn meldete, 
daß alle Läden verfchloffen, defgleichen das Hauptthor und die 
kleine Thüre verriegelt feien. Ferner machte er uns die Mitthei- 
fung, er habe alle Männer und Sungen, die fih aufbieten Iießen, 
nämlich die Gärtner, die Arbeiter und das. Stallperfonal — eine 
Streitmacht von fünf bis ſechs Köpfen — bewaffnet in der Flur 
aufgeftellt und unfere Büchfen laden laffen. Mit einem Worte — 
die Vorbereitungen, welche meine Großmutter unmittelbar nad 
ihrer Ankunft getroffen hatte, kamen ung jebt fehr zu Statten und 
feßten und in die Lage, in Vereinigung mit unferen Freunden aus 
den Pratrien einen weit furchtbareren Widerſtand zu leiften, als ich 
andernfalls bei einer fo plößlichen Gefahr je hätte hoffen können. - 

Unfere Maßregeln waren ehr einfach. Die Damen ſaßen in 
ber Nähe des großen Thores, um im Nothfall von demfelben ge⸗ 
det werben zu koͤnnen; Susquejus und Jaaf hatten ihre Stühle 
ein wenig feitwärts, aber unfern von der vorermähnten Gruppe, 


614 


und die Männer aus dem fernen Wellen nahmen das entgegen 


gefeßte Ende der Piazza ein, wohin zu ihrer Bequemlichkeit die 
Bänke gejchafft worden waren. Bielzunge fand zwifchen den bei- 
den Abtheilungen unferer Gefellfehaft, um beiderfeits das Amt des 
Dolmetſchers verfehen zu können, während mein Onkel, ich, John 
und zwei oder drei andere Diener hinter unfern betagten Freunden 
Poſto gefaßt hatten. Seneka und fein Mordbrennergenofje befan⸗ 
den ſich in der Mitte der Häuptlinge. 


— — — — —_- 


In demjelben Augenblide, als die Inſchens den Raſen be . 


traten, hörten wir das Klappern eines Roßhufes, und jedes Auge 
wandte fih in die Richtung, aus welcher dieſer Ton Tam. Er 
fholl von der Schlucht ber, und gleich Anfangs war es mir vor⸗ 
gefommen, als ob ſich von diefer Seite des Thales aus uns Je⸗ 
mand nähere. So ftellte fih’8 denn audy heraus, denn bald nach⸗ 
ber befamen wir Opportunity zu Geſicht, welche den Pfad herauf 
galopirte. Sie hielt ihr Pferd nicht früher an, bis fie den Baum 
erreicht hatte, ſchwang fih mit einem einzigen Satz aus dem 
Sattel, lang den Zügel um einen Aſt und eilte rafchen Schritte 
dem Haus zu. Meine Schweiter Patt ging bis an die Stufen der 
Piazza vor, um den unerwarteten Gaft zu empfangen, und id 
folgte ihr in gleicher Abficht auf dem Buße. Opportunity's Be 
grüßung war übrigens haftig und verrieth Feine jonderliche Faſſung. 
Sie blidte umher, und fobald fie fi) überzeugt hatte, in welder 
Lage ſich ihr Bruder befand, ergriff fie mich beim Arm, um mid 
ohne viele — oder beſſer gefagt — ohne alle Umflände nach ber 
Bibliothek zu führen; denn fo viel mußte man zur Steuer ber 
Wahrheit diefer jungen Dame nachrũhmen, daß fie — fobald ſichs 


um etwas Ernftliches handelte — eine große Energie befaß. Das 


einzige Wahrzeichen einer Eleinen Abweichung von dem beabfidhtig- 
ien Zwede beftand darin, daß fie einen Augenblid inne hielt, um 
meiner Großmutter ihr Kommt a wien. , 

„Zm Ramen aUer Wunder, md Sr I Wi Sun mil 


- Pe 2— 


615 


fragte die regfame junge Dame, mich aufmerffam und mit einem 
Ausdrude, der halb böfe, halb zärtlich war, in's Auge faflend. 
„Ihr fteht über einem Erdbeben und fcheint es nicht zu wiſſen.“ 

Opportunity hatte Die Wirkung mit der Urfache verwechfelt; 
doch dieß Fam bei einem fo denkwürdigen Anlaffe nicht in Betracht, 
Augenfcheinlih war es ihr fehr ernft, und ich hatte aus Erfahrung 
gelernt, daß ihr Rath und ihre Winke uns Allen im Neft gute 
Dienfte zu leiften vermochten. 

„Auf welche befondere Gefahr fpielt Ihr an,, meine theure 
Opportunity 2" entgegnete ich. 

„Ah, Hugh! wenn’s nur wieder fo wäre, wie ehmald — wir 
Ale könnten jo glüdlih in Ravensneft beifammen fein! Doch es 
ift jegt Teine Zeit, von ſolchen Dingen zu fprechen; denn, wie 
Sarah Soothings fagt, ‚das Herz ift am meiften monopolifttt, 
wenn der Schmerz am tiefften fißt, und nur wenn fih unfere Ges 
fühle frei erheben können zu der Oberfläche der Einbildungskraft, 
entringt fih der Geift den Feſſeln der Knechtſchaft. Aber im 
gegenwärtigen Augenblid habe ich Keine Minute Zeit für Sarah 
Sosthings. Seht Ihr die Inſchens nicht?" 

„Dh, deutlich genug; und wahrfcheinlich jehen fie auch meine 
„Indianer“.“ 

„Ah, um dieſe kümmern fie ſich jetzt auf der ganzen weiten 
Welt am allerwenigſten. Anfangs, als man glaubte, Ihr hättet 
einen Haufen deſperater Wichte gedungen, um die Leute zu ſtal—⸗ 
piren, trug man fich wohl mit einiger Beforgniß; nun aber die 
ganze Gefchichte ruchbar geworden ift, kümmert man ſich feinen 
Strohhalm mehr um fie. Handelt ſich's um Skalpe, fo find es 
die ihrigen. Aber was ich Euch jagen muß — das ganze Land 
ift in Aufregung, und man trägt fih nah und fern mit dem Ge⸗ 
rücht, Ihr hättet eine Bande biutdürftiger Wilder aus den Prairien 
mitgebracht, um den Weibern und Kindern die Hälte abaulhurien 
und bie Pächter zu vertreiben, noch ehe die Lebentdanen pe 


616 


fein. Einige Leute jagen, die Wilden hätten eine Lifte, auf 
welcher alle die in Euren Verträgen genannten Leben verzeichnet 
feten, und wären im Begriff, mit diefen zuerft aufzuräumen, damit. 
Ihr das Geſetz fo viel wie möglich auf Eure Seite Frieget. Ihr 
fleht auf einem Erdbeben, Mir. Hugh — ja, ih fage Euch, Str 
fieht im der That auf einem Erdbeben.“ 

„Meine theure Opportunity,“ erwiederte ich Tachend, „ich bin 
Euch für die Sorge, die Ihr meiner Wohlfahrt ſchenkt, unendlih 
verbunden und räume Euch unverholen ein, daß Ihr mir Samstag 
Nachts einen wefentlichen Dienft geleiftet habt; indeß möchte ih 
fat glauben, ‚daß Ihr jebt die Gefahr übertreibt — daß Ihr die 
Farben zu flark auftragt.” ' 

„Durchaus nicht — ich wiederhole Euch feierlichſt, dag Ihr 
über einem Erdbeben ſteht, und weil ich ſtets Eure Freundin bin, 
habe ich diefen Ritt unternommen, um Euch in Zeiten zu warnen. 

„Ihr meint wohl, damit ich mich der Gefahr entziehe? Aber 
wie können wohl fo fchlimme, blutdürftige Gerüchte in Umlauf 
gekommen fein, wenn man, wie Ihr jelbft zugefleht, den Charakter 
der weftlichen Indianer kennt und doch die Furcht vor ihnen in der 
Stadtmarkung ganz verfehwunden ift? Hierin liegt ein Widerfprud.“ 

„Dh, She wißt wohl, wie es in diefen Antirentenzeiten geht. 
Wenn man einer Aufregung bedarf, fo bleiben die Leute nicht fo 
buchſtäblich bei den Thatfachen flehen, fondern fprechen Dinge nad 
und erfinden auch Dinge, juft wie's eben für fie gelegen if.” 

„Wohl wahr; dieß ift mir fehr einleuchtend, und es wird 
unter ſolchen Umfländen nicht fehwer, Euch Glauben zu jchenfen. 
Aber feid Ahr diefen Morgen einfach dephalb hieher gekommen, 
um mich über die Gefahr in Kenntniß zu ſetzen, durch die ich von 
dieſer Seite her bedroht bin?“ 

„Ich glaube, ich bin immer nur zu gerne bereit, nach dem 
Neſt herüber zu galopiren\ San ip, rer Wox& hat Die eine 

oder die andere Shwähe, DR wre Butter vun in 


617 


Regel machen," entgegnete Opportunity, welche ohne Zweifel den 
Augenblid für günftig hielt, um die &roberung mit einer vollen Salve 
vollbringen zu fönnen. Auch verftärkte fie das Gefchüß der Worte 
mit einem Blide, wie ihn nur der erfahrenfte Pikaroon auf der 
See der Galanterie er entfenden vermag. „Do, Hugh — id 
nenne Euch Hugh, Mr. Littlepage, denn in meinen Augen feid Ihr 
nur Hugh, nicht aber der ſtolze, übelgefinnte, ariftokratifche und 
hartherzige Grundherr, zu dem Euch die Leute gern machen möch— 
ten — ich wäre nie im Stande gewefen, Euch die Mittheilung zu 
machen, um derer willen ih Euch Tepthin mitten in der Nacht 
bejuchte, wenn ich geglaubt hätte, fie könnte Sen in eine ſolche 
mißliche Lage bringen. “ 

„Sch kann mir wohl denken, wie fehr Ihr Euch wegen Eures 
Bruders beängftigt fühlt, Opportunity; aber zählt Darauf, daß 
bei Behandlung diefer Angelegenheit Eure freundfchaftlichen Dienft- 
leiftungen nicht unberücfichtigt bleiben werden. “ 

„Wenn Ihr dieß im Sinne habt, warum wollt Ihr dann nicht 
zugeben, daß die Infchens ihn aus den Händen Eurer wirklichen 
Wilden befreien?" entgegnete Opportunity einfchmeichelnd. „Ich 
will Euch in Sens Namen verfprechen , daß er die Gegend verlaf- 
fen und, wenn Ihr darauf befteht, einige Zeit fortbleiben fol. Sf 
die Gefäjiihte in Bergeffenheit gerathen, fo kann er wieder zurüd- 
kehren.“ 

„So iſt alſo die Befreiung Eures Bruders die Urſache, welche 
die Inſchens hierher geführt hat?“ 

„Zum Theil — fie find darauf erpicht, ihn wieder zu haben. 
Er if in alle Geheimniffe der Antirenter8 eingeweiht, und fie 
fürchten für ihr eigenes Leben, fo lang er in-Euern Händen if. 
Wird er eingeängftigt und gibt er nur den vierten Theil von dem 
an, was er weiß, fo haben wir für die nächften zwölf Monate in 
der County auf keinen Frieden zu hoffen.“ 

In biefem Augenblid und che ih no Zeit font | KM RUE 


. 


618 


wort zu geben, wurde ich nach der Piazza berufen, denn die In- 
ſchens waren mittlerweile jo nahe herangelommen, daß es mein 
Onkel für räthlich hielt, an die Thüre zu treten und mir mit lauter 
Stimme kund zu thun, daß meine Anwefenheit wünfchenswerth fei, 
Ich ſah mich daher genöthigt, Opportunity zu verlaffen,, fintemal 
Die Dame fich Flüglicherweife nicht unter uns zeigen wollte, obfchen 
ihre Anwefenheit auf dem Nefte, foferne ſich's jetzt um eine Fürbitte 
für ihren Bruder handelte, weder Auffehen noch üble Deutung zur 
Folge haben Eonnte. 

Als ich die Piazza erreichte, waren die Infchens bis zu dem 
Baume vorgerüdt, wo wir anfänglich unfere Stellung gewählt hat- 
ten; fie machten daſelbſt Halt und fchienen gegenfeitig fich zu berath⸗ 
ſchlagen. Hinter ihnen her kam Mr. Warren, und eilte in gerader 
Linie auf ung zu, ohne auf die Leute Rüdficht zu nehmen, die, wie 
er wohl wußte, feindfelig gegen ihn gefinnt waren; feine Haft zeigte 
augenscheinlich, daß ihm darum zu thun war, das Haus nod) vor 
den „verkappten Bewaffneten” zu erreichen, Diefer kleine Umſtand 
gab Anlaß zu einem ergreifenden Vorfall, und ich kann nicht um⸗ 
hin, defjelben Erwähnung zu thun, gleichviel, ob auch der Bericht 
über Dinge, welche vielleicht Anderen bedeutjamer erfcheinen, da- 
durch unterbrochen wird. 

Mr. Warren drängte fich nicht geradenwegs durch den Haufen 
der Zumultuanten — denn dieß waren fie jedenfalls, wenn nicht 
etwa gar der jchärfere Ausdrud „Aufrührer" auf fie Anwendung 
fand — fondern machte einen Kleinen Umweg, um eine unnöthige 
Berührung zu vermeiden. Sobald er Übrigens den halben Weg 
zwifchen dem Baum und der Piazza zurüdgelegt hatte, fließen die 
Inſchens ein wildes, gellendes Gefchrei aus, und viele derfelben 
ſprangen vor, um ihn einzuholen und wahrſcheinlich feftzuhalten. 
An demfelben Augenblide, als wir ung in gemeinfamer Theilnahme 
an dem Geſchick des guten Rettord unwitisäh erhoben, eilte Mary 

von der Piazza weg, und war \e all nm rer Site ib nun 











‘ 619 


Armen ihres Baters, daß fie dahin geflogen zu fein ſchien. Ste 
klammerte fih an ihn an und drängte ihn augenfcheinlich gegen 
uns her; aber Mr. Warren zog es vor, ein weiferes Benehmen 
einzufchlagen, als Die Flucht geweien wäre, Er trug die Ueberzeit« 
gung in fih, daß er nichts gethan oder gefprochen hatte, was ihm 
nicht von der Pflicht geboten geweſen wäre, und machte deßhalb 
Halt, um fich gegen feine Verfolger umzuwenden. Der Schritt, 
welchen Mary Warren gewagt, hatte den Bewegungen jener geſetz⸗ 
loſen Menfchen Einhalt gethan, und das würdevolle Benehmen des 
Geiftlichen vervollftändigte den Sieg. Die Führer der Inſchens 
blieben fliehen, um ſich gegenfeitig zu berathen, und Alle, welche fich 
von dem Haupthaufen getrennt hatten, Eehrten wieder zu ihren Ge⸗ 
fährten unter dem Baume zurüd, fo daß Mr. Warren und feine 
bezaubernde Tochter unbeläftigt und mit Anftand au ung nach der 
Piazza kommen Eonnten, 

In demfelben Momente, in welchem Mary Barren auf ihren 
Vater zueilte, war ich vorgetreten, um ihr unter dem Einfluffe 
eines unmiderftehlichen Dranges zu folgen. Aber wie plöglich aud) 
dieſer Impuls einerjeitS war, kamen mir doch mein Onkel und 
meine Großmutter zuvor, indem der erftere mich an einem Rock⸗ 
zipfel erwifchte und mich mit aller Gewalt zurüdhielt, die leichte 
Berührung der leßteren aber fogar eine noch größere Gemalt über 
mich übte. Beide machten mir Vorftellungen, und hatten Dabei 
augenfällig das Recht fo fehr auf ihrer Seite, daß ich die Thor⸗ 
heit, die ic) begehen wollte, einfahb und mein Vorhaben aufgab. 
Wäre ich in die Hände der Antirenters gefallen, fo hätten fie — 
wenigfteng für den Augenblid — fich eines vollftändigen Triumphs 
erfreuen können. 

Mr. Warren ſtieg mit ſo ruhiger und unveränderter Miene 
die Treppe der Piazza heran, als beträte er ſeine eigene Kirche. 
Der wackere alte Gentleman hatte in der Schule des Reken ie 
Gefühle bewältigen gelernt, und da ex augexrdem gewinnt ar NE 


620 


auf den Schuß von oben zu bauen, fo hielt er ſich auch darauf 
gefaßt, fobald die Erfüllung einer ernſten Pflicht es forderte, Alles 
über fich ergehen zu laſſen. Ueberhaupt fand ich Bfters Gelegen- 
heit zu der Wahrnehmung, daß Furcht ihm unbefannt war. Bas 
Mary betraf, fo war fie mir nie in einem fo wahrhaft Tiebens- 
würdigen Lichte erfchienen, als in dem Augenblide, in welchem fie, 
zärtlich und vertrauensvoll an ihrem Vater ſich anfchmiegend, mit 
ihm die Treppe heraufftieg. Die Aufregung einer folchen Scene 
hatte ihr Antlid mehr als gewöhnlich geröthet, und vielleicht wirkte 
diefer Umftand mit, Daß der Glanz ihrer Augen um ein Wefentliches 
vermehrt wurde. Mit einem Worte — es kam mir vor, der 
menschliche Geift habe fih nie ein Bild phantaflren koͤnnen, in 
welchem fich weibliche Anmuth fo fchön mit kindlicher Aufopferung 
paarte. 

Patt, das liebe hochfinnige Mädchen, eilte ihrer Freundin ents 
gegen, um fie mit der ganzen Wärme und Innigkeit ihres Weſens 
zu umarmen, während meine Großmutter Mary auf beide Wangen 
küßte, und auch die zwei andern Mädchen nicht fäumten, die ges 
wöhnlichen Merkmale von Mitgefühl, wie fie ihr Gefchlecht aus- 
zudrüden geeignet ift, an den Tag zu legen. Auch Onkel Ro trat 
auf fie zu und Füßte ihr galant die Hand, fo daß das arme Mäd- 
hen über und über erröthete, nur der arme Hugh mußte fih in 
den Hintergrund halten und zufrieden fein, daß er feine Bewunde- 
rung in Bliden ausdrüden konnte. Indeß fing ich aus dem Auge 
des holden Weſens einen einzigen Strahl auf, der mich vollfom- 
men tröftete, indem er mir die Verficherung gab, meine Zurüds 
haltung werde begriffen und dem richtigen Beweggrunde zuge 
ſchrieben. 

Während dieſes intereſſanten Auftritts ſchienen nur die Män⸗ 
ner aus den Prairien unbeweglich zuzuſehen; denn ſogar die 
Dienſtboten und Taglöhner hatten ae warme Aelluahme an dem 

edein Benehmen des Minhens an den RL RU U U wi 








621 


liche Gefinde Ereifchte im Chor, als ob dieß nicht anders fein dürfe. 
Bon den Indianern aber rührte fich nicht ein einziger, und kaum 
Einer wandte den Blick von Susquefus ab, obfchon fie aus der 
Theilnahme, die wir Alle verrietben, erfennen mußten, daß in ihrer 
unmittelbaren Nähe etwas von Belang vorging, und auch der Um- 
ftand, dag ihre Feinde fich in kurzer Entfernung aufgeftellt hatten, 
ihnen befannt war. Mit Beziehung auf die letzteren glaube ich, die 
Unbekümmertheit oder fcheinbare Sorglofigkeit der wertlichen Krie= 
ger dürfte der AUnwefenheit der Damen zugefchrieben werden, weil 
fie fich wohl denken Eonnten, daß man fich nicht fonderlich vor ernft= 
lichen Feindfeligfeiten zu fürchten hatte, fo lange diefe zugegen wa⸗ 
ren. Die Zheilnahmlofigkeit der Häuptlinge ſchien fih auch auf 
den Dolmetſcher auszudehnen, welcher in demfelben Augenblide, als 
die Warren'ſche Epifode vorfiel, fich kaltblütig eine Pfeife anzündete 
und zu rauchen begann — eine Beichäftigung, in der er fich durch 
den Lärm und die Verwirrung unter und nicht flören ließ. Da auch 
die Inſchens ihrem Näherkommen Einhalt gethan hatten, jo fanden 
wir Muße zu einer Eurzen Berathung. Mr. Warren theilte ung 
mit, er habe die „verfappten Bewaffneten” an der Rektorei vorbei- 
fommen jehen und daraus Anlaß genommen, ihnen zu folgen, um 
ung, im Fall uns eine Beichädigung zugedacht wäre, als Vermitt- 
fer dienen zu Fönnen. 

„Die Zerförung des Baldachins über Hughs Kirchenftuhl muß 
Euch wohl nahdrüdlich belehrt haben, daß die Angelegenheit zu 
einem Losbruch gekommen if.” 

Bon diefem Borfalle hatte Mr. Warren noch gar nichts gehört. 
Obgleich er der Kirche fo nahe wohnte, dag man das Getöfe von 
Hammerfchlägen mußte wahrnehmen können, war Doch Alles mit 
folcher Fertigkeit geleitet worden, daß das Dach abgefchlagen und 
fortgefhafft war, ohne daß Jemand in der Rektorei auch nur das 
Mindefte davon merkte. Ueberhaupt war die Thatlahe wur LEN 
im Refte bekannt geworden, weil der Gegentam | when Emtin 


622 


noch in der Saint Andrewskirche von Ravensneft der Ariftofratie 
zur Bededung gedient hatte, jeßt in gleicher Eigenfchaft den Schwei- 
nen des Farmhauſes zu gut Fam. Der gute Geiftliche drückte feine 
Ueberrafchung etwas ſtark aus, obſchon, wie e8 mir vorfam, die 
Entfernung des anftößigen Daches ihm nicht in gleichem Grade zu 
Herzen ging. Er war zwar nicht der Mann, welcher einem Akte 
der Ungeſetzlichkeit und Gewaltthat, am wenigften aber dem Neid, 
Diefem den Amerikanern fo eigenthümlichen LZafter das Wort reden 
mochte, aber andererſeits konnte er fich auch nicht mit eiteln Aus⸗ 
zeichnungen befreunden, wenn diefe fich fogar bis in das Haus 
Gottes verirrten, wo doch Alle als gleiche Sünder fih einfinden 
möüfjen, um durch die Wirkungen der Gnade von der gemeinfamen 
Berdammmiß gerettet zu werden. Wie das Grab als der große 
Gleichmacher des menjchlichen Gefchlechtes erſcheint, fo ſollte auch 
die Kirche ald Vorbereitungsftufe für das Hinabfleigen nach jener 
Ziefe benügt werden, die — im geiftigen Sinn wenigſtens — 
Jeder zu erringen fuchen muß, ehe er hoffen kann, auch nur zu der 
fhlechteften unter den vielen Wohnungen im Haufe unferes Vaters 
erhoben zu werden! + 

Wir gewannen jedoch nur kurze Frift zum Athmen, als 
die Injchen fchon wieder vorzurüden begannen, und es wurde 
bald augenfcheinlih, daß fle nicht blos müffige Zufchauer bei der 
Scene, die inzwifchen auf der Piazza fpielte, zu bleiben, fon- 
dern in einer oder der anderen Weife eine thätige Rolle zu übers 
nehmen gedachten. Sie bildeten eine Linie, die weit mehr in 
dem Charakter der Miliben unferer großen Republik, als in dem 
der Krieger des Weſtens gehalten war, und kamen herangetrabt, 
um und bis in’d Innerſte unjerer Seelen zu erfchreden. Unſere 
Vorkehrungen waren übrigens getroffen, und Alles fo eingeleitet, 
wie man es nur wünfchen konnte. Durch das Beijpiel meiner 
Großmutter ermuthigt, behielten die Damen ihre Sitze in der Nähe 
der Thüre bei; die zum Haushalt aehörigen Männer blieben auf 


623 


ihren Pläßen flehen, und auch von den Indianern rührte fih nicht 
einer. Was Susquefus betraf, jo hatte er viel zu lange gelebt, 
um der Ueberraſchung und den übrigen Erregungen der niedrigeren 
Klaffen zugänglich zu fein, und die Männer der SPrairien ſchienen 
ihr Verhalten nach dem feinigen zu richten. So lange er unbe- 
weglich blieb, verriethen auch fie Feine Luft, von der Stelle zu 
weichen. | 

Die Entfernung zwifchen den Baum und der Piazza betrug 
nicht viel mehr ald hundert Schritte, es war alfo wenig Zeit er- 
forderlih, um fie zurüdzulegen. Indeß bemerkte ich doch, daß die 
Inſchens, allen Gefeen der Anziehung zum Zroß, immer langfamer 
und unftätiger in ihren Bewegungen wurden, je näher die Linieihrem 
Ziele rückte. Sie verlor ihre Bildung und. beugte ſich zu Eurven, 
obichon das Getrappel immer lauter und lauter wurde, als wuͤnſch⸗ 
ten die heranziehenden Helden ihren Muth durch Getöfe rege zu 
erhalten. Sobald fie fih auf etwa zwanzig Schritte der Treppe 
genähert hatten, hörten fie ganz und gar auf vorwärts zu geben, 
fondern ftampften blos noch mit den Füßen, wie es fchien in der 
Hoffnung, und durch Einfhüchterung zur Flucht zu bewegen. Ich 
hielt dieß für einen günftigen Augenblid, der zwifchen meinem One 
Tel und mir getroffenen Verabredung Folge zu geben, und trat als 
Inhaber des Eigenthums, welches von der gefeßlofen Bande alſo 
überlaufen wurde, an die Vorderfeite der Piazza, durch ein Zeichen 
Aufmerkfamkfeit fordernd. Das Getrampel hörte mit einem Male 
auf, und es herrfchte nun eine tiefe Stille, fo daß ich meine Rede 
ungehindert beginnen Tonnte. 

„Ihr Alle Eennt mich,“ ergriff ih ruhig und, wie ich hoffe, 
mit Feftigfeit das Wort: „Ihr wißt Daher, daß ich der Eigenthü- 
mer dieſes Haufes und diefer Ländereien bin. Als Eigenthümer 
befehle ich num Jedem von euch, den Platz zu verlaffen und euch 
nad der Landftrage oder auf das Eigenthum einer andern Perfon 
zu begeben, Wer nach diefer Warnung dennoch zurückbleibt, erlaubt 


624 


fih einen Eingriff in fremdes But, und Vergehungen ſolcher Ber: 
fonen find in den Augen des Geſetzes Doppelt ernft angeſehen.“ 

Sch Sprach dieſe Worte laut genug, fo daß fie von jedem Ans 
weienden vernommen werden Eonnten, obfchon ich zu viel behaupten 
würde, wenn ich jagen wollte, daß fie von befonderem Erfolg bes 
gleitet waren. Die Calicobündel neigten fi) gegen einander, und 
es fchien eine Art Aufregung flattzufinden; aber die Führer beru- 
bigten das Volt — im gegenwärtigen Fall des allmächtigen Volks, 
wie es in den meiften andern zu gehen pflegt. Die Souveränetät 
der Maſſe ift als Grundſatz wohl etwas Schönes und wirkt in 
langer, langer Zeit vielleicht auch einmal etwas Gutes — ja, ſie 
thut dieß in einem gemwiffen Sinne fogar immer, indem fie eine 
gewiſſe Art von höchſt gehäffigen und unverträglichen Mißbräuchen 
im Zügel hält; aber wenn man die alltäglichen politifchen Um- 
triebe in's Auge faßt, jo haben ihre kaiſerlichen Majefläten, die 
Souveräne von Amerika, unter die ich zufälligerweife auch gehöre, 
eben fo wenig Beziehung zu den Maßregeln, die fie dem Anfcheine 
nach zu fordern und aufrecht zu halten bewogen werden, wie der 
Nabob von Dude, fofern nämlich die Engländer, welche fi ſo 
uneigennüßig und großmüthig um die Rechte der Menfchheit küm- 
mern, wann immer die große Republik der Kleinen väterlichen Hei⸗ 
math einige Acres zulegt — einen folhen Potentaten noch im Da- 
fein gelafjen haben. 

Sp ging es nun auch mit der Entſchloſſenheit der „verkapp⸗ 
ten Bewaffneten“, bei der eben erwähnten Gelegenheit. Sie ent 
ſchieden fih dafür, daß meine Aufforderung, den Plaß zu verlaffen, 
nur mit einem verächtlichen Gefchrei beantwortet werden follte, ob⸗ 
ſchon fie erft von ihren Führern erfahren mußten, wozu fie fid 
eigentlich entichliegen mußten. Gleichwohl war der Lärm ziemlich 
allgemein und übte die gute Wirkung, daß er die Inſchens über» 
zeugte, fie hätten die Verachtung meiner Autorität Flar genug dar- 
gelegt und fomit für den Augenblid einen hinreichenden Sieg 


+} 





625 


errungen. Demungeachtet jchloß aber die Demonftration hiermit 
noch nicht, und es folgten gewiſſe Rufe nebft einem kurzen Dialog, 
den ich hier berichten muß. 

„König Littlepage,” rief einer aus dem Haufen der „vers 
kappten Bewaffneten”; „was ift aus deinem Thron geworden? 
Das Meetinghbaus von St. Andrews hat feinen monarchifchen 
Thron verloren.“ 

„Seine Schweine haben fih endlich als große Ariftofraten 
aufgethban; demnächft werden fie auch Patroone fein wollen.” 

„Hugh Littlepage, jei ein Mann; fteig herab auf eine gleiche 
Stufe mit deinen Mitbürgern und halte dich nicht für befjer, als 
andere Leute. Du bift im Grunde doch nur Fleifch und Blut." 

„Barum ladet Ihr mich nicht eben fo gut wie den Pfaffen 
Warren ein, zu Euch zu fommen und mit Euch zu fpeifen? Ich 
fann fo gut effen, wie nur irgend ein Mann in der Bounty, und 
auch eben fo viel.” 

„Sa, und er kann auch trinken, Hugh Littlepage. Sorgt 
daher nur an dem Tage, an welchem er eingeladen werden foll, für 
den beften Saft, den Ihr in Eurem Keller findet.” 

Alles das galt unter den Infchens und jenem Theile der „tu- 
gendhaften, ehrlichen und hart fih abmühenden Leute," welche an 
diefem Tage nicht nur ihre Bande in's Feld rüden ließen, fondern 
bei gegenwärtiger Gelegenheit ihr auch Gejellihaft Leifteten, für 
Witz; ich habe nämlich feitdem in Erfahrung gebracht, daß unge- 
fähr die Hälfte des Haufens aus Pächtern der Ravensneſter Far⸗ 
men beftanden. Ich gab mir Mühe, gelaffen zu bleiben, und wenn 
man in Betracht zieht, wie viel Anlaß fich ergab, zornig zu werden, 
gelang mir meine Anftrengung ziemlich gut. Solche Leute mit 


Gründen belehren zu wollen, hieran war natürlich nicht zu denken, 


und da fie auf ihre Anzahl, mie auch auf ihre phyfiiche Ueber⸗ 

legenbeit pochen Tonnten, fo kuͤmmerten fie ſich nicht einen Deut 

um meine gefeßliche Rechte. Das Schlimmfe von Allem war 
Ravensneft. 40 


626 


ohne Zweifel der Umftand, daß fie wußten, das Geſetz ſelbſt 


werde durch das Volk verwaltet; fie hätten daher nur wenig 
oder eigentlich gar nichts von allen den Strafandrohungen zu 
fürchten, die im Geſetz beftimmt waren, felbft wenn ich feiner 
Zeit zu letzterem meine Zuflucht nahm. Schickte man zehn oder 
zwölf verfchmigte Agenten durch das Land, welche Lügen in 
Umlauf jeßten und vor fowohl, als während der Gerichtöver- 
handlung die Gountyftadt bejuchten, um eine Partei auf bie 
Beine zu bringen, die mehr oder weniger unmittelbar, vieleicht 
unter Beihilfe der Unwahrheiten und Borurtheile aus einigen 
Beitungsblättern, die Gemüther der Geſchworenen bearbeiteten, 
fo mußte dieß im kritiſchen Augenblide eben fo wirkjam fein, 
wie das Gefeß, der Zeugenbeweis und das Recht. Was die 
Richter und ihre amtliche Stellung betrifft, fo haben fie unter 
dem Wirken dieſes heillofen Syſtems meift ihren Einfluß ver 
loren, und find in der Berwaltung der Rechtspflege, handle es 
fh nun um ein nisi prius oder um ein Commiffionsgeridt, 
fat als Nichts amzufchlagen. Dieß find traurige Wahrheiten, 
und Jeder, der von der Theorie abfiehbt, um auf den Kampf 
platz der Praris herunterzufteigen, wird fih bald zu feinem 
Staunen und Schreden von ihrer Unanfechtbarkeit überzeugen, 
wenn er überhaupt ein ehrlicher Mann ift und einen unbeſto⸗ 
chenen Sinn mit fidh bringt. Ein Theil dieſes unfeligen Zur 
fands der Dinge ift eine Folge der legislativen Keffelfliderei, 
welche eine der wohlthätigften Maafnahmen des Gemeinrechts 
zerflörte, indem fie verbietet, daß die Richter die Berachtung 
ftrafen, wenn dieſe nicht in offenem Gerichtshof vorfümmt. Seht 
ziebt namentlich die Preffe von diefer Straflofigkeit Vortheil und 
übt einen Einfluß auf die Enticheidung far aller Prozeßfälle, 
welche für die Deffentlichkeit intereffant gemacht werden können. 
Alles dieß fühlt man recht wohl, und der Uebelthäter kümmert ich 


nur wenig um's Geſetz, während nur für den Rechtlichen einige 


627 


Gefahr vorhanden if. Mein Onkel Ro fagt, Amerika gleiche dem, 
was in diefer Beziehung vor zwanzig Jahren war, gerade jo, wie 
Kamtſchatka Stalin. Was mich betrifft, jo möchte ich nur der 
Wahrheit das Wort reden, und eben fo wenig mir eine Ueber⸗ 
treibung erlauben, als zu einer feigen Berheimlichung meine 
Zuflucht nehmen. 

Da ih mir an der Schwölle meines eigenen Hauſes nicht 
frehen Zroß bieten laſſen wollte, jo beichloß ich noch etwas zu 
fagen, ehe ich an meinen Platz zurüdkehrte. Männer, wie Die, 
welche mir gegenüberftanden, Können nie begreifen, daß Still- 
Ichweigen eine Frucht der Verachtung ift, und ich hielt es für das 
befte, auf die oben bemerkten Zurufe, an die fih noch Dutzende 
von ähnlichen moralifchen Kaliber anfchlogen, eine Antwort zu 
geben. Meinem Winke zum Schweigen wurde abermals Folge 
gegeben. 

„Sch habe euch in der Eigenfchaft des Beſitzers befohlen, mei— 
nen Rafen zu verlaſſen,“ fagte ich, „und wenn ihr dennoch bleibt, 
fo macht ihr euch felbft zu Geſetzübertretern. Was ihr mit meinem 
Kirhenftuhl angefangen habt, würde mich fogar zu Danf vers 
pflichten, wäre es nicht Durch eine Rechtsverletzung gefchehen, denn 
ich hatte mir feft vorgenommen, die Bedachung entfernen zu laffen, 
fobald fi) das Gefchrei über diefelbe gelegt hätte. Sch bin eben 
fo wenig ein Freund von Auszeichnungen irgend einer Art im Haus 
Gottes, als ihre jelbft, und verlange fie nicht für mich oder meine 
Angehörigen. Mir iſt's um nichts zu thun, als um gleiche Rechte 
mit meinen Mitbürgern — um weiter nicht, ald daß mein Eigen- 
thum fo gut befehügt werde, wie das ihrige. Aber ich Fann mir 
nicht denken, daß ihr oder irgend Semand ein Recht hat, einen 
Theil von meinen weltlichen Gütern zu verlangen — eben fo we⸗ 
nig als ich befugt bin, einen Antheil an feiner Habe zu fordern, 
Was ermächtigt euch, auf meine Ländereien Anſpruch zu erheben, 
während mir doch Feine Befugniß zufteht, einen Antheil an eurem 

4Q* 


628 


Vieh und an euren Ernten zu verlangen? Es ift nur ein jämmer- 
liches Geſetz, das nicht beide Theile gleich behandelt.” 

„hr feid ein Ariſtokrat,“ rief einer aus dem Snfchenhaufen, 
.„ſonſt würdet Ihr andern Leuten auch fo viel Land gönnen, ald 

Ihr felbft Habt. Ihr feid ein Patroon; alle Batroone aber find 

Ariftofraten und haffenswerth." | 

„Ein Ariſtokrat,“ erwiederte ich, „if einer von den Wenigen, 
welche im Beſitz von politifher Gewalt find, denn ohne die 
kann felbft die höchfte Herkunft, das größte Vermögen und der 
abgefchlofienfte Umgang keinen Menichen zu einem Ariftofraten 
ftempeln. In unferem Lande gibt's eine Ariftofraten, weil wir 
nicht8 von einer unbefchränkten politifchen Gewalt wiſſen. D« 
gegen haben wir eine falſche Ariftofratie, die Ihr deßhalb nicht 
kennt, weil fie fich zufälligerweife nicht in den Händen gebil- 
deter Männer befindet. Demagogen und Zeitungsjchreiber find 
eure privilegirten Klaſſen — dieſe find eure Ariftofraten und 
Niemand anders. Was die Ariftofratie der Grundbefiger be 
trifft, fo vernehmt eine wahre Gefchichte, welche euch überzeugen 
wird, in wie weit fie eine Ariftofratie genannt zu werden ver: 
dient. Merkt euch, was ich euch jebt fage, denn es ift fo wahr, 
wie ein Evangelium, und verdient nah und fern, wohin immer 
euer Gejchrei über Ariftofratie reicht, bekannt zu werden. 3 
gibt in diefem Staate einen Grundbefiter, einen Mann von um- 
faffenden Mitteln, der wegen einer Bürgichaft für einen Anvern 
eine bedeutende Zahlung leiften ſollte. Um dieſelbe Zeit, in 
welcher feine Renten, Dank fei e8 eurer @inmengung und 
der Gewiffenlofigkeit unferer Geſetzesvollſtrecker, nicht eingefam- 
melt werden Eonnten, trat der Sheriff in fein Haus und ver- 
Faufte deſſen Inhalt, um die Execution gegen ihn zu voll 
fireden! Dieß ift eure amerikanische Ariftofratie — leider muß 
ich auch beifügen, die amerikanifche Gerechtigkeit, wie fie jeßt unter 
ung gehandhabt wird," 





629 


Sch hatte mi in der Wirkung diefer buchflählich wahren 
Erzählung nicht getäufcht. So oft ich fie erzählte, hat fie fogar 
die größten demagogifchen Schreier verwirrt, und für einen Augen- 
blick einige jener Grundfäge, die Gott urfprünglich in ihr In— 
neres gepflanzt hatte, in's Leben gerufen. Ja wohl, amerifa« 
niſche Ariftofratie! Der gebildete Mann Tann von Glüd jagen, 
wenn es ihm fo gut wird, auch nur mit Widerftreben magere 
Gerechtigkeit zu erringen ! 


Neunundzwanzigftes Kapitel. 


„Wie weit dieß Kichtlein feine Strahlen wirft! 
So leuchtet eine gute That in einer 


Berberbten Welt.” 
Shakeſpeare. 


Ich habe geſagt, daß meine Erzählung von der Art, wie 
Gerechtigkeit bisweilen unter uns ausgemeſſen wird, ſelbſt auf dieſe 
rohe Bande ſelbſtſüchtiger und neidiſcher Empoͤrer nicht ohne Wir⸗ 
kung blieb. Ich nenne ſie roh, weil ſie der Vernunft und der Ge⸗ 
ſetzgebung Hohn ſprachen, und ſelbſtſüchtig, weil fie fich durch ihre 
Habgier, und dur den Wunſch, an die Stelle derer, welche fie für 
reicher hielten, die Pächter zu feßen, zu ſolchem Treiben verloden 
ließen. Es folgte eine tiefe Stille, dann aber flüfterten die Ca⸗ 
fico- Bündel eine Weile unter einander, ohne übrigens die Ruhe 
weiter zu flören, da fie augenfcheinlih — vorderhand wenigftens 
— nicht geneigt waren, ung zu beläftigen. Ich hielt den Augen- 
blick für günftig, und nahm meine alte Stellung wieder ein, 
entfchloffen, jet die Dinge ihren Lauf gehen zu laffen. Dieler 
Wechfel und die tiefe Stille, welche nun folgte, führte auf den 
Beſuch der Indianer und ihren Zwed zurüd, 

Während der ganzen Zeit des Vorrückens unferer „Inſchens“ 
hatten fih die Männer der Braten ad SARA equngf- 

los wie Statuen verhalten. KARTE Berater Triiien ÜR 





631 


Auge von den Eindringlingen; indeß wußte er es Doch fo einzu- 
leiten, daß man ihm durchaus Feine Unruhe oder Sorge anmerfte. 
Außer diefem einzigen gewahrte ih kaum ein weiteres Zeichen von 
Wachſamkeit unter meinen Gäften von der Prairie, obſchon mir 
Bielzunge nachher zu verfiehen gab, fie hätten recht wohl gewußt, 
wie fie fih benehmen mußten; auch geftehe ich gerne, daß ich nicht 
in der Lage war, die ganze Zeit über meine NRothhäute zu be- 
obachten. Nachdem aber jet eine Paufe eingetreten war, fehien 
fich Alles jo natürlich dem urfprünglichen Befuch zuzukehren, als 
ob gar Feine Unterbrechung flattgefunden hätte. Zu Sicherung der , 
Ruhe rief Vielzunge den Inſchens in gebieterifcher Stimme zu, 
die Häuptlinge in ihrem Vorhaben nicht zu flören, weil eine Art 
religiöfer Heiligkeit darin liege, die nicht ungeftraft verlegt wer» 
den dürfe. 

„So lange ihr euch ruhig verhaltet, werden meine Krieger 
euch nicht belaͤſtigen,“ fügte er bei; „aber wenn Einer unter euch 
je in der Prairie gewefen ift, fo muß er von der Natur einer 
Rothhaut genug gehört haben, um zu wiffen, daß er auch Ernft 
macht, wenn's im Emft if. Männer, die eine Reife von mehr 
als taufend Stunden vor fi haben, gehen nicht wegen Kleinig- 
feiten abwegs; dieß kann auch aljo ein Beweis fein, daß eine 
ernfte Angelegenheit die Häuptlinge hieher geführt hat.” 

War es, daß diefe Ermahnung Wirkung übte, oder Daß auch 
die „verfappten Bewaffneten” neugierig waren — lag es vielleicht 
nicht in ihrer Abficht, zum Aeußerften zu fchreiten, oder trafen 
alle dieſe drei Rüdfichten zufammen — id weiß es nicht; fo 
viel aber ift gewiß, daß die ganze Bande als ruhige, aufmerf- 
fame Beobachter ftehen blieben, bis eine Unterbrechung ftattfand, 
die ich geeigneten Orts berichten werde. Bielzunge, welcher fich 
zum Zwede des Dolmetfchers faft in der Mitte der Piazza aufge- 
ftellt Hatte, winkte nun den Häuptlingen, fie könnten ruhig in ih⸗ 
rem Borhaben fortfahren. Nach einer geziemenden Paufe erhob fid 


632 


derjelbe junge Krieger, welcher bei früherer Gelegenheit Jaaf ar 
geredet batte, abermals und fpielte mit einer Zeinbeit, tie maniz 
den meiſten NRatböverjammlungen cieilifirter Menſchen vergeilid 
fuchen würde, auf den Umftand an, daß der Neger jeine Rede wicht 
zu Ende gebracht und vielleicht noch etwas auf dem Herzen habe, 
deſſen er fich zu entledigen wünjde. Dieß war einfach aser mit 
Beitimmtbeit ausgedrüdt, und wurde dem Neger von Bielzungt 
überjept, welcher dem alten Schwarzen Die Berficherung gab, von 
allen Häuptlingen werde keiner ein Wort ſprechen, bis Die Perien, 
welche zulegt „auf den Beinen“ geweſen, Gelegenheit gehabt hakı, 
ihr Eprüclein zu Ende zu bringen. Dieje Zurüdhaltung iR dw 
rakterifliich für Das Benehmen von Leuten, die wir Wilde nem 
— ron Männern, die allerdings wilde, jogar grauſame Gebräudt 
haben, aber doch gewifle andere treffliche Eigenſchaften beiipen, 
welche in unjerem civilifirten Zuſtand nicht jo zu gedeihe 
fcheinen. 

Es bielt ziemlich jchwer, den alten Jaaf wieder auf die Veine 
zu bringen, denn obſchon er ein gewaltiger Brummbart war, konnte 
man jeinen Rednergaben Doch nicht viel nachrübmen.. Da ma 
jedob nach der Erklärung des Dolmerjchers nicht Darauf rechnen 
durfte, ein Häuptling werde dad Wort ergreifen, ebe der Schwarze 
jein Recht vollſtändig benützt hatte, jo mußte meine liebe Patt 
wieder die Bermittlerin machen. Sie legte eine ihrer elfenbein- 
weißen Hände auf Die Schulter des grümlichen alten Negers und 
irrab ibm zu, daß er aufiteben und jeine Rede zu Ende bringen 
jelle. Er kannte fie, und fie jepte ihre Abficht Durch. Es if be 
merkenswerth, daß der alte Neger, obſchon er fich Taum mehr er: 
innerte, was vor einer Stunde vorgefallen war, und dabei die 
Zeiten furchtbar verwechielte, jo Daß er oft von meiner Gropmutter 
als von Miß Dus ſprach, wie wenn fie noch ein Mädchen wire 
— gleibwebl alle nob am Leben befindlichen Familienglieder 
fannte, und uns demgemäß ehrte und liebte, troßdem, daß er fh 





633 


porftellen Eonnte, wir ſeien bei Scenen gegenwärtig gewefen, welche 
ſich zutrugen, als unfere Großeltern noch junge Leute waren. Um 
jedoch auf feine Rede zu fommen — 

„Was al’ die Kerl da wol’, aufgewidelt in Calico, wie fo 
viele Squaw?“ brummte Zaaf, fobald er wieder aufgeftanden war, 
indem er dabei fcharf nach den Inſchens hinfah, welche in einer 
vier Mann hohen Linie ganz in der Nähe der Piazza flanden, 
„Warum Ihr laß' fie fomm’, Maffer Hugh, Maffer Hodge, Mafler 
Malbone, Maffer Mordaunt — welcher von euch jebt hier, weiß 
ih nicht; es fein fo Viele und mird fo hart, ſich auf Alles zu 
erinnrr'. DO, wie ich jo gar alt! — Ich wunner', wenn meine 
Zeit komm'! Auch Sus da, er gut für gar nix mehr. Sonft er 
groß Läufer, groß Krieger, groß Jäger — ziemlich gute Kerl für 
Rothhaut — aber er ganz ausgemergelt. Seh’ nicht viel Nuß, 
warum er leb’ länger. Inſchen gut für nig, wenn er nicht Tann 
jag.. Bisweilen er mach’ Korb und Beſen; aber man braud) jett 
befier Befen, und Infchen verlier dieſes Geſchäft. Was dort Die 
Balico-Deifel woll, eh, Miß Patty? Da auch Rothhaut — zwei, 
drei, vier — alle komm', zu ſeh' Sus. Ich wunner, warum Fein 
Neger komm', um mich zu befuch! Alte Schwarze fo gut, wie 
alte Rothemann. Wo felbe Kerl krieg’ als das Ealico her und häng 
es über ihr Gefiht? Maffer Hodge, was all dieß bedeut?” 

„Es find Antirenters, Zaaf," entgegnete mein Onfel Kalt. 
„Männer, welhe Mafter Hugh's Farmen zu befiten wünjchen und 
ihm die Mühe abnehmen möchten, weitere Renten einzuziehen. 
Wahrjcheinlich bededen fie ihre Gefichter, um ihre Schamröthe zu 
verbergen, denn die Befcheivenheit ihrer Natur unterliegt dem Ge= 
fühl ihrer Großmuth.” 

Obſchon Zaaf ohne Zweifel den Inhalt diefer Rede nicht ganz 
faßte, begriff er fie doch theilmweife, denn vor ein paar Jahren, 
als fein Geift noch nicht ganz fo umdunfelt war, wie gegenwärtig, 
hatte er fich über den fraglichen Umftand fo ereifert, daß der Ein⸗ 


634 


druck unzerſtörlich fortwirkte. Die Worte meines Onkels blieben : 
ührigens augenscheinlich auch an den Infchens nicht verloren, denn 
fie Eonnten fih kaum enthalten, darüber Ioszubrechen. Die Un 


klugheit, bei folcher Gelegenheit zur Ironie Zuflucht zu nehmen, 
verdient allerdings eine Rüge, indeß bin ich doch nicht mit mir im 


Klaren, ob nicht doch etwas Gutes daraus floß. So viel ſteht al 


Ueberzeugung bei mir feſt, daß wenn es fih um Grundfähe han 
delt, mit Nachgeben nie etwas gewonnen werden Tann, und daf 
es ftets das Beſte fein dürfte, dem Recht unverbohlen das Wort zu 
reden, fintemal nur der Abbruch, den man der Wahrheit thut, wenn 
man der Nüglichleit Zugefländniffe macht, Schuld daran ift, wenn 
der Irrthum die Hälfte feiner Macht behält. Indeß hielt Politik, 


Furcht oder irgend ein anderer Beweggrund den auffteigenven dom 


der Infchens im Zaum, jo daß diefer Rede keine Störung folgte. 
„Was ihr bier wol’, ihr Kerl?” fragte Jaaf rauh und in 
fcheltendem Zone, als habe er es mit einem aufdringlichen Buben 
zu thun. „Heim mit euh! — Fort da, Ob, wie werd’ ich fo 
gar alt! — Sch wünfch’ ich wär’, wie ich fein, als ich noch jung 
— wegen euch, ihr Gewürm! Was wol’ ihr mit Maffer Hug’s 
Land? — warum mach ihr euch Gedanf, zu krieg' Gentle'm's 
Land? Weiß noch die Zeit, wo eure Bater komm' Eriechend und 
bettelnd zu Maffer Mordy, zu bitt’ juft um ein biſſ'l Farm, zu leb 
drauf, und zu jein Pächter und zu verfuch’ zu mach’ ein biff’! für 
feine Familv. Und nun komm ihr her in Calico-Bündel, zu jag 
mein Maffer Hugh, daß er nicht foll jein Mafler von fein eigen 
Land! Wer ihr, möcht ich auch will, zu komm' her und zu red 
mit Gentle'm in diefer fchlechten Manier? Geht heim — fort da 
— weg mit euch, oder ihr hör’, was ihr nicht gerne hab.“ 
Obſchon hierin viel „Nigger” »Bhilofophie lag, war fie doch 
eben fo gut wie die, welche man fich bin und wieder bei Unter- 
flügung des Geiſts der Inſtitutionen“ beruft, namentlich wenn 
leptere mit „Ariftokratie" undden „Zutteralbräuchen” in Berbindung 


635 


gebracht wird, Br Neger trug ſich mit der Vorftellung, daß alle 
feine „Maſſers“, alt und jung, beffer feien, als alle übrigen Men⸗ 
chen, während die Borfämpfer der modernen Bewegung der Anficht 
zu fein fcheinen, daß alles Necht fich in der niedrigen Hälfte der 
großen „republifanifchen Familie“ concentrire. Ihnen gilt der 
Mann von Bildung nicht als Gentleman, denn um als ein folder ' 
angefehen zu werden, fordert es ihre großartige fociale Propoft- 
tion, daß man ein Lump fei. Ia, was noch mehr ift, jeder, der 
fich auch nur im mindeften über die Mafle erhebt, ohne durch 
die Maſſe erhoben worden zu fen — denn dieſe hat dann natür= 
lich auch die Macht, ihn wieder in den Staub zu ziehen — beſitzt 
durchaus Fein Recht, fobald diefes mit der Habgier des großen 
Haufens in Widerfprud geräth. Der Neger hatte daher in feiner 
Art, die Dinge zu betrachten, nicht viel mehr Unrecht, als die 
philofophifchen Vertheidiger der gewerblichen Ehrlichkeit, Zum 
Glück hat weder die eine noch die andere Raifonir - Methode viel 
Einfluß auf den wirklichen Zuftand der Dinge. Thatfachen bleiben 
Zhatfachen, und es ift fchwer, den Beweis zu liefern, das fchwarz 
weiß fei. Was einmal befteht kann durch das Zappeln des Neides 
und der Habfucht eben jo wenig dem Auge entrüct werden, als 
Jaaf's lang gehegte Lieblings Anficht, daß die Rittlepage’s die 
Großen der Erde feien, im Stande war, ung über das zu erheben, 
was wir wirklich find. Ich habe die Rede des Negers einfach deß⸗ 
halb angeführt, um Solchen, welche nur auf die Verdrebung und 
das Gefchrei derer hören, die Eigenthüimer von anderer Leute Far- 
men werden möchten, zu zeigen, daß ‚die Frage zwei Seiten hat, 
und fofern fih’8 um Begründung handelt, fehe ich nicht ein, warum 
die einen nicht jo gut fein follte, wie die andere. 

Trotz der ernſten Sachlage Eonnte man ſich doch eines Lächelns 
nicht erwehren, wenn man die Gravität in's Auge faßte, mit wel⸗ 
her die Indianer diefer wunderlichen Epifode zuhörten. Keiner 
von ihnen erhob ſich, wandte ſich um oder legte auch nur die min- 


636 


defte Ungeduld — ja, nicht einmal Die Neugierde an den Tag. Die 
Anwefenheit von zweihundert Bewaffneten, die in Galico vermummt 
waren, bewog fie nicht, nach denjelben hinzufchauen, da wahrfchein- 
lich die frühere Erfahrung, welche fie dieſem tapferen Corps gegen- 
über gemacht hatten, ihnen Grund gab, fe nicht fonderlich hoch 
anzufchlagen. 

Für die Indianer war jebt die Zeit gefommen, den Haupt: 
zwed ihres Befuchs in Ravensneft zur Sprache zu bringen, und 
Prairiefeuer erhob fih langfam, um das Wort zu ergreifen. Wir 
haben den Lefer bereits früher bemerkt, daß Vielzunge Alles, was 
geiprochen wurde, Satz für Sab überfehte, denn er war in den 
verfchiedenen Dialekten der Stänme, von denen einige den der 
Onondagoes nach den Prairien verpflanzt hatten, fehr bewanbdert. 
In diefem Punkte war der Dolmeticher ein ziemlich merkfwürdiger 
Mann, denn er gab die Worte nicht nur ohne Zögern, fondern 
auch mit großer Energie wieder. Gleichwohl muß ich hier beifügen, 
daß ich mich beim Niederfchreiben der gehaltenen Reden ‚hin und 
wieder gewählterer Ausdrüde bediente, als die waren, welche mir 
der ungebildete Mann in die Feder gab. 

„Vater,“ begann Prairiefener feierlich und mit einer Würde, 
die man in unferer modernen Dratorik nicht gewöhnlich zu finden 
pflegt. Die Geberdungen, deren er fich dabei bediente, waren zwar 
fpärlich, dann aber von auffallender Kraft und Bedeutfamfeit. — 
„Vater — das Herz deiner Kinder ift jchwer. Sie find weit her 
gemwandert, über einen langen und dornigen Pfad; ihre Moccafind 
haben fich abgenüßt, und ihre Füße find wund geworden, aber ihr 
Gemüth war leicht. : Sie hofften das Geficht des biederen Onon- 
dagos zu jehen, wenn fie dad Ende ihres Pfades erreicht hätten. 
Sie find am Ziel ihrer Wanderung angelangt und haben ihn jept 
vor fih. Er fieht aus, wie fie erwartet hatten, Daß er ausſehen 
werde. Er ift wie eine Eiche, die der Blipftrahl zwar verfengen, 
und der Schnee mit Maas bededen Tann; aber taufend Stürme 


und Hundert Winter find nicht im Stande, ihn feiner Blätter zu 
entEfeiden. Er fieht aus wie die ältefte Eiche im Urwald. Er ift 
jehr großartig und man hat eine Freude, ihn zu betrachten... Wenn 
wir ihn fehen, fehen wir einen Häuptling, der die Väter unferer 
Väter und die Bäter unferer Großväter kannte. Eine lange Zeit 
ging darüber hin. Er ift eine Meberlieferung und kennt alle Dinge, 
Nur Eines bemerken wir an ihm, das nicht fein ſollte. Er wurde 
als ein rother Mann geboren, hat aber fo lange unter den Blaf- 
gefichtern gelebt, daß wir fürchten, wenn er hingeht zu den glüd- 
lichen Sagdgründen, werden die guten Geifter, ihn für ein Blaß- 
geficht halten und ihn auf den unrechten Pfad weifen. Wäre dieſes 
der Fall, jo würden die rothen Männer den Biederen unter den 
Dnondagoes für immer verlieren. Dieß follte nicht fein. Auch 
mein Bater kann dieß nicht wünfchen, und er wird fich eines Beſſe⸗ 
ren bedenfen. Er wird zurüdkehren unter feine Kinder und feine 
Weisheit, feinen Rath dem Volk feiner eigenen Farbe hinterlaffen. 
Ich bitte ihn, daß er dieß thue. 

„Es ift jebt ein langer Pfad bis zu den Wigwams der rothen 
Männer. Früher war's nicht fo, aber der Pfad hat fich geftredt. 
Es ift ein fehr langer Pfad. Unfere jungen Männer wandern ihn 
oft, um die Gräber ihrer Väter zu befuchen, und fie wifjen, wie 
lang er ift. Meine Zunge ift nicht krumm, fondern gerade; fie 
will daher Fein falfches Lied fingen, und jagt meinem Bater die 
Wahrheit. Der Pfad ift jehr lang. Doch die Blaßgefichter find 
wunderbar! Was haben fle nicht gethban? Was werden fie nicht 
thun? Sie haben Canoes gemacht und Schlitten, die jo gefchwind 
fliegen, wie die Bögel Der Hirfch Eönnte fie nicht fangen. Sie 
haben Schwingen von Feuer und werden nie müde. Sie gehen, 
wenn die Menfchen jchlafen. Der Pfad ift lang, aber er läßt fich 
bald zurüdlegen mit folhen Schwingen, Mein Bater kann die 
Reife machen, und er wird an Feine Müdigkeit denken. Möge er 
e8 verfuchen. Seine Kinder werden Sorge für ihn tragen. Ontel 


638 


Sam gibt ihm Wildyret, und es wird ihm an nichts mangeln. 
Wenn er dann aufbricht nach den glüdlichen Jagdgründen, wird 
er fich nicht irren in dem Pfad, fondern für immer unter den Rothe 
häuten leben." 

Diefer Rede, welche mit großer Würde und Kraft vorgetragen 
worden war, folgte eine feierliche Pauſe. Ich konnte fehen, daf 
Susquefus ergriffen war von dieſem Gefuche und von der Huldi⸗ 
gung, welche die Stämme aus den Prairien feinem Rufe zollten, 
indem fie jo weit gefommen waren, um ihm Gerechtigkeit wider 
fahren zu laflen und ihn zu bitten, daß er mit ihnen ziehe, um in 
ihrer Mitte zu fterben. Er hatte von diefen Stämmen felbft in 
feinen jüngeren Tagen nicht einmal durch die Weberlieferung etwas 
gehört, obfchon ihm bekannt fein mußte, daß Trümmer von den 
alten NewsMorker Völkern meift ihren Weg nach jenen fernen Ge 
genden gefunden hatten: aber dennoch mußte es ihm beruhigend 
fein, zu erfahren, daß es lebteren gelungen war, durch ihre Erzäh- 
lung einen fo lebhaften Eindrud zu feinen Gunften hervorzurufen. 
Die meiften Männer in feinem Lebensalter wären vieleicht für ein 
derartiges Gefühl unempfindlich gewefen, und von Zaaf ließ fih 
dieß zuverläffig in einem gewiffen Grade behaupten; aber bei dem 
Dnondago war es nicht der Fall. Wie er in feiner früheren Rede 
an feine Gäfte ſich ausgedrückt hatte, weilte fein Geift mehr bei 
Scenen feiner Jugend, und die eingeborenen Erregungen gewannen 
in feinem Geifte mehr Frifche, als jogar früher um die Mitte 
feines Alters. Alles, was von feinem jugendlichen Feuer zurüd- 
geblieben war, fehien neu aufzulodern, und man ſah es ihm nur an 
feiner äußern Berfon oder wenn er gehen mußte an, daß er ein Dann 
war, welcher mehr als fiebenzig Lebensjahre zurückgelegt hatte. 

Nachdem die Häuptlinge aus den Prairien fo beſtimmt den 
großen Zweck ihres Beſuchs zur Sprache gebracht und ihren Wunſch 
fo lebhaft an den Toy ger baten, Saat aß einen Mann 
von ihrer Faxbe und Wrew Brut wur nn Syn 


| 


639 


Gemeinſchaften zurüdzuführen, kam es natürlich dem Onondago 
zu, fich zu erklären, in welchem Lichte ihm ihr Vorfchlag erfchien. 
Die tiefe Stille, die um ihn herrichte, mußte dem alten Indianer 
die Ueberzeugung geben, mit welcher Beklommenheit man feiner 
Antwort entgegenfah. Diefes Schweigen dehnte fich auch auf die 
„verfappten Bewaffneten” aus, welche nachgerade von der inte- 
reffanten Scene fo jehr in Anfpruch genommen worden waren, als 
Diejenigen, welche fich auf der Piazza befanden. Ich glaube, daß 
für den Augenblid alle Theile — Pächter ſowohl als Grundbefiker 
— den Antirentismus vergefjen hatten. Prairiefeuer faß wohl drei 
Minuten auf feinem Stuhl, ehe fih Susquefus erhob; inzwiſchen 
aber wurde die tiefe Stille, von welcher ich gefprochen, von Feiner 
Seite her unterbrochen. 

„Meine Kinder,” antwortete der Onondago, defien Stimme 
gerade genug von dem hohlen Beben des Alters befaß, um einen 
tiefen @indrud zu machen, obſchon er mit einer Beftimmtheit und 
Klarheit redete, daß er von allen Anwefenden gehört werden konnte 
— „meine Kinder, wir wiffen nicht, was gefchieht, wenn wir jung 
find — dann ift Alles jung was wir fehen. Wenn wir aber alt 
werden, wird Alles mit ung alt. Die Jugend ift voll von Hoff- 
nung, das Alter aber voll von Augen; es fieht die Dinge wie fie 
find. Ich Habe in meinem Wigwam allein gelebt, feit der große 
Geiſt den Namen meiner Mutter ausrief, und fie eilte hinweg nad) 
den glüdlichen Sagdgründen, um Wildpret für meinen Vater zu 
tochen, der zuerft gerufen worden war. Mein Bater war ein großer 
Krieger. Ihr Habt ihm nicht gekannt. Es ift mehr als hundert 
Winter her, als er von den Delawaren getödtet wurde. 

„Sch habe euch die Wahrheit gefagt. Als meine Mutter hin- 
ging, um für ihren Gatten Wildpret zu kochen, blieb ich allein 
in meinem Wigwam.“ 

Es folgte jebt eine lange Paufe, während welcher u mis 
jeinen Öefühlen zu Eämpfen ſchien, obgleik, er aufteit —X 


640 


wie ein feftgewurzelter Baum. Was die Häuptlinge betraf, fo 
beugten fie meift in gefpannter Begier ihre Körper vorwärts, um 
zu hören, nur hie und da erklärte einer aus ihrer Zahl in leiſen 
Suttural-Tönen gewiffe Stellen der Nede, weil einige von den 
Indianern den Dialekt, in welchem fle vorgetragen wurde, nidt 
ganz verftanden, Nach einer Weile fuhr Susqueſus fort: 

„Ja, ich lebte allein. Eine junge Squaw Hätte in meinen 
Wigwam treten und in demfelben bleiben follen. Sie kam nie. 
Wohl wünſchte fie einzutreten, aber fie that e8 nicht. Ein anderer 
Krieger hatte ihr Verfprechen, und es war recht, Daß fie ihr Won 
hielt. Das Herz war ihr anfänglich ſchwer, aber fie erwachte zu 
dem Gefühl, daß es aut fei, nerecht zu fein. In meinem Big 
wam bat nie ein Squaw gelebt. Ich dachte nie daran, je ein 
Vater zu fein; aber feht, wie ganz anders es geworden if! 36 
bin jetzt Vater aller rothen Männer! Jeder indianijche Krieger 
iR mein Sohn. Ihr jeid meine Kinder; ich will euch anerkennen, 
wenn wir und treffen auf dem lieblichen Pfad jenjeits der Jagd⸗ 
gründe, die ihr derzeit noch begeht. Ihr werdet mich Bater nennen, 
und ich werde euch als Söhne begrüßen. 

„Dieß if genug. hr bittet mich, ich jolle den Langen Pfad 
mit euch geben und meine Gebeine in den Prairien niederlegen. 
Ah habe von jenen Jagdgründen gebört und unjere alten Ueber: 
lieferungen erzählen ung Davon. — „Gegen die aufgehende Sonn 
bin,” ſagten fie, „ut ein großer Sulzjee, und unter der niedergehen⸗ 
den Sonne liegen große S Seen von jüßem Waſſer. Ienjeits des gro⸗ 
Ken Salzſee's iſt ein ferned Land, angefüllt mit Blaßgefichtern, die 
in großen Dörfern und mitten unter gelichteten Feldern wohnen. 
Unter den niedergebenden jeien auch große zelichtete Felder, aber 
feine Dlaßaefichter und wenige Törfer. Einige unjerer meijen Min- 
ner glaubten, Diele Felder feien Die Felder ver rotben Männer, 
welche den Makalihtern nah eu Uel ter Sauer Gelaten ; andere 
meinten, 63 jeren gelten, og tie Daten — 


| 


641 


Ich denke, dieß war die Wahrheit. Der rothe Dann kann ſich in 
feine Ede verbergen, wo das Blaßgeficht ihm nicht finden würde. 
Der große Geift will es fo haben. Es ift fein Wille und der rothe 
Mann muß fi unterwerfen. 

„Meine Söhne, die Reife zu der ihr mich. auffordert, iſt zu 
lang für ein hohes Alter. Sch habe mit den Blaßgefichtern gelebt, 
bis die eine Hälfte meines Herzens weiß wurde, obichon die andere 
roth blieb. Die eine Hälfte ift erfüllt mit den Ueberlieferungen 
meiner Väter, die andere mit der Weisheit der Fremden. Ich kann 
mein Herz nicht in zwei Stüde theilen. Es muß ganz mit euch 
gehen oder ganz hier bleiben. Der Körper kann fih von dem 
Herzen nicht trennen, und beide müffen bleiben, wo fle jebt ſchon 
jo lange geweilt haben. Ich danke euch, meine Kinder, aber was 
ihr wünfcht, kann nie gefchehen. 

„Ihr ſeht einen fehr alten Mann, zugleich aber anch einen 
ſehr unftäten Geil. Es gibt rothe Ueberlieferungen und Blaß⸗ 
gefichts-Weberlieferungen. Beide fprechen von dem großen Geifte, 
aber nur die einen reden von dem Sohne defielben. Eine fanfte 
Stimme hat mir Iepter Zeit viel in’d Ohr geflüftert von dem 
Sohne Gottes. Spricht man zu euch in den Prairien draußen auch 
in dieſer Weife? Ich weiß nicht, was ich davon denken foll — 
ich wünfche zu denken, was recht iſt; aber e8 wird nicht leicht, es 
zu begreifen.” 

Susqueſus hielt jebt inne und febte fih mit der Miene eines 
Mannes, der nicht weiß, wie er feine Gefühle ausdrüden fol. 
Prairifeuer wartete achtungsvoll eine Weile, um ihm Zeit zu laffen, 
feine Anrede fortzufeßen; als er aber bemerkte, dag der Greis nicht 
wieder aufſtund, erhob er fich felbft und bat ihn um eine weitere 
Erklärung. 

„Mein Vater hat Weisheit gefprochen,” fagte er, „und das 
Ohr feiner Kinder war offen: Aber fie haben noch wiht aeusa 
gebört und möchten noch mehr vernehmen, rn wen Br 

Raveysneft. AN 


642 


Stehens müde if fo kann er ſitzen; feine Kinder verlangen von 
ihm nicht, daß er ſtehe. Sie möchten erfahren, woher jene fahfte 
Stimme kam und was fie fagte." 

Susquefus erhob ſich jet nicht wieder, hatte fich aber inzwi⸗ 
fhen für eine Antwort vorbereitet. Mr. Warren fland ganz in 
feiner Nähe und Mary lehnte fih in feinen Arm. Cr winkt 
dem Geiftlichen, er möchte einige Schritte näher treten und in 
Willfahrung dieſes Geſuchs brachte der Vater das nichts ahnende 
Kind gleichfalls mit. 

„Seht, meine Kinder,” nahm Susquefus wieder auf, „dieß 
if ein großer Arzt der Blaßgefichter. Er fpricht immer von dem 
großen Geiſt und feiner Güte gegen den Menfchen. Es gehört 
zu feinem Beruf, von den glüdlichen Sagdgründen und von guten 
und böfen Blaßgefichtern zu reden. Ich kanın euch nicht fagen, ob 
er damit Gutes wirkt, oder nicht. Man redet unaufhörlich viel 
von folden Dingen unter den Weißen; aber ich Tann nur wenig 
Beränderung ſehen und habe nun doch ſchon mehr als achtzig 
Winter und Sommer, ja — nahezu neunzig unter ihnen gelebt. 
Das Land ift fo ganz anders geworden, daß ich es kaum mehr 
kenne; aber die Leute verändern fih nicht. Seht dort — dort 
find Menſchen — Blaßgefichter in Calico⸗Säcken. Barum laufen 
fie umher und befchimpfen den rothen Mann, indem fie fich ſelbſt 
Inſchens nennen? Ich will e8 euch fagen.” 

Es fand jeht eine entfchiedene Bewegung unter den „Zus 
gendhaften und Gewerbfleißigen” flatt, obfchon die Begier, den 
alten Mann ausreden zu hören, vorderhand eine gewaltfame 
Unterbrechung hinderte. Ich glaube faum, daß je irgend Se 
mand aufmerkfamere Zuhörer gehabt hat, als wir Alle waren, 
nun fih’8 darum handelte, was der Biedere unter den Ononda- 
g0e8 von dem Antirentismus hielt. Ich folgte feinen Anfichten 
wit um fo größerer Spannung, weil ich wußte, daß er das 
Meifte, was er berichtete, mit erlebt hatte, und weil ich der 


643 


vollen Weberzeugung Ieben Eonnte, er fei mit dem Gegenftand 
ebenfogut bekannt, wie viele, die in den gefeßgebenden Hallen 
fih darüber vernehmen laſſen. 

„Diefe Männer find Keine Krieger," fuhr Susqueſus fort. 
„Sie verbergen ihre Gefichter und führen Büchfen, können aber 
Niemand einfchichtern, als die Squas und die Papuſe. Wenn 
fie einen Stalp nehmen, fo iſt's deßhalb, weil fie ihrer Hundert 
find und ihre Feinde aus einzelnen Perfonen beftehen, Sie find 
nicht tapfer. Warum kommen fie überhaupt? Was wollen fie? 
Sie verlangen nach dem Lande diefes jungen Häuptlinge. Meine 
Kinder, alles Land nah und fern war früher unfer Eigenthum. 
Die Blaßgefichter Famen mit ihren Papieren, machten Geſetze und 
fagten: „es ift gut! wir wollen dieſes Land. Weiter im Weften 
if noch genug für euch rothe Männer. Geht dorthin und jagt, 
ftfcht, pflanzt euern Mais und laßt uns diefes Land.“ Unſre rothen 
Brüder thaten, was man von ihnen verlangte, und die Blaßgefichter 
hatten das, was fie wünfchten. Sie machten Gefeße und verkauften 
das Land, wie die rothen Männer ihre Biberhäute verkauften. Nach- 
dem das Geld bezahlt war, erhielt jedes Blaßgeficht einen Brief 
und meinte, alles was er bezahlt habe, gehöre ihm. Aber der 
böfe Geift, der den rothen Mann vertrieb, ift nun thätig, um auch 
Die Blaßgefichtö-Häuptlinge zu vertreiben. Es iſt derfelbe Teufel 
und fein anderer. Damals war es ihm um Land zu thun, und 
jeßt will er wieder Land. Nur ein einziger Unterjchied iſt vors 
handen und diefer befteht darin — als die Blaßgefichter unfere 
rothen Männer vertrieben, fand kein Vertrag mit ihnen Statt. 
Sie hatten nicht mit einander geraucht, fich Feine Wampums gege- 
ben und fein Papier unterzeichnet. Alles, was geſchah, beftand 
darin, Daß der rothe Mann einwilligte, er wolle abziehen und das 
Blaßgeficht folle bleiben. Wenn aber ein Blaßgeficht das andere 
vertreibt, fo ift ein Vertrag vorhanden; fte haben zufammen geraucht, 
fih Wampums gegeben und ein Papier unterzeichnet. Dieß ift der 


—X 


644 


Unterfhied. Der Indianer hält fein Wort dem Indianer, aber 
das Blaßgeficht bricht es dem Blaßgeficht gegenüber.” 

Susquefus hielt inne und zum erfien Mal diefen Morgen rich⸗ 
tete jeder Häuptling feinen Blid auf die „verkappten Bewaffneten“ 
— auf die „tugendhaften und fchwer fih abmühenden Leute. 
Unter der Bande zeigte fich eine Eleine Bewegung, ohne daß übri- 
gend ein Ausbruch erfolgte, und während diefe Aufregung noch au 
bielt, erhob fich Aldlersflug Iangfam von feinem Sitze. Die natür- 
liche Würde und Leichtigkeit in feinem Wefen bot reichlichen Erſah 
für fein wenig anfprechendes perfönliches Aeußeres, und ung Allen 
erfchien er jet als eines von den keineswegs feltenen Beifpielen, 
in welchen durch die Gewalt des Geiftes die Unvollkommenheiten 
des Körpers nicht nur überfchattet, ſondern jogar ausgetilgt wur- 
den. Ehe die Wirkung defien, was Susquefus eben geſprochen 
hatte, verloren ging, begann diefer gewandte Redner feinen Vortrag. 
Die Betonung war in hohem Grade eindringlich; auch ſprach er 
mit einer Umſicht und mit fo wohl angebrachten Pauſen, daß 
Bielzunge in feiner Ueberſetzung den Eindrud jeder Syibe zu ges 
ben vermochte. 

„Meine Brüder,” begann Adlersflug, indem er hauptſächlich 
die Snfchens und die übrigen Zuhörer anredete, „ihr habt die Worte 
des Alters gehört. Sie find Worte der Weisheit. Sie find Worte 
der Wahrheit. Der Biedere unter den Onondagoes kann nicht 
lügen. Er hat es nie gekonnt. Der große Geift machte ihn zu 
einem gerechten Indianer, und wie der große Geift einen Indianer 
bildet, fo ift er. Meine Brüder, ich will euch eine Gefchichte er⸗ 
zählen, es wird gut für euch fein, wenn ihr fie anhört. Wir 
haben eure Gejchichte gehört — zuerft von dem Dolmeticher, und 
nun von Susquefus. Es tft eine fchlimme Gefchichte, und wir 
wurden befümmert, als wir fle vernahmen. Was recht ift, follte 
geſchehen, und was unteit it, We unieisiätten. & akt ſchlimme 
rothe Männer und gie zaie Mine, BE U iR A 


645 


gefichter und gute Blaßgefichter. Die guten rothen Männer und 
die guten Blaßgefichter thun, was recht ift; die Schlimmen aber 
thun Unrecht, dieß ift bei beiden das Gleiche. Der große Geift 
des Indianers und der große Geift des weißen Mannes ift der 
nämliche; ebenfo ift es bei den böfen Geiftern. Hierin findet Fein 
Unterfchied Statt. 

„Meine Brüder, ein rother Mann weiß in feinem Herzen, 
wenn er thut was recht iſt, und wenn er thut, was unrecht ift. 
Man braucht es ihm nicht erſt zu fagen, denn er ſagt ſich's ſelbſt. 
Sein Geficht ift roth und er kann die Farbe nicht wechfeln. Der 
Anſtrich ift zu did. Wenn er fih jagt, wie viel Unrecht er gethan 
habe, fo geht er in's Gebüfch und ift bekümmert. Kommt er wieder 
zurüd, jo ift er ein befjerer Mann. 

„Meine Brüder, anders ift dieß bei dem Bleichgefiht. Er iſt 
weiß und braucht Feine Steine zu feinem Anftrih, Wenn er fi 
jagt, er habe Unrecht gethan, fo kann fein Geficht fich ſelbſt färben. 
Jedermann kann ſehen, daß er fih ſchämt. Er geht nicht in das 
Gebüſch, denn es würde ihn nichts nüßen. Er malt fich fo fchnell, 
daß Feine Zeit dafür vorhanden iſt. Deßhalb hüllt er fein Geficht 
in einen Balico-Sad, Dieß ift nicht gut, aber immerhin beffer, 
als wenn man auf Einen mit den Fingern zeigt. 

„Meine Brüder, der Biedere unter den Onondagoes ift nie in's 
Gebüſch gelaufen, weil er fich ſchämte. Er hatte nie Urfache dazu. 
Er brauchte ſich nicht zu fagen, daß er boshaft fei, und hat auch 
fein Geficht nicht in einen Ealico-Sad geftedt; er kann fih nicht 
malen, wie ein Blaßgeficht. 

„Meine Brüder, hört — ih will Euch eine Gejchichte erzäh- 
len. Bor langer Zeit war bier Alles anders. Die Lichtungen 
waren Klein und die Wälder groß. Damals gab es hier viele rothe 
Männer und nur wenige Blaßgefichter. Seht iſt's anders. Ihr 
wißt jelbft, wie e8 heute hier ausfleht. 

„Meine Brüder, ich fpreche von Dingen, dir vor tue Die 


046 


tern vorgingen. Wir waren damals noch nicht geboren. Susque 
fus war damals jung, ſtark und rührig. Er Eonnte laufen mit 
dem Hirfch und kämpfen mit dem Bären. Er war ein Häuptling, 
weil feine Väter vor ihm Häuptlinge waren. Die Onondagoes 
kannten und liebten ihn, Kein Kriegspfad wurde geöffnet, ohne 
daß er ihn als der Vorderfte beſchritt. Kein anderer Krieger konnte 
fo viele Scalye zählen. Kein junger Häuptling hatte fo viele 
Zuhörer beim Berathungsfeuer. Die Onondagoes waren flolz dar⸗ 
auf, daß fie in einem fo jungen Manne einen fo großen Häuptling 
hatten. Sie glaubten, er werde lang leben, und ſie Tönnten ihn 
ſehen und ftolz auf ihn fein noch weitere fünfzig Winter. 

„Meine Brüder, Susquefus hat zweimal fünfzig Winter län 
ger gelebt; aber er verlebte fie nicht unter feinem Volke. Nein, 
diefe ganze Zeit über war er ein Fremder unter den Onondagoes. 
Die Krieger, die er Fannte, find todt. Die Wigwams, in welde 
er ging, vermifchten fich inzwifchen mit der Erde: die Gräber find 
dem Boden gleich geworden und die Enkel feiner Gefährten fchlep- 
pen fih mühfelig einher vor hohem Alter. Susquefus ift da; Ihr 
ſeht ihn und er flieht Euch. Er kann geben — er fpriht — er 
ift eine lebende Ueberlieferung! Warum ift dieß jo? — Der große 
Geift hat ihn noch nicht hinweggerufen. Er ift ein gerechter In⸗ 
dianer, und es ift gut, daß er fo lange bier behalten wurde, damit 
alle rothen Männer erfahren mögen, wie jehr er geliebt wird, So 
lange er bleibt, braucht Fein rother Mann einen Ealico-Sad. 

„Meine Brüder, die jüngeren Tage von Susquefus waren 
glücklich. Als er kaum zwanzig Winter zurücgelegt hatte, ſprach 
man fehon unter allen benachbarten Stämmen von ihm. Er hatte 
viele Skalpkerben. Als er dreißig Winter gefehen hatte, war fein 
Häuptling unter den Onondagoes, der mehr geehrt worden wäre 
oder mehr Macht bejeflen hätte. Er war der Erfte unter den 
Onondagoes. Es war nur ein einziger Fehler an ihm. Er nahm 
feine Squaw in feinen Wigwam, Der Tod kommt eh’ man fi s 


647 


verfieht, und fo geht's mit dem Heirathen. Endlich wurde mein 
Bater wie ein anderer Mann und wünfchte fich eine Squaw. Dieß 
trug fich folgendermaßen zu: 

„Meine Brüder, die rothen Männer haben jo gut Geſetze, wie 
die Blaßgefihter. Wenn ein Unterjchied ftattfindet, jo beſteht die⸗ 
fer im Halten derjelben. Ein Gefeb unter den rothen Männern 
fpricht jedem Krieger feinen Gefangenen zu. Bringt er einen Krie= 
ger ein, fo ift er fein Eigenthum — wenn eine Squaw, jo gehört 
fie ihm gleichfalls. Dieß ift recht. Er kann den Skalp des Krie= 
gers nehmen oder die Squaw nach feinen Wigwam bringen, wenn 
er leer ift. Ein Krieger, Waffervogel genannt, machte ein Mäd- 
hen der Delawaren zur Gefangenen. Sie hieß Ouithwith und 
war fchöner als der Kolibri. Der Waſſervogel hatte feine Ohren 
offen und hörte, wie fchön fie war. Er lauerte lange, bis er ſich 
ihrer bemächtigen konnte, und endlich nahm er fi. Sie gehörte 
ihm, und er gedachte fie in feinen Wigwam zu nehmen, wann er 
leer würde. Drei Monate vergingen, eh dieß gefchehen konnte. 
Inzwifchen ſah Susquejus Duithwith und Ouithwith fah Sus- 
quefus. Shre Augen verwendeten fich nicht von einander. Für fle 
war er das edelfte Mufethier in den Wäldern und in feinen Augen 
war fie das fledigte Reh. Er wünfchte fie in feinen Wigwam zu 
nehmen, und fie wünfchte ihm zu folgen. 

„Meine Brüder, Susquefus war ein großer Häuptling, der 
Waffervogel aber nur ein Krieger. Der Eine bejaß Macht und 
Anfehen, der Andere aber keines von beiden. Doc, ed gibt ein An 
fehen unter den rothen Männern, höher, als das eines Häuptlings. 
Es ift das Gefeh der rothen Männer. Ouithwith gehörte dem 
Waffervogel — fie gehörte nicht Susquefus. Es wurde eine große 
Berathung gehalten, und die Anfichten der Männer waren verfchie- 
den. Einige fagten, ein fo nüßlicher Häuptling und ein fo be= 
rühmter Krieger wie Susquefus follte der Gatte von Duithwith 
werden; Andere fagten, fie müfle dem Waſſervogel folgen, der fe 


648 


von den Delawaren geholt hatte. Ueber diefen Fragen erhob fih 
ein großer Zwiſt, und alle ſechs Nationen betheiligten fich dabei. 
Viele Krieger waren für das Geſetz, die meiften aber für Susque⸗ 
fus. Sie liebten ihn und waren der Meinung, er werbe für das 
Delawarenmädchen den beften Gatten abgeben. Sechs Monate 
lang verwidelte fih die Sache immer mehr, und eine dunkle Wolke 
flieg auf über dem Pfad, der unter den Stämmen hin und herführte. 
Krieger, die in Gemeinjchaft Skalpe genommen hatten, betrachte⸗ 
ten fich gegenfeitig wie der Panther den Hirfh. Einige waren bes 
reit, Die Art auszugraben für das Geſetz; Andere wollten es thun 
für den Stolz der Onondagoes und für den Eolibri der Delawaren. 
Die Squaws ergriffen Partie für Susquefus, Sie kamen von nah 
und fern zufammen, um fich zu befprechen, und drohten fogar ein 
Berathungsfeuer anzuzünden und darum zu rauchen, wie Die Krie- 
ger und Häuptlinge. 

Brüder, fo Eonnte es Teinen weiteren Mond mehr fortgehen. 
Duithwith mußt in den Wigwam des Waflervogels oder in den 
Wigwam von Susquefus gehen. Die Squaws fagten, fie jolle in 
den Wigwam von Susquefus gehen; fie thaten ſich zuſammen und 
führten fie nach feiner Thüre. Als Duithwith diefen Pfad ging, 
fah fie mit ihren Augen nach ihren Füßen; aber ihr Herz hüpfte 
wie das ſpringende Reh, wenn es in der Sonne fpielt. Sie ging 
nicht zur Thüre hinein. Der Waffervogel war da und verbot es 
ipr. Er war allein gefommen. Er hatte nur wenige Freunde, 
während die Köpfe und Arme der Breunde von Susquefus fo zahl 
reich waren, wie die Beeren im Bufch. 

„Meine Brüder, jenes Verbot des Waffervogels war wie eine 
Steinmauer vor der Thüre zu dem Wigwam des Fährtelofen. 
Duithwith konnte nicht hineingehen. Die Augen von Susquefus 
fagten ‚nein‘, während fein Herz ‚ia“ fagte. Er bot dem Waſſer⸗ 
dogel feine Blichyie , \ein Butler , We Wog Hünte und Sinen Wig- 
wam an; aber dem Waernogel war \kim Bungee ar, u 


649: 


er antwortete: ‚nein‘. ‚Nimm meinen Skalp‘, fagte er; ‚Du bift 
ſtark und Eannft es thun — aber nimm mir nicht meine Ge⸗ 
fangene.‘ | 

„Meine Brüder, jebt fand Susquefus in der Mitte des 
Stammes auf und öffnete fein Herz. ‚Der Waſſervogel hat Recht,‘ 
fagte er. ‚Nach unfern Geſetzen tft fie fein, und was die Geſetze 
der rothen Männer fagen, daß muß der rothe Mann thun. Wenn 
der Krieger gefoltert werden foll und er erbittet fich Zeit, um nad 
Haufe zu gehen und feine Freunde zu fehen, fommt er nicht an 
dem beftimmten Tag und um die beftimmte Stunde wieder zurüd? 
Sol ih, Susquefus, der erfte Häuptling der Onondagoes ftärker 
fein, als das Geſetz? Nein — mein Geficht müßte fih für immer 
verbergen in dem Gebüfch, wenn es fo weit käme. Es follte nicht 
jein — und fo darf es nicht fein. Nimm fie, Waflervogel — fie 
gehört dir. Behandle fie Liebreich, denn fie ift fo zart, wie ber 
BZaunfönig, wenn er zum erften Mal aus dem Nefte fliegt. Ich 
muß für eine Weile in die Wälder gehen. Wenn mein Geift Frie- 
den gefunden hat, wird Susquefus zurüdfehren.‘ 

„Brüder, als Susquefus feine Büchfe, fein Horn, feine bes 
ſten Moccafins und feinen Tomahawk holte, Herrfchte in jenem 
Stamm eine Stille, ähnlich der, welche mit der Dunkelheit fömmt. 
Die Männer fahen ihn gehen, aber Niemand wagte es, ihm zu 
folgen. Er ließ keine Spur zurüd, und er wurde der Fährtelofe 
genannt. Sein Geift fand keinen Frieden, denn er ift nie wieder 
zurüdgefehrt. Sommer und Winter famen und gingen oft, ebe 
die Onondagoed von feinem Anfenthalt unter den Blaßgefichtern 
hörten. Diefe ganze Zeit über lebte der Waffervogel mit Ouith⸗ 
with in feinem Wigwam, und fie gebar ihm Kinder. Der Häupt- 
ling war fort aber das Gefeß war geblieben. So geht auch ihr, 
Männer der Blaßgefichter, die ihr eure Schande in Ealico-Säden 
verbergt, und thut das Gleiche. Folgt dem Beiſpiel eins Ass 
nerd — feld ehrenhaft, wie der Biedere unter den DVGBßxh) 


Als diefe einfache Erzählung ih ihrem Ende mäberte, konzt 
ich unter den Führern der Calico⸗Säcke“ die Anzeichen von grojer 
Unruhe bemerken. Die beißende Bergleihung zwiſchen ihrem Trei⸗ 
ben und der Gerechtigkeit eines Indianers war ihmen unerträylic, 
denn nichts hatte mehr zu den Mißbräuchen, welche Der Antirentie⸗ 
mus in ſeinem Gefolge mit ſich führte, beigetragen, als die weit 
verbreitete Verblendung, welche im Lande über die Allmacht der 
Mafien herrſcht. Der Irrthum, welcher den Menichen überredet, 
trügliche Theile können ein untrügliches Ganzes geben, hat tiefe 
Burzel gefaßt, und eine Belehrung darüber verlekte ihren Düntel, 
während fie zugleich für den Erfolg ihrer Blane bedrohlich wurde. 
Ein Gemurmel lief durch die Berjammlung, welche bald nachher 
in ein gellendes Gefchrei ausbrach. Die Inſchens raffelten mit 
ihren Büchſen, indem fie fich für die Erreichung ihres Zweds am 
meiften von der Einfhüchterung verſprachen; aber einige ſchienen 
von einer fchlimmeren Abſicht erfüllt zu fein, und ich zweifle nidt, 
daß es, weil auch die Indianer jeßt zu ihren Waffen griffen, ia 
der nächften Minute zum Blutvergießen gefommen wäre, wenn fd 
nicht ploͤtzlich, von Jack Duning eingeführt, der Sheriff der County 
auf der Piazza gezeigt hätte. Dieje unerwartete Erfcheinung hatte 
eine Pauſe zur Folge, während welcher die „verkappten Bewafl- 
neten“ etlich und zwanzig Schritte zurüchwichen, die Damen aber 
in's Haus eilten. Was meinen Onfel und mid) betraf, fo waren 
wir über dieſe Unterbrechung eben fo erflaunt, wie nur irgend einer 
der Anwejenden. 


Dreigigftes Kapitel. 


„Tyrannenhaß und Schurfenhaß 
Sind glühend heiße Gefühle! 
Verehrung dem Recht, 
Verachtung dem fchnöden Knecht, 
Dem Feigling im Bubengewühle!" 
Hallecks wilde Rofe 
vom Allowan. 


Oogleich die Erfahrung gezeigt hat, daß das Erſcheinen eines 
Sheriffs in diefer Nentenbewegung noch Teineswegs eine Bürgfchaft 
iR für das Erfcheinen eines Freundes des Gefepes, jo war dieß 
Doch bei dem gegenwärtigen Anlaß zufälligerweife der Ball, und 
die „verfappten Bewaffneten” wußten, daß dieſer Würdenträger 
geneigt war, feine Pflicht zu erfüllen”). Eine von den wilden 


*) Der Herausgeber muß bier bemerfen, daß aus nahe liegenden Gründen die 
Namen, die Countied u. ſ. w., die in dem Manufcript zur Spradye kommen, 
erdichtet find; Ändeß liegen alle Lokalitäten den hier erwähnten nahe genug, um 
den doppelten Zwed der Wahrheit und Dichtung zu erreihen. Da einer von ben 
„ehrenwerthen Gentlemen” der Beehaehung über unjere Aeußerungen in Betreff 
der provinzialen Gefühle und Anjichten mit einer Großartigkeit herfällt, welche 
beweist, wie er jelbft durchaus ein Mann von Welt ift, jo wollen wir den übrigen 
Angehörigen des menschlichen Geſchlechts, welchen zufälligerweife dieje Buch in die 
Hände fommt, bemerien, daß wir diefe Erflärung für nöthig hielten, damit nicht 
jene gründliche Betrachtungäweije der Dinge, an bie man fich diöher fo eifrig hielt, 


652 


Ungereimtheiten, in welche die Demokratie verfallen Mm — 
die Demokratie iR ebenſowenig untrüglich, als ich Pie 
einzelnen Demokraten behaupten läßt — beiteht darin 
Sffiziere und die Sheriffe der Counties wählbar ũnd. 

daraus nothwendig, daß das Militär zu einem Poſſenfriel wir 
und die Bollätedung der Gefege in einer beſondern Graikheit 
bauptfählich daron abhängt, ob es in dem Willen befagter Exam 
liegt, fie vollziehen zu laſſen oder nicht. Letzteres iR namentſid 
eine treffliche Cinrichtung für die anfäßigen Schuldner zum Ki: 
fyiel, obgleich die abweienden Gläubiger nicht jo ganz dumit zu⸗ 
frieden jein werden. Doch all’ vieß if von feinem großem Be 
lang, fintemal die Theorieen, welche gegenwärtig über Geſetzgebunz 
und Regierung üblich find, einen Charakter tragen, daß, hätten 
fie eine Wahrheit zur Grundlage, Gejeße und Reyierungebeumtr 
überhaupt ganz unnöthig wären. Zwangsmaßregeln aller Art können 
nur nachtheilig wirken, wenn man ihnen Bollfommenheit zufchreikt. 

Eobald die Bewegung ihren Anfang genommen hatte, und die 
Damen entflohen waren, nahm ih Senefa und jeinen Mitgefan- 
genen am Arm und führte fie in das Bibliothekzimmer. Kiel 
that ich, weil ih es für unbillig hielt, Gefangene einer gefäht- 
lichen Lage auszufeßen — und in der That, ich dachte im jenem 
Augenblide an nichts Anderes. Unmittelbar darauf kehrte ich nad 
der Piazza zurüd, wo man midy nicht vermißt hatte, um Zeuge 
der weiteren Borgänge zu fein. 

Wie bereits angedeutet wurde, war es befannt, daß diefer 
Sheriff nicht zu den Gönnern der Antirentenbewegung gehörte, und 
da man nicht glaubte, er könne ſich ununterftügt auf einen folchen 
Schauplatz gezeigt haben, jo wichen die Infchens zurück und thaten 


weil auf den Blättern einer Re Novelle ein gewiſſes Haud oder eine gewiſſe Straße 

enannt wird, von dene glauben konnte, man kenne jeded darin mwohnende 

—— — unſere Sinfpielungen auf dieſen ober jenen befonbern ndern Würdenträger 
ehe 


Der Heraudgeber. 


in diefer Weife der Gefahr eines augenbliclichen Zuſammenpralls 
Einhalt. Ich habe feitdem unter der Hand erfahren, Daß einige 
aus der Bande fich nach der Erzählung des Adlerflugs wirklich 
fhämten, weil fie fich jagen laſſen mußten, eine Rothhaut habe 
ein lebhafteres Gefühl für Gerechtigkeit, als die Weißen. Was die 
Führer in diefer Angelegenheit auch immer über die Bedrängniffe - 
der Pächter, über „Futteralbräuche," „Ariftofratie” und „Zinshüh- 
ner” jagen mögen, fo folgt doch daraus noch keineswegs, daß fie 
an ihre eigenen Theorien und Beweißgründe glauben. Im Gegen- 
theil trifft bei folchen Menfchen in der Regel der Fall zu, daß fie 
fi ganz frei von der Aufregung halten, die fie bei Anderen zu 
wecken fih zum Gejchäft machen. Sie haben hierin Aehnlichkeit 
mit dem berühmten John Wilkes, welcher, als er Georg III. den 
Charakter eines früheren. Mitarbeiters in feiner Agitation fchilderte, 
ganz ernfthaft die Bemerkung beifügte: „er war ein Wilkefite, 
Sir; ich war es nie.” 

Auch das unerwartete Auftreten Dunings, des verhaßten Ge- 
Thäftsführers unferer Familie, blieb nicht ohne Wirkung ; denn Dies 
jenigen, welche auf der Außenfeite des Vorhangs fanden, konnten 
nicht wohl daran glauben, daß er es wagen würde, fich ohne einen 
zureichenden Hinterhalt in Ravensneft zu zeigen. Wer übrigens fo 
dachte, kannte Jack Duning nicht. Er hatte allerdings einen na= 
türlihen und fehr verfländigen Widerwillen gegen das Theerfaß 
und den Federnfad; aber wenn die Nothwendigkeit ein Wagniß 
forderte, fo war Niemand kühner, als er. Seine unvorhergefehene 
Ankunft laͤßt fich leicht und einfach erklären. 

Unruhig über die Art, wie wir Ravensneft befuchten, beichloß 
dieſer wadere Freund nach einer Zögerung von einigen Tagen ung 
zu folgen. Als er in der County anlangte, hörte er von dem 
Brand der Scheune, von dem Verſuch, den man mit dem Haus 
beabfichtigt hatte, und machte fi ohne Säumen auf den Weg, um 
den Sheriff aufzufuchen. Da es Dunning hauptfächlich darum zu 


654 


thun war, die Damen aus ber Höhle des Löwen zu bringen, f 
wartete er nicht auf das Aufgebot des posse comitatus, fondern 
miethete ein Dußend entfchloffener, bewaffneter Burfche, mit denen 
er nach dem Neſt aufbradh. Wie er fih dem Haufe näherte, er⸗ 
reichte ihn das Gerücht, Daß wir belagert wären; es wurde baber 
nöthig, zu einigem Mandvriren Zuflucht zu nehmen, um der Gar- 
nifon Succurs bringen zu Tönnen. Da Dunning als Knabe und 
als Mann manden Monat bei meinem Onkel und Bater in dem 
Neſt zugebracht hatte, fo war er mit allen Bindungen und Wegen 
der Umgegend wohl vertraut; namentlih kannte er die Lage der 
Klippe, des Hofes und die verfchiedenen Eigenthümlichkeiten des 
Platzes. Unter andern Einrichtungen, die im Laufe der lebten 
Jahre getroffen worden waren, hatte man auch am Ende der lan 
gen Gallerie, welche durch einen der Klügel führte, eine Thüre 
angebracht und eine Treppe an den Kelfen angebaut, vermittelt 
welcher man zu gewiflen Pfaden gelangen konnte, die fich durch die 
Wieſen binfchlängelten und den Bindungen des Stromes folgten. 
Dunning beſchloß den Verſuch zu machen, ob er nicht won dieſer 
Seite aus in’s Haus kommen könne, indem er hoffte, ex werde fih 
wohl Jemand drinnen vernehmlich machen können, im Falle er die 
Zhüre verfchloffen finde. Alles gelang ganz nach Wunſch, obſchon 
vom ganzen Haushalt nur die Köchin im anderen Flügel auf ihrem 
Poften war. Sie fah den Ankoömmling augenblidlich, wie er id 
auf dem oberen Theil der Treppe zeigte, und Jack Dunnings Ge 
fiht war im Neft fo gut bekannt, daß die gute Frau keinen Augen 
bi Bedenken trug, ihn einzulaffen. So gelangte er in das Ge 
bäude und fein ganzer Haufen folgte ihm. Letzteren ertheilte er 
die Weifung, fih in den Gemächern zu verbergen, worauf er 
und der Sheriff fich der Thüre näherten. Dort hörte er den größten 
heil der Rede Adlersflugs mit an und war Zeuge der Aufmerk 
ſamkeit, welche allerfeits feiner Erzählung gefchenft wurde. Das 
Uehrige iſt dem Leſer bekannt. 


655 


SH muß bier gleichfalls bemerken, daß Opportunity, bie 
Dunning und fein Gefolge hatte ankommen fehen, Feinen Augen- 
blick fäumte, die Gefangenen, fobald fie fich mit ihnen allein in 
der Bibliothek befand, ihrer Bande zu entledigen und ihnen ver- 
vermittelft deffelben Ganges, der Thüre uud der Treppe die Mittel 
zur Flucht an die Hand zu geben. So vermuthe ich wenigfteng, 
denn die Schwefter ift nie über diefen Gegenfland zur Nede geftellt 
worden. Seneka und fein jchurkifcher Spießgefelle waren ver⸗ 
ſchwunden ohne fich feitdem wieder in unferer Gegend bliden zu 
laffen. Ihre Flucht Hinderte die Anftellung einer Klage wegen 
Berfuchs der Mordbrennerei. Der Mord Steele's, des Sheriff- 
Gehilfen von Delaware, hat dem „Inſchen“⸗Syſtem einen Stoß 
verfeßt und in dem Lande ein Gefühl erweckt, welchem, in ſolcher 
Form wenigfteng, von Menfchen Fein Widerftand geleiftet werden 
Eonnte, die fo offen allen Grundfäben der Ehrenhaftigkeit Troß 
boten, wie die Antirenters. 

Als ich, nachdem ich Senefa in das Bibliothef-Zimmer ges 
ftoßen hatte, wieder auf der Piazza erfchien, waren die Inſchens 
in augenfcheinlicher Verwirrung um etwa zwanzig oder dreißig 
Schritte zurüdgewichen, währenn die Indianer Talt und ruhig 
unter ihren Waffen fanden — fo wachſam zwar, wie auf Beute 
lauernde Panther, aber doch im Zaume gehalten durch die Ge- 
laffenheit, mit welcher ihre Führer den Verlauf der Dinge beob- 
achteten. Der Sheriff forderte nun die Erfteren als Geſetz⸗Ueber⸗ 
treter auf, fih zu zerflreuen, und nannte ihnen mit einer 
Stimme, die hinreichend klar und beflimmt war, um verftanden 
werden zu Tönnen, die Strafen, weldhe fie durch eine Weigerung 
über fich verhängten. Es war ein Augenblid, während beffen 
die Inſchens unfchlüffig zu fein fchienen. Site hatten fih in 
der vollen Adficht eingefunden, meinen Onkel und mich mit dem 
Iheer=- Eimer zu bedienen und uns durch eine derartige Ein⸗ 
[hüchterung einen Vergleich abzunöthigen. Dieß war das feige 


656 


Ausfluchtsmittel von Hunderten, die einzelne Perfonen Angriffen 
und zu ängfligen verfuchten — von Menſchen, die in befondere 
Gunft bei einer gewiflen Klaffe unſrer ultra Breijeitöfreund 
Reben, ſolcher Freiheitsfreunde, welche meinen, fie feien im Be 
fib aller öffentlichen Tugend der Nation, und dadurch alle ihre 
Handlungen rechtfertigen zu können glauben. Der ganze Haufen ' 
diefer tugendhaften Bürger, welcher es für nöthig hielt, die Blut 
der Scham unter ihren GalicosStapuzen zu verbergen, wid mit 
einem Male mit aller Eile zurüd, anfangs zwar noch an einiger 
Ordnung fefthaltend, aber bald in eine Verwirrung gerathend, die 
fich in kurzer Zeit in eine chaosartige Flucht auflöste. Der Grund 
lag in dem Umftande, daß fi) Dunnings Leute an den Zimmer 
fenftern zu zeigen begannen und ihre Musketen⸗ oder Büchfenläuft 
durch diefelben ſteckten. Dieß bewog die „verfappten Bewaffneten‘ 

wie e3 bei allen AntirentensUnrubhen ſtets der Fall geweſen iſt, zu 
einem wunderbar eiligen Rüdzug. Wenn der Streiter in einer 
guten Sache dreimal ftark ift, fo if derjenige zehmfach eine Memme, 
welcher in feinen Händeln Unrecht hat. Hieraus erklärt fich ein- 
fach die Feigheit, welche unter denen, die an dieſem Infchenkriege 
Theil nahmen, fich fo allgemein an den Tag legte — eine Feigheit, 
welche dazu Anlaß gab, daß zwanzig gegen Einen die Helden 
fpielten, geheime Berfuche auf das Leben von Schildwachen gemacht 
wurden, und fonftige Schändungen allen männlichen Gefühls vor- 
fielen, die fo bezeichnend waren für das heroifche Treiben unſerer 
Gegner. 

Sobald wir von den Inſchens für den Augenblick nichts mehr 
zu fürchten hatten, fanden wir Zeit, den Indianern wieder unfte 
Aufmerkfamkeit zuzuwenden. Letztere ſchauten mit ſtummer Ber: 
achtung Denen nach, welche die Lebensweiſe und vor Allem den 
Muth der Indianer durch ihre Nachäfferei fo ſchmählich beſchimpf⸗ 
ten, und Prairiefeuer, der ein wenig Eu ſprach, bemerkte gegen 
mich mit Nachdruck: 


637 


„Arme Inſchens — armer Stamm — läuft davon vor feinem 
eigenen Kriegsgeſchrei!“ | 

Die war buchftäblich Alles, was die Krieger der Prairien 
über dieſe Störer des öffentlichen Friedens, über die Werkzeuge 
der Habgier zu äußern fich herabließen, welche Nachts umber- 
fireifen wie Wölfe, um das. verirrte Lamm zu ergreifen, aber raſch 
Reißaus nehmen, wenn fie einen Bullenbeißer Enurren hören. Man 
ann fich über folche Elende, die auch nie und nirgends einen ein= 
zelnen Funken vom wahren Geift der Freiheit an den Tag gelegt 
haben, nicht hart genug ausdrüden; denn ſtets zitterten fie vor 
der Autorität, wenn dieſe auch nur mit dem mindeften Anjchein 
von ihrer Gewalt auftrat, während fie diefelben unabänderlich mit 
Füßen traten, fo oft das Ueberwiegen der Zahl die Gefahr befeitigte. 

Der alte Susquefus hatte den Vorgängen ruhig zugefehen, 
denn er kannte die Befchaffenheit des Tumults und verftand Alles 
volllommen, was mit den Ausbrüchen defjelben in Berbindung 
fland. Sobald auf der Piazza die Ordnung wieder hergeftellt 
war, erhob er ſich noch einmal, um feine Säfte anzureden. 

„Meine Kinder,” jagte er feierlich, „ihr hört meine Stimme 
zum letzten Mal. Auch der Zaunkönig kann nicht immer fingen, 
und fogar die Schwinge des Adlers wird mit der Zeit müde. Ich 
werde bald aufgehört haben, zu fprechen. Wenn ich in den glüd- 
lichen Sagdgründen der Onondagoes anlange, will ich den Kriegern 
dort von eurem Befuche erzählen. Eure Väter follen erfahren, daß 
ihre Söhne die Gerechtigkeit lieben. Mögen die Blaßgefichter 
immerhin Papiere unterzeichnen und hinterdrein d'rüber laden. 
Das Berfprechen eines rothen Mannes ift fein Geſetz. Wird 
Einer gefangen genommen, und feine Befteger wünjchen ihn zu 
foltern, fo find fie zu edelmüthig, um ihn nicht hinziehen zu laſſen 
u feinem Stamm, damit er Abſchied nehme von feinen Breunden. 
At feine Zeit um, fo kehrt er zurüd. Wenn er Häute verfpricht, 
fo bringt ex fie, obſchon Fein Geſetz ihm in die Wälder folgen und 

Ravensneft. AR 


658 


ihn dazu zwingen kann. Sein Berfprechen gebt mit ihm; jeine 
Zufage ift flärker als Ketten — fie bringt ihn wieder zurüd, 
„Meine Kinder, vergept dieß nie. Ihr feid Feine Blaßgeſich⸗ 
ter, die das Eine fagen und das Andere thun. Was thr fagt, 
müßt ihr erfüllen. Wenn ihr ein Geſetz macht, fo haltet es au. 
Diep ift recht. Kein rother Mann begehrt den Wigwam eines 
Andern. Braucht er einen Wigwam, fo baut er ihn ſelbſt. So 
ift es nicht bei den Blaßgefichtern. Der Mann, welcher keinen 
Wigmwam hat, verfucht, wie er den feines Nächften an fich bringt. 
Während er dieß thut, Liest er in feiner Bibel und geht in feine 
Kirche. Ich habe bisweilen gedacht, je mehr er leſe und bete, deſto 
mehr fei er auf den Wigwam feines Nachbars erpicht. So koͤmmts 
wenigftens einem Indianer vor — möglich, daß er hierin irrt. 
„Meine Kinder, der rothe Mann ift fein eigener Herr. Er 
geht und fommt, wie es ihm beliebt. Wenn die jungen Männer 
den Kriegspfad einschlagen, fo kann er es auch thun. Er kann auf 
den Kriegspfad ziehen oder auf die Jagd gehen, Tann aber auch in 
feinem Wigwam bleiben. Alles, was er zu thun hat, beſteht 
darin, daß er fein Verfprechen hält, nicht ſtiehlt und nicht unauf- 
gefordert in den Wigwam eines andern rothen Mannes geht. Er 
if fein eigener Herr. Er fagt e8 zwar nicht, aber er ift ed den- 
noch. Wie verhält fi) dieß mit den Blaßgefihtern? Sie fagen, 
fie jeien frei, wenn die Sonne aufgeht; fie fagen, fie feten frei, 
wenn die Sonne über ihren Häuptern fteht, fie fagen, fie ſeien 
frei, wenn die Sonne fich hinter den Bergen verbirgt. Sie hören 
nie auf, davon zu fprechen, daß fle ihre eigenen Herren ſeien. 
Hievon reden fie mehr, als fie in ihrer Bibel leſen. Sch habe 
nahezu hundert Winter unter ihnen gelebt und weiß, was fe find. 
Sie thun dieß und mollen noch obendrein einem andern feinen 
Wigwam nehmen, Sie yiriyen vn Kreiheit; dann fagen fie aber, 
du ſollſt Diele Turm yaben ut IHR ar ii sten. Gie 


fprechen von Tregeitt um ar ie ER EUR 


Pe 


659 


In Calico⸗Säcke ſtecken, damit ihrer Fünfzig einen Eimzigen theeren 
oder federn können. Sie fprechen von Freiheit und verlangen, daß 
Alles nach ihrem Kopf gehe. | 

„Meine Kinder, dieſe Blaßgefichter Eönnten wohl mit euch 
nah den Prairien gehen, um da zu lernen, was recht if. Es 
wundert mich nicht, daß fie ihre Geſichter in Säde verftedden. Sie 
fühlen die Schamröthe auf ihren Wangen und haben auch allen 
Grund dazu. 

„Meine Kinder, dieß ift das lebte Mal, daß ihr meine Stimme 
höret. Die Zunge eines alten Mannes kann fich nicht immer be- 
wegen. Nehmt daher meinen Rath an und thut, was recht if. 
Der große Geift wird euch darin belehren — hört auf meine 
Stimme Was mein Sohn von mir gejagt hat, ift wahr. Es ift 
mich fchwer angefommen, denn die Gefühle hätten- gern anders 
gehandelt; aber es geſchah nicht. Nach Furzer Zeit Fam wieder 
Frieden über meinen Geift und ich war froh. Aber ich konnte nicht 
zurüdgehen und unter meinem Volke leben, denn ich fürchtete, zu 
thun, was unrecht war. Ich blieb unter den Blaßgefichtern und 
fand hier Freunde. Meine Kinder, lebt wohl! Thut was recht ift, 
und ihr werdet glüdlicher fein, als das reichfle Blaßgeficht, wenn 
e8 unrecht handelt." 

Nach diefen Worten febte fih Susquefus nieder und dann 
traten die rothen Männer, einer nach dem andern, heran, um ihm 
die Hand zu drüden. Die Indianer machen wenige Worte und 
laſſen lieber ihre Handlungen fprehen. Keine Sylbe verlautete 
unter diefen rohen Kriegern, als fie fih von Susquefus verab=- 
fchiedeten. Jeder hatte bereitwillig dem Manne, deffen Gerechtig- 
keit und Selbftverläugnung in ihren Ueberlieferungen gefeiert wer⸗ 
den, den Zoll der Ehrerbietung abgetragen, und nachdem dieß 
geſchehen war, ging er zufrieden, wenn auch nicht ganz glücklich, 
feines Weges. Die Häuptlinge drüdten au ern Deus, 
welche fih auf der Binzza befanden, die Hand ud uherun Lt 

—X 


Dant für die freundliche Aufnahme, die fie gefunden hatten. Bein 
Onkel vertheilte den Ueberreſt jeiner Siebenſachen unter fie, und 
fie verließen ung mit den freundfichften Gefühlen. Gleichwohl lag 
in ihrem Abzuge nichts Dramatiſches, denn er war fo einfach wie 
ihre Ankunft. Sie hatten den Biederen unter den Onondagoes 
bejuchen wollen, und nachdem diejer Zwed erreicht war, zögerten 
fie nicht länger mit dem Aufbruch. Ich jah ihre Linie ſich auf der 
Landftraße hinwinden, und die Epijode eines ſolchen Bejuches kam 
uns Allen mehr wie ein Traum, denn wie eine Wirklichkeit vor. 
Sie erlitten auf ihrem Rückwege keine Störung, und eine halbe 
Stunde, nachdem fie die Piazza verlaffen hatten, ſahen wir fe 
den Berg hinanziehen, wo wir die Herunterfommenden zum erfen 
Mal bemerkt hatten. 

‚Run, Hodge," ſagte Jack Dunning einige Stunden fpäter, 
„wofür habt Ihr Euch entichieden? Wollt Ihr hier bleiben oder 
nad Eurem eigenen Sig in Weſt⸗Cheſter ziehen ?” 

„Ich gedente zu bleiben, bis es uns Allen gefällt, aufzu= 
brechen; dann aber will ich mich bemühen, fo frei zu fein wie ein 
Indianer und hinzugeben, wohin es ung beliebt — natürlich ſtets 
vorausgeſetzt, daß wir nicht gegen die Neigung unferes Nachbars 
in deffen Wigwam wollen. “ 

„Sa Dunning lächelte, und ſchritt einigemal in dem Biblio- 
thefzimmer auf und ab, ehe er wieder das Wort ergriff. 

„Als ich in der County anlangte, ließ ich mir fagen, Ihr und 
alle Eure Angehörigen feiet vorbereitet, den Morgen nad dem 
Berfuh, Euer Haus anzuzünden, die Gegend zu verlaffen.” 

„Dieß ift eine von jenen liebenswürdigen Verkehrungen der 
Wahrheit, welche fo oft die Moral einer ganzen Gefchichte vers 
ſchönern müffen. Was die Leute wünfchen, bilden fie ſich ein, und 
was fie fich einbilden, fagen fie aus. Sogar die Mädchen betheuern, 
fie wollen das Haus wicht werlaften, fo lange es noch ein Dad 


a 


661 


habe, um ihre Häupter zu fchirmen. Aber, Jack, woher kommt 
dieſer Geiſt?“ 

„Ich ſollte denken, dieß wäre die letzte Frage, die ein leidlich 
unterrichteter Mann zu ſtellen nöthig hat,“ antwortete Dunning 
lachend. „Es liegt auf flacher Hand, woher er kommt — von 
dem Teufel ſelbſt, denn er hat jedes Merkzeichen von dem Hand⸗ 
werk dieſes ſaubern Patroons. Zuvörderſt liegt Geldgier oder 
Habſucht zu Grunde. Dann kommen die Lügen als feine Werk⸗ 
zeuge. Seine erfte und anfpruchvollfte Lüge ift die der Freiheit, 
denn fie tritt alle Grundfäße der lebteren unter die Füße. Dann 
fommen die Schode von Hilfstruppen in der Form Keiner Erfin- 
dungen, welche die Thatfachen in Betreff der urfprünglichen An- 
fiedelung des Landes abläugnen, über den Fortgang derfelben An- 
gaben fabrieiren und aller Wahrheit zum Troß derartige Mad- 
werfe fefthalten, wenn man meint, daß etwas damit zu erzielen 
fei*). Ueber den Urfprung eines folhen Treibens Tann fein Irr⸗ 
thum obwalten, e8 müßte denn fein, daß Alles, was man ung 


.) Der entfetzliche Hang, feine Zwede durch Lügen zu erreichen, ift in Amerika 
fo in Aufihwung gefommen , daß er alle Gerechtigkeit gänzlich umzuftürzen droht. 
Ohne mich auf allgemeine Thatjachen einlaffen zu wollen, drängen fidy doc, zwei 
Umftände, die in unmittelbarer Verbindung mit der Antirentenfrage ftehen, unwill⸗ 
türlich meiner Berüdfichtigung auf. Gie saiehen fih auf große Beflgthümer, auf 
dad Erbe eined Engländerd, welcher die Hä fte einer langen Lebendzeit im Lande 
verbrachte. Es ift in öffentlichen Iegislativen Dokumenten behaupter worden, Daß 
die Frage feiner Berechtigung an diefe Beſitzthümer noch unerledigt fei, währen? 
doch veröffentlichte Erlaffe des höchften Landesgerichtshofs zeigen, daß ſchon vor 
dreißi Y ren zu Gunſten bed bejagten Engländerd eine Entſcheidung gegeben wor⸗ 
den if; erner Sprechen in Beziehung auf jeinen Erben amtlich officielle Angaben ſich 
Pe aus, er jei nie dazu zu vermögen gewefen, feine Liegenſchaften anderd, ald 
auf Lebensdauer zu verpachten. Nun ift ed zwar von keinem fonderlichen — 
ob dieß wahr iſt oder nicht, ſintemal das Geſetz Jedem geſtattet, in dieſer Hinſicht 
au handeln wie er will. Die Thatſache ift aber, wie ih aus dem Munde 

ed Agenten, der die Bertragd- Urkunden audftellte, vernahm, 
ganz dad Gegentheilvondem, was in obgejagter legislativer Ur— 
funde offen behauptet wird. Der gegenwärtige Befitger bed frag- 
lihen Eigenthbumd ifi von dem Pächter auf’d Dringlidhfte ange- 
gangen worden, neue Bahtverträge auf lebenddauer zu geftatten, 
und er bat fi entjchieden geweigert, zu willfahren! In diefem Falle 
alſo ift die Geſeiggebung ohne Zweifel durch die felbftfüchtigen Darftellungen der 
Antirenterd hintergaugen worden. Der Heraudgeber. 


662 


über den Unterfchied zwifchen gut und bö8 lehrt, eine Dichtunz 
wäre. In der That, Hodge, ich bin erflaunt, Daß ein wernünf- 
tiger Mann nur fo fragen kann. 
„Vieleicht habt Ihr recht, Jack; aber zu was foll es führen?“ 
„Ei, dieß if nicht jo leicht zu beantworten. Die neuen Er- 
eigniffe in Delaware haben die befieren Befühle Des Landes ge- 


wet, und man kann nicht wiflen, was hieraus hervorgehen mag 


Eines übrigens halte ich für gewiß; der Geift, der in dieſer An 
gelegenheit herrſcht, muß gänzlih, aufs Wirkſamſte und voll- 
Kändig unterdrüudt werden, oder wir find verloren. Sobald ma 
einmal im Lande weiß, daß man fi durch Gombinationen und 
durch die Macht der Zahlen feiner Schulden entledigen und di 
gefchloffenen Verträge nach eigenem Gutdünfen modeln kann, jo 
wird’s nicht lange mehr anftehen, bis fogar die Hölle ein Paradies 
if in Vergleihung mit New=Mork. In der Natur aller diejer 
Bachtverträge liegt auch nicht ein einziger gerechter Beſchwerde⸗ 
grund, welche Rachtheile auch in einzelnen Fällen obwalten mögen, 
aber wollten wir auch annehmen, dem Berhältniß des Grundherm 
und der Pächter, wie es bei uns befteht, Liegen falfche focialt 
Principien zu Grunde, fo wäre es doc ein weit größeres 
Uebel, durch eine ſolche Kombination einen Re: 
formverſuch madhen zu wollen, ald wenn die ur— 
fprünglidhe Benadhtheiligung in alle Ewigkeit fort- 
- dauerte.” 

„Sch vermuthe, diefe Gentry Hält fi für ſtark genug, ihre 
Interefien in die Politik hinein zu fpielen, und hofft wohl durd 
dieſen Prozeß ihren Zwed zu erreichen. Aber Antimaurerei und 
verjchiedene derartige Entwürfe find bis jet unterlegen, und jo 
dürfte e8 auch in der Folge mit dieſen gehen. Wir haben da 
einen verföhnenden Zug in den Inftitutionen, Jack; man Tann 
wohl eine Zeitlang betrügen, aber fo wird es unmöglich immer 
fortgehen. Ich beflage nur, daß der wirklich ehrenwerthe Theil 


663 


des Gemeinwefens fo lange feinen Einfluß ruhen läßt; wäre nur 
die Hälfte deſſelben fo thätig, wie Diefe Elenden, fo würben wir 
gut genug zurecht fommen können. ” 

„Das Refultat if unbekannt. Möglich, daß man mit der 
Sache gänzlich, wirkſam und in einer Weiſe zu Stande kommt, 
welche die Schlange tödtet und nicht blos zerſtückelt. Aber eben 
fo gut läßt fich denken, daß man nur zu halben Maßregeln greift, 
in weldhem alle das Unwefen fortfchleicht, wie eine Krankheit im 
menfchlichen Körper; fle ift flet3 vorhanden, droht unabläffig mit 
Rückfällen und ift aller Wahrfcheinlichkeit nach ein Mittel, die end» 
liche Auflöfung des Leibes herbeizuführen. ” 

Gleichwohl hielt mein Onkel Wort und blieb in der County, 
in welcher er fich noch immer aufhält. Unfer Hausweſen hat jedoch 
eine neue Berftärkung erhalten, und bald nach dem Befuche der 
Inſchens fand in der Politik der Antirenters ein Wechfel ftatt — 
zwei Momente, denen wir ein Sicherheitögefühl verdanken, wie es 
uns fonft kaum zu gut gekommen wäre. Die Berftärfung rührte 
von gewiffen jungen Männern ber, die von den Quellen aus ihren 
Weg zu uns gefunden haben und im Neft Säfte geworden find. 
‚Sie find Tauter alte Bekannte von mir, meiftentheild Schulfames . 
raden und zugleich auch große Berehrer von unfern jungen Damen. 
Jede von den Mündeln meines Onkels, die Goldbroofe ſowohl ale 
die Marston, hatte, wie wir jeßt entdedten, einen begünftigten 
Freier — Umftände, die mir in meiner Bewerbung um Mary 
Warren freie Hand ließen. In Patt habe ich eine treffliche Ver⸗ 
hündete gefunden, denn fie liebt das theure Mädchen faft eben fo 
fehr, wie ih, und hat mir in diefer Angelegenheit große Dienfte 
geleiftet. Mein Geſuch ift bedingungsweife angenommen, obſchon 
Mr. Warren’s Einwilligung noch nicht nachgefucht wurde. In der 
That glaube ih kaum, daß der gute Rektor auch nur die mindefte 
Ahnung hat von dem, was im Winde ifl. Onkel Ro weiß freilich 
den ganzen Stand der Dinge, obſchon Ach nie gegen ihn eine Sylbe 


664 


verlauten ließ. Zum Glück if er mit der Wahl feiner beiden 
Mündel wohl zufrieden, und dieß bat feinen Verdruß über dir 
fehlgeichlagenen Plane einigermaßen gemildert. 

Mein Onkel Ro hängt durchaus nicht am Gelde, und der Un- 
Hand, daß Mary Warren auch nicht das mindeſte Bermögen beißt, 
macht ihm Keine Sorge. Weberhaupt ift er ſelbſt jo reich, daß er 
wohl weiß, es liege in feiner Macht, meine Mittel um ein Anſehn⸗ 
liches zu vergrößern und mich dadurd im Nothfall über die Ge⸗ 
fahren des Antirentiemug zu erheben. Nachſtehendes ift ein Pröb- 
chen von feinem Humor und von der Art, wie er fich zu benehmen 
pflegte, wenn ihn die Laune danach anwandelte. Eines Morgens, 
etwa eine Woche, nahdem die Inſchens durch die Scham vor den 
Indianern aus dem Felde gefchlagen worden waren, — denn hierin 
lag das Geheimniß ihres endlichen Verſchwindens aus unjerem 
Landestheile — eines Morgens, etwa eine Woche nach ihrem letz⸗ 
ten Befuche befanden wir uns in dem Bibliothelzimmer — id 
meine die Großmutter, meinen Onkel, Patt und mich — und 
plauderte über dieß und das, als mein Onkel plöglich ausrief: 

„Beiläufig, Hugh, ich habe dir ein wichtiges Stück Reuigkit 
mitzutheilen — eine Neuigkeit, welche dich in einem Belange von 
fünfzigtaufend Dollars angeht." 

„Hoffentlich doch Feine neuen Antirenten» Gefahren, Roger?" 
verfeßte meine Großmutter ängftlich. 

„Für den Augenblick hat Hugh von dieſer Seite her wenig 
zu befürchten. Der oberfte Gerichtshof der Vereinigten Staaten 
ift fein Schild, und dieſer hat wohl eine zureichende Größe, um 
feinen ganzen Leib zu deden. Was die zukünftigen Pachte betrifft, 
jo wird er, wenn ich ihm gut zu Rath bin, Feinen für länger als 
für fünf Jahre verleihen, und dann werden feine Pächter bei der 
Geſetzgebung genug lärmen, daß man ihnen geftatte, für fich ſelbſt 
ihren Handel fchließen zu dürfen. Aller Wahrfcheinlichkeit nad 
bringt am Ende die Scham unfere Freunde des freien Verkehrs 


665 


herum, und die Zeit wird fommen, wann unfere doppeltdeftillirten 
Freipeitsfchreier einzufehen anfangen, es ſei eine gar jämmerliche 
Art von Freiheit, welche einem reichen Grundbefiger nicht geftatte, 
feine Barmen für eine lange Periode abzutreten, oder einem armen 
Landwirthe verbietet, einen Vertrag zu fchließen, wie er ihm felbft 
am vortbeilhafteften ift. Nein, vorderhand wenigftens hat Hugh 
aus diefer Quelle nichts Ernfihaftes zu beforgen, obſchon man 
nicht weiß, was die Folge bringen mag. Gleichwohl aber wieder- 
hole ich, daß der Verluft, den ich meine, weit ficherer ift und fich 
dis auf fünfzigtaufend Dollars beläuft.” 

„Dieß ift viel Geld, wenn ich e8 verlieren ſoll,“ antwortete 
ih, obſchon ich mid). die Kunde nicht fehr anfechten ließ, „und 
es könnte mich in Berlegenheit bringen, in der Eile eine fo große 
Summe aufzutreiben. Dennoch geftehe ih, daß mir wegen diefer 
Angelegenheit nicht fehr bange ift, troß Eurer Ankündigung. Sch 
babe keine Schulden und der Rechtstitel an Alles, was ich befihe, 
it unbeftreitbar, wenn nicht etwa zulegt noch eine Entfcheidung 
kömmt, daß eine Verleihung des Königs von Republifanern nicht 
geduldet werden dürfe." 

„Dieß iſt Alles vecht ſchön, Meifter Hugh, aber du vergißft 
daß du der natürliche Erbe meines Befipthumes biſt. Patt weiß, 
daß für fie ein Schnipfelchen abfällt, wenn fie heirathet, und ich 
bin jept im Begriff, auf eine andere junge Dame eben fo viel als 
Morgengabe zu übertragen.” 

„Roger!“ vief meine Großmutter, „dieß kann dir unmöglich 
Ernft jein! Bon ebenfoviel, fprichft du?" 

„Genau von der vorgenannten Summe, meine theure Mutter. 
Ich habe Zuneigung gefaßt zu einer jungen Dame, und da ich fie 
nicht felbft heirathen kann, jo bin ich entfchlofien, ihr, fofern Geld 
dabei in Frage fommt, eine gute Partie möglich zu machen. ” 

„Aber warum wollt Ihr fie nicht felbft heirathen?” fragte 
ih. „Aeltere Männer, als Ihr, thun dieß mit jedem Tage." 


” 


. 666 


„Sa, Wittwer — ich gebe es zu; dieſe heirathen fort, und 
wenn fie taufend Jahr alt würden; aber nicht jo verhält ſich's mit 
uns Junggeſellen. Iſt einer einmal hübſch über feine Bierzig hin- 
aus, fo ift er micht leicht Dazu zu bewegen, daß er diefes Opfer 
bringe. Rein, es ift ein wahres Glück, daB fih Jack Dunning 
bier befindet. Ich habe ihm Arbeit gegeben; er muß mir eine Ur⸗ 
kunde auffeßen, welche auf Die junge Dame, die ich im Sinn hab, 
eine Morgengabe überträgt, ohne daB ihr Tünftiger Gatte ein 
Recht daran hätte, mag diefer nun fein, wer er will.“ 

„Es if Mary Warren!” rief meine Schwefter im Tone des 
Entzüdens. 

Mein Onkel lächelte und verfuchte eine gefebte Miene anzu 
nehmen; indeß Tann ich ihm nicht nachrühmen, daß ihm dieß fon- 
derlich gelang. 

„Ja — ja — e8 iſt Mary Warren, und Onkel Ro gedentt 
ihr ein Vermögen zu geben!” fügte Patt bei, indem fie wie ein 
junges Hirfhlein auf dem Boden umbertanzte, fich ihrem Bor: 
mund um den Hals warf und ihm in diefer Umarmung ein 
Dupend Küffe verfebte, als wäre fie noch ein Kind, obfchon fie 
bereitö eine ſchöne junge Dame von Neunzehn war. „Sa es ift 
Mary Warren, und Onkel Hodge ift ein prächtiger alter Gentle- 
man — nein, ein entzüdender junger Gentleman; und wenn er 
nur dreißig Jahre jünger wäre, fo müßte er feine eigene Erbin 
zur Srau haben. Guter, lieber, edelmüthiger, verfländiger Onkel 
Ro! Dieß fleht ihm fo gleich — troß aller feiner getäufchten Er- 
wartungen; denn ich weiß, Hugh, er hatte fein Herz daran ge 
jest, daß du Henrietta heirathen ſollteſt.“ 

„Und was hat der Umfland, daß ich Henrietta heirathe oder 
nicht heirathe, mit diefer Schenkung von fünfzigtaufend Dollars 
an Miß Warren zu fchaffen? Ich glaube die jungen Damen find 


noch immer zu Haben.” 
Oh, du yorigt wohl, wir ur Veran Die een 
u 


667 


werden," fagte Batt, welche bei diefer Anfpielung auf den Ehe- 

ſtand, felbft wenn fle eine andere Perfon betraf, erröthete und zus 

gleich lachte. „Mary Warren wird nicht immer Mary Warren 

ſein.“ 

| „And welcher Name könnte Ihr dann zukommen?” fragte 
Onkel Ro raſch. 

Aber Patt hielt zuviel auf die Rechte und Privilegien ihres 
Geſchlechts, um unmittelbar etwas verlauten zu laſſen, was auch 
nur den Anſchein einer Bloßſtellung ihrer Freundin gehabt Hätte. 
Das ſchalkhafte Mädchen ftreichelte daher die Wange ihres Oheims, 
erröthete noch Höher, blickte fchelmifch nach mir Hin, wendete ihre 
Augen ab, als könnte fle ein Geheimniß verrathen, und Eehrte fo 
gejept nach ihrem Stuhle zurück, wie wenn ſich's um den aller⸗ 
ernfteften Gegenftand handle. 

„Es ift dir aber doch nicht Ernft mit Dem, was du ung 
gefagt Haft, Roger?" fragte meine Großmutter mit mehr Intereffe, 
als ich in Betreff einer ſolchen Angelegenheit bei ihr für möglich 
gehalten hätte. „Iſt am Ende diefe Schenkung nur eine Grille?” 

„Was ich gejagt habe, ift jo wahr wie ein Evangelium, meine 
theure Mutter." 

„And hat Martha Recht? St wirklich Mary Warren die be⸗ 
günftigte junge Dame?" 

„Um der Neuigkfeit willen muß ich zugeben, daß Patt gut 
gerathen hat.” 

„St Mary Warren von deiner Abficht unterrichtet, oder haft 
du ihren Vater darüber zu Rathe gezogen?” 

„Beide willen darum. Wir haben geftern Abend Alles in’s 
Reine gebracht, und Mr. Warren willigt ein.” 

„Sn was?" rief ich auffpringend, denn der Nachdruck, welchen 
Onkel Ro auf die legten zwei Worte gelegt hatte, war zu bedeut- 
jam, als dag er hätte überfehen werden können. 

„Hugh Roger Littlepage — wohlgemerkt, WG mein 


668 


Name — zum Schwiegerfohn anzunehmen; und was noch mehr 
ift, auch die junge Dame iſt ‚angenehm‘. * 

„Bir Alle wiffen, daß fie mehr ald angenehm ift," ergriff 
Patt das Wort. „Sie ift entzüdend — trefflich! Angenehm if 
fein Ausdrud, den man auf Mary Warren anwenden darf.” 

„Path, Mädchen — wenn du auf Reifen gewefen wäreft, jo 
würdeft du wiflen, daß dieß ein Londoner Ausdruck ift, welcher 
bedeutet, daß Einem eine Sache angenehm if. Mary Warren if 
e8 nenehm, die Gattin von Hugh Roger Littlepage zu werden, 
und ich übertrage auf fle fünfzigtaufend Dollars als Heirathsgut.“ 

„Es Handelt fich hier um die ſen Hugh Roger Littlepage,' 
rief Patt, indem fie den Arm um meinen Hals fchlang, „nicht um 
jenen Hugh Roger Littlepage. Fügt nur dieß noch bei, Liebfler, 
theuerfter Onkel, und ih will Euch eine Stunde lang in einem 
fort küͤſſen.“ 

„Entfhuldige mich, mein Kind, der vierte Theil von dieſer 
Zeit würde ungefähr fo viel fein, als ich vernünftigerweife er: 
warten fönnte. Ich glaube übrigens, dag du Recht Haft, denn ic 
erinnere mich nicht, daß diefer Hugh Roger etwas bei der Sadıe 
zu fchaffen Hat, wenn nicht etwa das Geldhergeben für etwas gilt. 
Ich werde eine von deinen Muthmaßungen in Abrede ziehen.” 

Er Hatte kaum ausgefprochen, als die Thüre des Bibliothef- 
zimmers langſam aufging und Mary Warren hereintrat. Wie fie 
ſah, aus welchen Beftandtheilen unfere Gefellfchaft zufammengefegt 
war, wollte fie ſich wieder zurüdziehen, aber meine Großmutter 
lud fie freundlich ein, zu bleiben. 

„Ich fürchtete, eine Kamilienpartie zu flören, Ma'am,“ ent 
gegnete Mary fchüchtern. 

Patt eilte auf fie zu, fchlang den Arm um ihren Leib, zog fie 
in's Zimmer herein und fchloß hinter ihr die Thüre — alles in 
einer Auffchen erregenden Vie, WOK ag vuch in der Abficht 
der jungen Dame, do fr Antuetipuiat a el STTuRR. 





669 


Wir Alle lächelten, mit Ausnahme Mary’s, die halb erfreut, halb 
furchtſam zu fein jchien. 

„Es ift wirklich eine Familienpartie,“ rief Patt, ihre künftige 
Schwägerin küſſend; „und Niemand fonft fol zugelaffen werden, 
wenn nicht etwa der gute Mr. Warren kommt, um feinen Platz 
anzufprechen. Onfel Ro hat ung Alles gefagt, und wir find voll- 
fommen unterrichtet. 

Mary verbarg ihr Antlig an Patt's Bufen, aber bald zog fie 
meine theure Großmutter zurüd, um fie zu küſſen. Die Reihe 
fam fodann an meinen Onkel, und nad) diefem an Patt. Hierauf 
verließen alle Anwefenden, mit Ausnahme Mary's und mir, das 
Zimmer, und — ja — dann kam auch an mich die Reihe. 

Wir find noch nicht verheirathet, aber der Tag der Trauung 
ift bereitd anberaumt. Ein Gleiches muß ich von den beiden 
Mündeln berichten, und fogar Patt erröthet und meine Groß 
mutter lächelt gelegentlich, wenn die Namen von Gentlemen, die 
gegenwärtig in Egypten reifen, zur Sprache fommen. Die lebten 
Briefe des jungen Beekmann datiren fih, wie mir mitgetheilt 
wurde, aus jener Weltgegend. Die drei Trauungen follen in der 
St. Andrewskirche ftattfinden, und Mr. Warren wird die Feier- 
lichkeit vollziehen. 

Der Lejer wird fi wundern, wenn ich ihm noch zwei That» 
fachen mittheile. Meine Verlobung mit der Tochter eines armen 
Geiftlichen hat den Antirenters, die doch fonft fo laut über Ariſto⸗ 
kratie fchreien, zu viel Klatſcherei und Läfterung Anlaß gegeben. 
Man wendet dagegen ein, daß die Partie nicht gleich ſei! Jene 
Gleichheit, welche eine Folge der gefellfchaftlichen Stellung, der 
Erziehung, der Lebend- und Denkweife — meinetwegen auch des 
Borurtheils ift, hat für folche Perfonen natürlich Feinen Sinn. 
Sie find nicht einmal im Stande, das Borhandenfein derfelben zu 
begreifen, obſchon fie vecht wohl einfehen, dag ver Eieaiiuuer 
eines unbelafeten und fchönen Grundbrfiges reger iR, NE VE 


670 


Erbin eines armen Beiftlichen, der mit feinen fünfhundert Dollars 
kaum das Jahr hindurch ausreicht. Ze nun, ich laſſe fie brummen, 
denn ich weiß wohl, fie werben an mir nichts als Fehler finden, 
bis fie mir mein Land abgedrungen oder die Ueberzeugung gewon⸗ 
nen haben, daß fie es nie erhalten werden. Was Opportunity bes 
trifft, fo ift mir verfichert worden, fie drohe, mich wegen „Brudt 
. eines Eheverſprechens“ gerichtlich belangen zu wollen; auch würde 
eg mich durchaus nicht Wunder nehmen, wenn fle wirffich dieſen 
Verſuch machte. Es ift keineswegs ungewöhnlich, daß eine Perſon, 
dDie-ihr ganzes Herz und ihre ganze Seele an irgend einen beſon⸗ 
deren Zwed hängt, fi Umftände, die nie beftanden haben, al 
förderlich für ihre Plane träumt, und Opportunity mag fidh wohl 
vorftellen, das, was ich gehört habe, ſei ‚das Summen in ihrem 
Ohr“ geweien, Außerdem bat die Marktichreierei der geſetzgeben⸗ 
den Koͤrperſchaften die Damen allen Ernftes in Thätigkeit gefeht, 
und bald wird der Süngling von Glüd fagen können, der die Tage 
feiner Ehelofigkeit zuzubringen im Stande iff, ohne daß irgend 
ein verzweifelter Angriff, jet diefer nun juriftifch, oder moralifd), 
vom andern Gefchleht auf ihn geübt wird. Weberhaupt muß man 
auf Alles gefaßt fein, wo man fleht, der populärfte und zahle 
reichfte Zweig der Gefehgebung von New-NYork lebe wirklich des 
Glaubens, er könne jene feierliche Verwahrung der Eonftitution 
unferer Bereinigten Staaten, welche erklärt, „Fein Staat folle ein 
Geſetz erlafen, das die Verbindlichkeit von Verträgen beeinträd- 
tigt”, umgeben, wenn er, da ihm die Regulirung des Heimfall- 
ftatuts zufteht, den Beichluß faßt, fobald ein Grundbefiker fterbe, 
folle der Pächter fih an den Kanzler wenden dürfen, damit fein 
hoͤriges Gut in ein Hypothefar-Gut umgewandelt werde, welches 
nad Abtrag der darauf haftenden Schuld ihm frei und eigen zu⸗ 
gehöre! Man hat in England viel von einer „Fingerhutadminiftra- 
tion" gefprochen, und in der That ſcheint diefe induftrielle Nation 
die mit dem gedachten Ausdrud bezeichnete Zucht nach Amerika 





61 


ausgeführt zu haben. Wie Viele von denen, die für ein ſolches 
Geſetz flimmten, werden wohl gerne nach zehn Sahren ihr Ja und 
Nein in den Zournalen der Aſſembly Iefen? Wenn dann noch einer. 
von diefen Menfchen im Staat übrig ifl, wird er wohl ein Gegen- 
ftand des allgemeinen Mitleids fein. Wir haben zwar ſchon viele 
fegislative Raͤnke erlebt, und einige davon find mit leidlichem Wig 
ausgeführt worden; aber die Pladerei, um die ſich's hier handelt, _ 
ift ein fo handgreifliches Experiment, daß ihm Jedermann auf den 
Grund. fehen muß, der nicht gerade mit einer ganz negativen Dofis 
von Scharffinn begabt iſt. Unfere eigerien Gerichtshöfe werden 
nicht einmal Rüdficht darauf nehmen, felbft wenn der Senat feine 
Zuftimmung ertheilte, und was die höheren Gerichtöftellen der 
Bereinigten Staaten betrifft, fo müflen fie nothwendig das Uns 
weſen nach Berdienft behandeln und ihm das Brandmal der Schande 
aufdrüden. Der nächſte Schritt wird darauf hinauslaufen, dag 
man ein Geſetz zu Regelung des fogenannten Heimfalls erläßt und 
dabei die Klaufeln zu Grunde legt, vermöge welcher die Schuldner 
eines Verſtorbenen ihre Verpflichtungen mit einer Münze, welche 
den technifchen Namen „„puppies““ führt, erfüllen können. 

Jaaf fafelt fort. Hin und wieder brummt er über vergangene 
Ereigniffe und über den Zuftand des Landes feine Gefühle vor fich 
hin. Einen Antirenter fieht er für nichts anderes an, als für 
einen Dieb, und er nimmt auch keinen Anftand, dieß unverholen 
auszufprechen. Hin und wieder entfällt ihm wohl auch eine gute 
Bemerkung über den Gegenftand, und eine, die er erſt geflern 
äußerte, verdient bier aufgeführt zu werden. 

„Was die Kerl wol, Mafler Hugh?" fragte er. „Sie hab 
die eine Hälft' von ihr Farms, und nun fie woll’ die anner Hälft 
auch. Nehm’ an, ich Hab’ ein Kuh oder ein Schaf in Kompany, 
was Recht ich Hab’, ihn ganz zu verlang’? Gofch, es hab’ Fein 
ſolch' Gefeß "geben in alte Zeit. Wer auch je 'ſehen fo arme In⸗ 
jhen! Rothhaut mif’rubbel genug, was auch Ihr mögt halt auf 


672 


fie; aber dieß Infchen fo mif’rubbel, daB ich mir nicht wunner, 
warum Ihr fie nicht ausftehen könn. O, wie ich fo alt werd’ — 
ich kann nicht glaub’, daß alte Sus es noch lang treib’." 

Der alte Sus lebt noch, iſt aber ein Gegenftand des Hafles 
für alle Antirenterd nah und fern. 

Das „Inſchenſyſtem“ ift — vorderhand wenigftens — auf- 
gelöst; aber der Geift, der es in's Leben rief, wuchert fort unter 
dem heuchlerifchen Scheine der „Menfchenrechte." Der Biedere 
unter den Onondagos weiß nichts von der Gefinnung , die gegen 
ihn befteht, und es if kaum wahrfcheinlich, daB Diejenigen, 
welche ihm Beindfchaft geichworen haben, fich jelbft einen Grund 
dafür angeben können; fie müßten ſich denn fagen, daß er ein 
Mann jei, welcher das Geſetz, bei deflen Erlaffung er mitwirkte, 
achtete und lieber fich ſelbſt verbannte, ehe er fich einen At der 
Ungerechtigkeit zu Schulden kommen ließ. 


Schlußbemerkung des Herausgebers. 


Hier ſchließt das Manuscript von Mr. Hugh Roger Littlepage 
junior, da es diefer Gentleman wahrfcheinlich nicht über fich gewin- 
nen konnte, die Ereigniſſe zu fchildern, welche fich in neuefter Zeit 
zugetragen haben. Es Liegt deßhalb uns ob, noch einige Worte 
beizufügen. 

Jaaf ift vor zehn Tagen geftorben; er brummte bis auf den 
legten Augenblid über die Rothhäute und jprach von feinen jungen 
Mafferd und Miffufles, fo lange er Athem hatte. Was feine 
eigenen Nachkommen betrifft, fo hat man ihn während der Iebten 
vierzig Jahre nie ihre Namen erwähnen hören. 

Susquefus lebt noch immer, aber die „Inſchens“ find ins- 
gefammt entjchlafen. Die Hffentlihe Meinung hat endlich diefen 
Stamm aus dem Dafein geftrichen, und es fteht zu hoffen, daß fie 
ihre. Calico⸗Säcke gewiſſen Politikern vermacht haben, welche fie fo 
ficher, ald die Sonne auf- und untergeht, nüßlich finden werben, 
um ihre Geflchter darin zu verhüllen, wann einmal die Scham und 
die Zerknirſchung kommen, die nach einem Benehmen, wie das 
ihrige, unmöglich ausbleiben können. 

Es wird bier am Ort fein, über den Ton, der in diefem 
Buche herrſcht, eine Bemerkung beizufegen. Die Sprache ift die 
eined Mannes, der fchwere Kränkungen erfahren hat und mit 
dem Feuer der Jugend noch gefteigert durch das Gefühl erlittenen 

Ravensneft, 43 


674 


Unrechts, vorftehende Blätter niederſchrieb. ALS Herausgeber ha- 
ben wir nicht weiter damit zu fchaffen gehabt, als dag wir — wenn 
es auch nöthig war, die Dinge mit den rechten Namen zu be 
zeichnen — Eorge dafür trugen, eine Sprache zu vermeiden, welde 
dem öffentlichen Geſchmack als allzu flark erfcheinen Eönnte. Was 
die Moral und die politifchen Grundfäße in der befprochenen Ans 
gelegenheit betrifft, fo find wir ganz auf Seite der Mefirs. Little: 
page, obſchon wir es nicht für nöthig halten, alle ihre Phrafen 
anzunehmen — Phrafen, die zwar für Männer in ihren Stellungen 
natürlich fein mögen, aber doch vielleicht bei denen nicht am Ort 
find, welche blos in der Eigenſchaft von Hiftorifchen Schriftftellern 
zu handeln wünfchen. 

Zum Schluffe: — Littlepage und Mary Warren wurden vor 
wenigen Tagen in der Saint-Andrews-Kirche getraut. Wir trafen 
den Gentleman erft geftern auf feiner Hochzeitgreife, und er theilte 
ung mit, nachdem er eine folche Gefährtin gewonnen habe, gedenke 
er feinen Wohnfig nach einem andern Theil der Union zu verlegen; 
er habe hiezu Washington gewählt, ausdrücklich in der Abficht, 
eine günftige Lage zu finden, welche es ihm möglich mache, zu 
fehen, ob die Gefebe der Vereinigten Staaten dem Fingerhutfyftem 
in der New-Morker Gefebgebung gegenüber noch Geltung hätten. 
Er ift willens, alle Fragen, die mit feinen Pachtverhältniffen in 
Verbindung gefeßt wurden, zur Sprache zu bringen: das Befteuern 
des Grundbefigers für ein Eigenthum, aus dem vertragsmäßig der 
Pächter alle Steuern zu bezahlen hat — die Befchlagnahme wegen 
der Renten, wenn eine Befchlagnahme dem Wiedereintritt, welcher 
durch Die Berträge flipulirt if, vorausgehen muß — und alle an- 
deren Pfiffe und Kunftgriffe, auf welche das Gehirn unferer rabu⸗ 
fiftifchen Gefeßgeberlein verfallen mag, um ihn gegen alles Recht 
und Gefeh aus feinem Eigenthum zu verdrängen. Was ung jetbfl 
betrifft, fo *önnen wir wor Sorge. Stk ame Line Bemühungen! 
denn wir find auf's Wge NIEREN HÜR rein Eile 


675 


der amerikanifchen Inſtitutionen nur erhalten werden können, wenn 
man den fchnöden Geift der Habgier in den Staub tritt, der jede 
* Spur von moralifhem Gefühl und Rechtsfinn, welche unter ung 
noch zu finden ift, zu vernichten droht. 

MWie wir die Sache betrachten, find Dregon, Meriko und 
Europa mit vereinter Macht nicht im Stande, unferer Nation nur 
halb fo viel zu ſchaden, als in dieſem Augenblick von einem Feind 
in Ausficht ſteht, der ſchon jetzt im Beſitz fo vieler Bollwerke ſich 
befindet und unabläffig die Saat des Unheils auszuftreuen bemüht 
ift, dabei flets die Freiheit im Munde führend, während er doch 
nur den Grund zur wildeften Tyrannei immer tiefer und tiefer legt. 

Ich habe beizufügen vergeflen, daß Mr. Littlepage beim Ab⸗ 
ſchied Die bedeutungsvolle Neußerung gegen mich fallen ließ, wenn 
er in Washington feinen Zwed nicht erreichen follte, ftehe ihm 
immerhin in Florenz eine Zufluchtsflätte offen, wo er unter den 
übrigen Opfern der Unterdrüdung leben und ſich noch obendrein 
der Auszeichnung erfreuen Eönne, als ein Verbannter der republi- 
Fanifchen Tyrannei bewundert zu werden, 


— dB — 


Drud von C. Hoffmann in Stuttgart. 











6105 023 473 460 


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